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Eröffnungsfilm „Favoriten“ von Ruth Beckermann
Eröffnungsfilm „Favoriten“ von Ruth Beckermann

Filmfestival

Favorite Things

| Gabriela Seidel-Hollaender |
Die neue Diagonale-Ära unter der Leitung von Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh begann mit einer gemeinsam gehaltenen, klugen und nachdenklichen Rede, die Lust auf das Festival machte.

 

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Was für ein Glück und Privileg ist es doch in den gegenwärtig so schwierigen (welt-) politischen Zeiten, ein Festival wie dieses ausrichten zu können: Gemeinsam Filme zu schauen und, deren kritische und (selbst-)reflektierende Beobachtungen anschließend zu diskutieren. In der Rede wurde auch eine Lehrveranstaltung des Filmemachers James Benning am California Institute of the Arts mit dem Titel „Looking and Listening“ erwähnt. Die Studierenden sollten konkrete visuelle und akustische Wahrnehmung als politischen Akt verstehen und gleichzeitig individuelle Vorurteile reflektieren, Dinge zuallererst aufnehmen, „ohne zu bewerten, ohne zu interpretieren oder zu kontextualisieren“. Eine schöne Referenz und ein programmatisches Credo für die Auswahl von Filmen im Rahmen des Festivals. Viele Blickwinkel anbieten in Zeiten starker Polarisierungen.

Die Wahl des Eröffnungsfilms spiegelte denn auch genau diesen Anspruch. Gezeigt wurde Ruth Beckermans Langzeitbeobachtung Favoriten als Österreichpremiere. Beckermann hat eine Grundschulklasse aus dem gleichnamigen Wiener Bezirk drei Jahre lang begleitet. Die Regisseurin und ihr Kameramann Johannes Hammel zeigen die Lehrerin Ilkay Idiskut (eine Heldin des Films und des Lebens) wie sie 25 Kindern mit unterschiedlichen Migrationsgeschichten und familiären Hintergründen neben Mathematik und Deutsch ein friedliches Miteinander vermittelt.

Mit viel Geduld und Zuneigung gelingt es dieser Frau allen Kindern wichtige Werte des Miteinanders, der Gleichberechtigung und des Respekts mitzugeben. Dass die Kinder im Verlauf der Dreharbeiten auch selbst aufgefordert werden, eigene Aufnahmen mit dem Handy zu machen ist eine besondere Stärke des Films und beweist Virtuosität im Einfangen sehr unterschiedlicher Perspektiven.

Die Aufforderung, genauer hinzuschauen und den eigenen Assoziationen freien Lauf zu lassen, wird auch durch ein Spielen mit dem Logo des Festivals befördert. Die tanzenden Buchstaben des Diagonale-Schriftzugs ergeben immer wieder neue Bedeutungen: etwa lautmalerisch (ia), oder eigenständig (Dia, go (!), na… :), alleinstehend (D) oder auch unterschiedliche Wörter: Dialoge, Analogie, Adagio, Agonie, Alien, Genial, Golden, Landei, Legion, Nadlig.

Wie in den vergangenen Jahren bildete der Wettbewerb mit diesmal 123 Filmen – unterteilt in Spielfilm, Dokumentarfilm und Innovativer Film – das Herz des Festivals. Die Kategorisierung wird allerdings zunehmend schwieriger. Die Formen sind oft hybrid, wie Mit einem Tiger schlafen von Anja Salomonowitz auf grandiose Weise zeigt. Im Wettbewerb startet er als Spielfilm und ist ein poetisches, unchronologisch erzähltes Porträt der österreichischen Künstlerin Maria Lassnig. Die Hauptrolle spielen die Werke der Künstlerin und die Farbe Weiß (!), bildfüllend auf der Leinwand ausgestellt.

Brigit Minichmayr übernimmt die herausfordernde Aufgabe die spröde Künstlerin darzustellen: Zeitlos, körperlich, immer wieder eins werdend mit dem Prozess des Malens. Manchmal auf dem Boden liegend und – in historisch verbriefter Manier – den (eigenen) Körper studierend. Der Film zeigt Lassnigs Leben auch als Anklage gegen die Zumutungen der Kunstwelt. Mit ihrer Kunst und ihrem Wesen stellt sie sich den Vorurteilen entgegen, die ihr als (junge) eigenwillige Frau begegnen. Die Agonie der letzten Phase des Lebens der Künstlerin und ihre Sehnsucht nach der idealen Farbkomposition ist fast schmerzhaft. Der Tiger kommt noch – so scheint es – um Lassnig von sich und/oder der Welt zu erlösen.

