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Judy Holliday

Eine wahre Künstlerin

| Michael Ranze |
Zum 100. (oder 101.) Geburtstag am 21. Juni: eine Hommage an die allzu früh verstorbene US-amerikanische Schauspielerin Judy Holliday.

Eigentlich ist Adam’s Rib, 1949 von George Cukor inszeniert, ein Film mit Katharine Hepburn und Spencer Tracy, diesem unschlagbaren, perfekt eingespielten Duo, das immerhin neun Filme zusammen drehte. Doch da ist noch eine, die schleicht sich zwischen sie, nicht nur als Auslöser der äußeren Handlung, sondern auch als feministisches Anliegen: Judy Holliday. In der Rolle der Doris Attinger hat sie auf ihren Mann und seine Geliebte geschossen. Nun streiten sich Tracy als Staatsanwalt und Hepburn als Rechtsanwältin um den richtigen Ausgang des Gerichtsverfahrens. Höhepunkt ist eine fünfminütige, in einer Einstellung gedrehte Szene zu Anfang des Films, in der Hepburn ihre Mandantin befragt. Holliday ist einfach eine Wucht, so wie sie ihre Geschichte erzählt und dabei auch den Eindruck erweckt, dumm, ungebildet und unaufmerksam zu sein. Dabei entwickelt sich ein feines Katz-und-Maus-Spiel, schließlich geht es hier darum, die Fakten nicht ganz so grausam aussehen zu lassen. Man kann gar nicht behaupten, dass Holliday die Szene „stiehlt“. Schließlich ist es Cukor, der sie zentral ins Bild gestellt hat, während Katharine Hepburn in der linken Bildhälfte nur im Profil zu sehen ist. Aber Holliday dominiert die Szene. Selten sieht sie Hepburn an, meistens starrt sie vor sich hin, wie ein Kind, das sich konzentrieren will. Hepburn wird immer nervöser und zögerlicher – so ein bisschen ahnt sie, dass ihre Mandantin nicht so dumm ist, wie sie tut. Später, während der Gerichtsverhandlung, wird Cukor diese Szene noch einmal variieren. Zwei Auftritte nur, die von der schauspielerischen Meisterschaft der Judy Holliday zeugen, von ihrem Können und ihrer Intelligenz. Bemerkenswert sind auch stets Kleinigkeiten. Wundervoll, wie Doris Attinger ihre drei Kinder an vier Fingern abzählt. 1. Finger: „Junior, acht Jahre alt“. 2. Finger: „Allen, sieben Jahre alt.“ 3. Finger: „Trudy, sechs Jahre alt.“ 4. Finger: „And that’s all.“

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A Star Is Born
Judy Holliday, als Judith Tuvim am 21. Juni 1922 in New York City geboren (andere Quellen geben als Geburtsjahr 1921 an), kommt vom Cabaret. Mit Betty Comden und Adolph Green gründet sie eine Gruppe namens The Revuers und steigt so zum Star von Greenwich Village auf. Sie soll mit Nicholas Ray zusammen gewesen sein, doch sehr viel verbürgter ist, dass sie mit dem Jazz-Saxophonisten Gerry Mulligan verheiratet war. 1944 unterzeichnet sie bei 20th Century Fox einen Vertrag und ist noch im selben Jahr in kleineren Rollen in drei Filmen zu sehen: Walter Langs Greenwich Village, Lewis Seilers Something for the Boys und George Cukors Winged Victory. Sie kehrt nach New York zurück und konzentriert sich auf die Bühne, am Broadway ist sie in Garson Kanins Komödie „Born Yesterday“ zu sehen, nachdem Jean Arthur die Rolle abgelehnt hatte. Nicht weniger als 1200 Mal wird sie die Hauptrolle der Billie Dawn spielen. Von Garson Kanin stammt die schöne Anekdote, nachzulesen in seinem Buch „Tracy and Hepburn“ von 1971, dass Harry Cohn, dieser unangenehme Boss von Columbia, sich rundheraus weigerte, Judy Holliday für die Filmversion von Born Yesterday (1950) zu besetzen. Er beschimpfte sie taktlos und antisemitisch als „that fat Jewish broad“. So taten sich Regisseur George Cukor, Katharine Hepburn und Garson Kanin zu einer kleinen Verschwörung zusammen und zeigten Cohn Adam’s Rib. Im Handumdrehen änderte er seine Meinung. Judy Holliday spielte ihre erste Hauptrolle – ein neuer Star war geboren.

