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Licorice Pizza

Family Business

| Andreas Ungerböck |
Regie-Genie Paul Thomas Anderson begibt sich mit „Licorice Pizza“ erneut auf Zeitreise in die siebziger Jahre, diesmal fast durchwegs mit Freunden, Verwandten und Bekannten. Das Resultat ist nicht ganz so zwingend wie erhofft, aber es macht Spaß.

Die Grundfrage von Licorice Pizza, die nicht wirklich zu beantworten ist, lautet: Was findet eine smarte und gutaussehende 25-jährige Frau an einem pickeligen, ungelenken und ziemlich nerdigen 15-Jährigen? Aus dem Film, das muss man sagen, erschließt es sich nicht so recht – das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist, dass es ein Paul-Thomas-Anderson-Film ist, und daher gibt es viele andere Dinge, die Freude bereiten und die einem über diese etwas seltsame Grundkonstellation hinweghelfen können. Das beginnt schon einmal bei der Besetzung: Der nerdige 15-jährige Gary Valentine wird von Cooper Hoffman in seiner ersten großen Rolle gespielt, schon rein optisch unschwer als Sohn des viel zu früh, als Folge seiner Drogenabhängigkeit, aus dem Leben geschiedenen Philip Seymour Hoffman (1967–2014) zu erkennen. Die smarte junge Alana Kane wird von der Musikerin Alana Haim gespielt, die im realen Leben zusammen mit ihren beiden Schwestern Este und Danielle die Band Haim bildet. Zwei Newcomer als Top-Stars einer großen Hollywood-Produktion, das gab es wohl noch nie, und es ist vor allem Ausdruck von Andersons inniger Beziehung zur Familie Hoffman (der Vater war Hauptdarsteller in nicht weniger als fünf seiner Filme, allen voran The Master) und zur Familie Haim – für die Schwestern-Band drehte der Filmemacher zahlreiche Musikvideos.

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Letztlich ist der ganze Film eine „family affair“. Zum einen vertraut Paul Thomas Anderson auf einen guten Teil seiner angestammten Crew. Kostümdesigner Mark Bridges etwa ist, ebenso wie Produzent Daniel Lupi, seit Anfang an, seit Bottle Rocket (1996), mithin jetzt zum neunten Mal, dabei, Produzentin JoAnne Sellar zum achten Mal, Komponist Jonny Greenwood zum fünften Mal, und so weiter. Zum anderen hat sich der Filmemacher auch sonst mit Familie (Gattin Maya Rudolph und die gemeinsamen Kinder) und Freundinnen bzw. Freunden umgeben. John C. Reilly, ebenfalls ein Anderson-„regular“ der ersten Stunde, ist sich nicht zu schade, völlig unkenntlich und in vollem Make-up einen Sekundenauftritt als Fred Gwynne (Hauptdarsteller der TV-Sitcom The Munsters) zu absolvieren, Steven Spielbergs Tochter Sasha schaut kurz vorbei, ebenso wie Dexter Demme, der Sohn des ebenfalls jung und „drug-related“ verstorbenen Regisseurs Ted Demme, und – dies als besonderer Coup – Leonardo DiCaprios Vater George. Die gesamte Familie Haim spielt quasi sich selbst. Dazu kommen noch so viele andere Menschen aus dem Anderson-Umfeld, dass man sie hier gar nicht aufzählen kann. Dass der Regisseur diesmal – neben Michael Bauman – auch selbst an der Kamera gearbeitet hat, unterstreicht noch das Homemovie-Feeling.

Als wäre das alles noch nicht genug, spielt der Film auch in jener Zeit, die dem Regisseur, wiewohl 1970 geboren und eigentlich „zu jung“, besonders am Herzen liegt, nämlich in den siebziger Jahren; ohnehin ein Jahrzehnt, das im Film, in der Musik, usw. einfach nicht totzukriegen ist – kein aktueller Filmtrailer kommt ja derzeit ohne Siebziger-Smash-Hit aus. Seine Meisterschaft diesbezüglich hat Anderson ja schon in seinem zweiten Film Boogie Nights (1997) bewiesen, in dem es ganz unverschlüsselt um die Glanzzeit der Pornoindustrie im San Fernando Valley ging, und später noch einmal in der sträflich unterschätzten, an den Kinokassen gefloppten, aber schlichtweg (kon)genialen Seventies-Hommage Inherent Vice (2014) nach dem Roman des notorisch öffentlichkeitsscheuen Thomas Pynchon, den Anderson ja angeblich sogar im Film auftreten ließ.