Auch in dem trostlos-humorvollen Film Andrea lässt sich scheiden von Josef Hader spielt Birgit Minichmayr die Hauptrolle. Diesmal eine Polizistin in der österreichischen Provinz, die ihre unglückliche Ehe beenden will, um der Enge zu entfliehen. Aus Versehen überfährt sie ihren betrunkenen Ehemann, was sie zunächst zu vertuschen sucht, um sich am Ende doch zu stellen. Auch diese Figur – zwischen Landei und trocken-lakonischer Realistin – ist in gewisser Weise kompromisslos. Ein Film mit Hader-typischem Humor. Doch sind die Töne überraschend melancholisch und geradezu weich, wenn es um die Darstellung der Einsamkeit geht, die der ganzen Szenerie innewohnt.

Ganz anders in Elisabeth Scharangs Wald (das Drehbuch ist inspiriert von Doris Knechts gleichnamigen Roman), dessen Bilder von verlassenen Straßenkreuzungen durchaus aus Haders Film stammen könnten. Auch hier steht eine Frau im Mittelpunkt, die der Provinz zwar äußerlich schon entkommen zu sein scheint, innerlich jedoch feststellen muss, dass sie ihre Herkunft nicht los wird. Eigentlich möchte sie ihr Trauma – die Folge eines Terroranschlags, den sie fernab der Heimat überlebt hat – in dem alten und verwaisten Haus ihrer Großeltern überwinden, in dem sie aufgewachsen ist und das sie geerbt hat. Einsam ist der titelgebende Wald. Und wenn sie zum Baden in den eigentlich noch viel zu kalten See springt, überträgt sich die Verzweiflung, mit der sie das Erlebte abzuwaschen versucht. Die Provinz und die Vergangenheit schlagen jedoch mit all ihrer nachtragenden Enge zurück und zwingen sie, sich dem zu stellen. Dramatisch und zuweilen das Thema zu sehr auf die Schultern der Hauptdarstellerin Brigitte Hobmeier ablegend, spitzt sich das Geschehen zu. Das Trauma hat schon vorher begonnen. Schuldgefühle und Vorwürfe finden sich nicht nur in der Fremde, sondern sie holen die Figur unerbittlich in der Heimat ein.

Unter dem Titel „3x Mädchen in Uniform“ bot die Diagonale den Zuschauerinnen und Zuschauern die seltene Gelegenheit, drei Versionen der Geschichte um die homoerotische Zuneigung einer Lehrerin zu ihrer Schülerin aus den Jahren 1931, 1951 und 1958 auf großer Kinoleinwand zu sehen. So gab es die Gelegenheit Analogien und Unterschiede zu vergleichen und filmgeschichtliche Preziosen (wieder-) zu entdecken.

Die Programmschiene „Die erste Schicht“ widmete sich dem Thema Arbeitsmigration. Doch stehen nicht Begriffe wie „Fremdsein, Entwurzelung und Identität“ für diese Reihe Pate, sondern stattdessen „Eigensinn, Emanzipation und Selbstbehauptung“.

Der kurze Dokumentarfilm Der blinde Hirte von Awad El Kish aus dem Jahr 1979 etwa. Ein Porträt des früh erblindeten Bauern Rudolf Schönwälder, der allein auf seinem Hof im Weinviertel lebt und von seinen Nachbarn wie ein Alien angefeindet wird. El Kishs Film ist ein neorealistisch anmutendes, präzise beobachtetes Porträt in Schwarzweiß von einem, der sich nicht unterkriegen lässt. Die Mechanismen der vermeintlichen Gemeinschaft die sich gegen einen bewundernswert autark lebenden Blinden richten werden offengelegt. Der erste Band der neu eingeführten Diagonale-Edition ergänzt, erweitert und vertieft die „Die erste Schicht“ mit Essays, Interviews und Kurztexten zu den einzelnen Filmen.