Es dauert lange, bis wir, die Zuschauer, überhaupt ihre Stimme hören. Billie Dawn ist die Geliebte des windigen Tycoons Harry Brock (Broderick Crawford), der in Washington einige Senatoren für halbseidene Geschäfte auf seine Seite ziehen will. Natürlich – dies ist das sittenstrenge Hollywood der fünfziger Jahre – beziehen sie im Hotel verschiedene Suiten. Brock kann von seiner übers Eck in ihre schauen, und dann ruft er laut „Billie!!!“ Sie drehte sich um, geht langsam zum Fenster, noch eine kleine Pause, und dann schreit sie mit einer lauten, kratzigen und schrillen Stimme: „What?!“ Man glaubt, nicht recht zu hören, so vulgär und unwillig klingt dieses „What?!“. Es gibt wohl kaum eine andere Hollywood-Schauspielerin, die ihre Stimme so geschickt gebraucht hat wie Judy Holliday: die Höhe, der Ton, die Variationen von beidem, das Timing, die richtige Aussprache, die falsche Aussprache, das Anschwellen der letzten Note eines Satzes – all das ist außergewöhnlich und virtuos zelebriert. Die Stimme formt den Charakter.

Brock, selbst keine Ausgeburt von Kultiviertheit, schämt sich für die vermeintliche Dummheit seiner Geliebten und engagiert Paul Verrall (William Holden) als Tutor, der Billie Dawn Manieren und Bildung beibringen soll. Dieser Pygmalion-Prozess, der die „dumb broad“ in eine kultivierte Lady verwandelt, sorgt in der Folge für die meisten Lacher und einige sexuelle Anspielungen. Natürlich wird es kompliziert – Holliday und Holden verlieben sich ineinander, und Crawford, ebenso beängstigend wie lustig in seiner Rolle, sieht seine Felle davon schwimmen. Auch der sonst so extrovertierte, körperbetonte William Holden ist großartig als stiller Intellektueller, dem schon eine Brille zum Imagewandel reicht und der uns durch seinen Blick auf Billie verführt. Natürlich weiß er, dass Billie Dawn nicht dumm ist, sondern nur ungebildet. Sie sieht das ein wenig anders: „I am stupid. I’m happy with it. I get everything. Two mink coats!” So gibt er ihr dicke Bücher zu lesen, was man als bildungsbürgerlichen Anspruch auch sehr spießig finden kann, und zeigt ihr Washington, zum Beispiel das Denkmal von Thomas Jefferson. Sehr bewegend ist diese Szene, weil sie Cukor so viel bedeutet. Er feiert alte amerikanische Werte und gibt sie weiter, nicht nur an Billie, sondern auch an das Publikum.

Der eigentliche Schatz des Films ist aber Judy Holliday, durch ihren verbalen Humor, ihre Augenbewegungen, ihre Gestik. Der Witz entsteht dabei häufig durch den Widerspruch, dass Billie Dinge nicht zu verstehen scheint, dann aber logisch argumentiert. Höhepunkt ist sicher jene Szene, in der sie mit Broderick Crawford Gin Rommé spielt und am laufenden Band gewinnt. Ihr lautes, oftmals wiederholtes „Da na na … Buh-Boom“ geht Crawford gehörig auf die Nerven – bis ihm der Kragen platzt. Judy Holliday wurde für ihre unbezahlbare, präzise und uneitle Darstellung mit dem Oscar als Beste Hauptdarstellerin belohnt. Sie stach dabei unter anderem Gloria Swanson (in Sunset Boulevard) und Bette Davis (in All About Eve) aus – und das muss man erst einmal hinkriegen. Als Jüdin aus New York hat sie zweifellos einen besonderen Humor: intellektuell, selbstironisch, pessimistisch. Sie überrascht immer wieder, auch sich selbst, mit ihren Eigenarten und sorgt so für ständiges Erstaunen.