Nun also Licorice Pizza. Der für uns etwas rätselhafte Titel bezieht sich auf eine damals noch existierende Kette von Schallplattenläden und verbindet, wie der Regisseur meinte, zwei „Grundelemente“ seiner Kindheit: Lakritze und Pizza. Auch sonst ist alles authentisch, ohne Zweifel: die Ölkrise 1973 samt Benzinknappheit, die zu einigen der komischsten Szenen im Film führt; Wasserbetten, für eine Zeit lang zumindest in den USA der letzte Schrei in jedem modernen Haushalt; das „Mikado“, nachweislich das erste japanische Restaurant im San Fernando Valley; Joel Wachs (gespielt von Benny Safdie), der erste schwule Bürgermeisterkandidat in Los Angeles, der allerdings seine sexuelle Orientierung noch zu verbergen versucht; B. Mitchel Reed, zu der Zeit einer der angesagtesten Radio-DJs; die für die USA ikonische Fernsehshow von Lucille Ball, hier leicht verfremdet; Hollywood-Haudegen William Holden im Spätherbst seiner Karriere – ein herrlicher Kurzauftritt von Sean Penn; Jon Peters – ein herrlicher Kurzauftritt von Bradley Cooper –, bis heute erfolgreicher Filmproduzent und damals Lover von Barbra Streisand („Strei-sand“, wie er Gary eindringlich erklärt), 2020 noch einmal berühmt geworden wegen seiner Elf-Tage-Ehe mit Pamela Anderson; und dergleichen mehr. Und auch der Soundtrack, der bestimmt nicht billig war, spielt alle Siebziger-Stückchen: von leichter Kost wie „Stumblin’ In“ (Suzi Quatro & Chris Norman) über Klassisches wie „Peace Frog“ von den Doors bis hin zu Avancierterem („Tomorrow May Not Be Your Day“ von Taj Mahal) und, gleich zu Beginn, emblematisch David Bowies „Life on Mars“ mit seinem leicht rätselhaften Text.

Gar nicht rätselhaft, wenngleich hierzulande vielleicht nicht so bekannt, ist die Person, die als „Inspiration“ für das ganze Unterfangen dient. Paul Thomas Anderson ist seit Längerem mit Gary Goetzman, geboren 1952 in Los Angeles, befreundet, der tatsächlich ein Kinder- und Jugenddarsteller war, wenn auch etwas früher, nämlich Mitte bis Ende der sechziger Jahre. Später engagierte er sich, ja, unter anderem im Wasserbetten-Business. Während der Film nur einige wenige, nämlich die Teenager-Jahre seiner Vita umfasst, beschritt Goetzman – dessen Bruder Greg auch einen Kurzauftritt in Licorice Pizza absolviert –, einen höchst erfolgreichen Weg als Film- und Musikproduzent, der ihm unter anderem fünf Primetime Emmys bescherte. Goetzman seinerseits ist ganz eng befreundet mit zahlreichen anderen Hollywood-Größen, unter anderem mit Steven Spielberg und Tom Hanks, und war der Best Buddy von Jonathan Demme, in dessen Filmen er nahezu lückenlos kleine Rollen übernahm und für die er zumeist die Musik produzierte.

Muss man das alles wissen? Nein, muss man nicht, aber es macht umso klarer, warum Andersons Film bisweilen wie ein etwas überlanger Inside-Joke wirkt, mit seinen zahllosen Episoden und Episödchen statt einer wirklich durchgehenden und schlüssigen Handlung. Das mag vielleicht jene enttäuschen, die vor allem Andersons große, zu Recht preisgekrönte erzählerische „Hämmer“ wie Magnolia, There Will Be Blood, The Master oder zuletzt The Phantom Thread schätzen. Wer hingegen auch seinen Spaß mit dem vermeintlich leichtgewichtigeren Punch-Drunk Love (2002) hatte, in dem Adam Sandler, das Schreckgespenst aller ernsthaften Cineastinnen und Cineasten, wie besessen Pudding einkauft, um auf diese Weise Flugmeilen zu sammeln, oder wer es genoss, wie Josh Brolin in Inherent Vice als tougher Cop Christian „Bigfoot“ Bjornsen mit dem dauerbekifften Privatdetektiv Larry „Doc“ Sportello (Joaquin Phoenix) umspringt, der ist bei Andersons neuer Regiearbeit bestens aufgehoben.

Ja, die Scherze in Licorice Pizza sind vielleicht etwas tiefer gelegt, als man das von Anderson gewohnt ist (Stichwort: japanisches Restaurant), und der große erzählerische Bogen wird gar nicht erst versucht, aber was Paul Thomas Anderson wie kaum ein anderer hat, ist ein Gefühl für Schauplätze und für Epochen – egal, ob es das frühe 20. Jahrhundert (There Will Be Blood) ist, ob es die 1940er (The Master), die 1950er (Phantom Thread) oder eben die 1970er sind. Und seine Kunst der Schauspieler/innen- Auswahl und -führung ist ohnehin unübertroffen. Dass er hier mit Cooper Hofman und vor allem Alana Haim zwei Neulingen absolute Höchstleistungen abverlangt, macht den Film allein schon sehenswert.