Astrid Johanna Ofners poetischer mittellanger Filmessay Was soll man machen. – Vor Entzücken? in der Programmschiene Innovatives Kino, basiert auf Briefen, die Rosa Luxemburg in den Jahren 1916 bis 1918 aus dem Gefängnis an Sophie Liebknecht geschrieben hat. Die Beobachtungen des leidvollen Gefängnisalltags die Luxemburg an ihre Freundin schreibt, zeugen von Warmherzigkeit und Stärke, durch die sie die Gefangenschaft übersteht. Sie zeugen aber auch von der Hoffnung, dass sie und auch Karl Liebknecht bald wieder frei sein werden. Diese sollte sich zwar erfüllen, doch wenige Tage nach ihrer Freilassung folgte die Ermordung der beiden.

Ofners filmisches Essay gleicht einem melancholischen Fluss aus Bildern aus dem heutigen Wien und Berlin, der Luxemburgs Briefen eine visuelle Assoziationsfläche bietet und auf der Gedenktafel, die für die beiden am Ort ihrer Ermordung aufgestellt wurde, endet. Ofners Film wirkt wie eine Referenz an und Verneigung vor dem Filmemacher-Duo Straub-Huillet, in deren bahnbrechender Antigone-Verfilmung (Die Antigone des Sophokles nach der Hölderlinschen Übertragung für die Bühne bearbeitet von Brecht von 1992) Ofner selbst die Antigone verkörperte und die eine ganze Generation von Filmschaffenden geprägt hat.

Der kurze Spielfilm Ein Teil von mir“ von Vivian Bausch erzählt durch chronologisch verschobene Zeit- und Bedeutungsebenen emotional und auf filmisch minimalistische Weise von einem Missbrauch, den die 16-jährige Vanessa durch ihren Stiefvater erlitten und den die Mutter schweigend hingenommen hat. Die Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter steht im Zentrum dieses Films. Und auf überraschend komisch-komplizenhafte Weise finden Mutter und Tochter wieder zueinander.

Übrigens erhielt Vivian Bausch für das Treatment „Soldat“, zusammen mit Fabian Rausch, den mit 15.000 Euro dotierten Carl-Mayer-Drehbuchpreis. Es ist ihr erstes Langfilmprojekt und handelt von einem elfjährigen Mädchen, das in einer Teenager-Jungs-Clique Zuflucht sucht.

Benjamin Heisenbergs Kurzspielfilm Er so sie so, der während der Pandemie als Produktion des Filmkollektivs Retschwil entstanden ist, erzählt von einer flüchtigen, zufällig sich ergebenden Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau in einem idyllisch anmutenden Waldstück mit See. Eigentlich sind die beiden aufgrund einer Autopanne dort gestrandet, was jedoch die erotische Spannung, die sich zwischen den beiden eingestellt hat, nicht stört. Die Musik, das Bach Präludium Nr. 1 C Dur, dessen Arpeggien in einer verjazzten Version vom Sihale-Trio Luzern erklingen, deutet bereits eine leise Ironie an. Denn was wie eine ins leicht Süßliche schwappende romantische Miniromanze beginnt, stellt sich nicht ein: Die Figuren sprechen als Voice-Over über das, was die Bilder zeigen – das, was passiert oder hätte passieren können und eben nicht passiert – und brechen die Situation aufs Realistische herunter. Heisenberg und seine Schauspieler spielen mit dem Subtext, der hier den Szenentext ersetzt. Ein Verfahren, dass die Spannung zwischen den beiden nicht wegnimmt oder erklärt, sondern zu einer Komik führt, die entwaffnend, menschlich und ehrlich ist. Das, was wir sagen, entspricht nicht immer dem, was wir denken, und aus dieser Diskrepanz lässt sich im besten Fall Komik generieren – jedenfalls im Film.
Das Diagonale Forum im Heimatsaal im Volkskundemuseum, als neuer Ort für die Branchenveranstaltungen des Festivals mit einem schönen Garten oben und Café für Aperos unten eignete sich hervorragend für die gut besuchten, hochpolitischen und filmkulturell relevante Debatten.

Das ausgezeichnet von Dominik Tschütscher gestaltete Programm des Diagonale Film Meetings, widmete sich Themen wie Gesundheit und Social Sustanability, Künstlicher Intelligenz, Diversität und Antirassimus. Die Veranstaltung „Feminist Perspectives“, souverän von Elisabeth Scharang moderiert, die auf die Präsentation des aufschlussreichen neuen Genderreports der ÖFI folgte war sehr gut besucht und mit der Regisseurin Katharina Mückstein (Feminism WTF), der Soziologin Laura Wiesböck und der Leiterin der ORF-TV-Hauptabteilung Fernsehfilm, Katharina Schenk hochkarätig besetzt.