Eine Naturgewalt
Im Jahr darauf ist Holliday, wieder unter der Regie Cukors, in The Marrying Kind zu sehen. Das ist ein beklemmendes, bittersüßes Drama über ein junges Paar, das vor einer Scheidungsrichterin in Rückblenden seine Ehe Revue passieren lässt. Fast schon realistisch spürt Cukor dem Alltag von Mann und Frau nach und zeigt, wie die Liebe am Auf und Ab, an kleinen und großen Katastrophen, zu scheitern droht. Auch wenn die Schauspielerin ihre Komik nicht ausspielen kann, überzeugt sie doch durch ihre Wärme und Herzlichkeit. Die grausamste Szene ist jene, in der Judy Holliday am Strand auf der Ukulele ein fröhliches Lied singt, während im Off ihr Sohn im Wasser ertrinkt.

In It Should Happen to You (1954), von George Cukor nach einem Drehbuch von Garson Kanin inszeniert, sehen wir zuerst ihre nackten Füße, weil Schuhe sie am Denken hindern. Judy Holliday spielt Gladys Glover, die nach New York gekommen ist, „um sich einen Namen zu machen“. Darum lässt sie am Columbus Circle einfach ihren Namen auf eine riesige Reklametafel pinseln. Fortan wundert sich ganz New York, wer sie sein könnte. Gladys wird berühmt, tritt in Talkshows auf und dreht Werbeclips – sehr zum Unwillen ihres Nachbarn (Jack Lemmon in seiner ersten Filmrolle), der sie gerne nur für sich hätte. Holliday ist wieder umwerfend mit ihrem Dickkopf, der Naivität, dem komischen Timing bei ihrem ersten Fernsehauftritt, ihren Zweifeln bei einer Flugzeugtaufe, wo sie die Rede an den Colonel, den General und die Soldaten in gleich mehreren Fassungen hält, immer wieder anders. Nicht zu vergessen die kindliche Freude, wenn sie Peter Lawford, der als Geschäftsführer einer Seifenfabrik mit der Reklametafel eigentlich andere Pläne hat, nötigt, sie mehrmals um den Columbus Circle zu fahren, immer mit Blick auf die Werbefläche: „Did you see it?“

In Bells are Ringing, 1960 von Vincente Minnelli nach dem Musical von Betty Comden und Adolph Green, Hollidays Mitstreitern aus Anfangszeiten, sowie Jule Styne inszeniert, spielt Judy Holliday eine Telefonistin, die, einem menschlichen Anrufbeantworter gleich, Nachrichten für ihre Klienten annimmt und so an deren Privatleben teilhat. Dabei hat es ihr besonders Dean Martin als glückloser Autor angetan. Holliday ist wieder bewundernswert, „an irresistible force of nature“ (Stephen Harvey). In einer energiegeladenen Darstellung nimmt sie ihre Bühnenrolle noch einmal auf und überzeugt einmal mehr als Naive mit New Yorker Akzent und großem Herzen. Höhepunkt ist die „Drop That Name“-Nummer, in der Judy Holliday als Außenseiterin im Minnelli-roten, schulterfreien Kleid auf eine Party der Oberen Zehntausend gerät und von schönen Frauen in glänzenden Kleidern umzingelt, gehänselt und dann ignoriert wird, weil ihr kein anderer Name einfällt als Rin-Tin-Tin. Minnelli liebte solche Feten, aber seine Heldin gehört eindeutig nicht hier her. In einer Nebenrolle ist übrigens Gerry Mulligan, Hollidays Ehemann, als Blind Date zu sehen. Dies war ihre letzte Rolle. Judy Holliday verstarb 1965 viel zu früh an Krebs, im Alter von gerade einmal 43 Jahren. Als Cineast überkommt einen großes Bedauern, nicht nur wegen dieses gemeinen Schicksals, sondern auch wegen der unvermeidlichen Frage: Was hätte sie noch für Filme gedreht?

Das letzte Wort soll George Cukor behalten, der Regisseur, mit dem sie die meisten Filme gedreht hat. Im Gespräch mit Gavin Lambert, nachzulesen in „On Cukor“ (New York 1972), verleiht er seiner Bewunderung für die Schauspielerin mit leidenschaftlichen Worten Ausdruck: „Like all the great clowns, Judy Holliday could also move you. She made you laugh, she was a supreme technician, and then suddenly you were touched. She could interpret a text with the subtlest detail, her pauses would give you every comma – she’d even give the author a semicolon if he’d written one. And vocally she was fascinating, she had a way of hitting the note like a bull’s-eye, and the slightest distortion in the recording meant that you lost something. If you lost any of the highs you lost a moment of comedy, and if you lost any of the lows you lost a moment of emotion. A true artist.“