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Green Border

Grenzüberschreitungen

| Pamela Jahn |
Agnieszka Hollands zeitgemäßes Drama „Green Border“ wirft ein düsteres Schlaglicht auf die Schrecken, denen Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa in der Sperrzone zwischen Polen und Belarus ausgesetzt sind.

 

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Ein Aufatmen geht durch Polen. Durch ganz Europa. Auch Agnieszka Holland holt einmal tief Luft. Acht Jahre national-konservative PiS-Regierung in Polen sind zu Ende. Es war keine gute Zeit. Seit der Wahl des Oppositionsführers Donald Tusk zum neuen Premierminister im vergangenen Dezember weht jetzt ein neuer Wind durch ihr Heimatland – diesmal von links.

Grund zur Gelassenheit sieht die 75-jährige Regisseurin, die seit der Verhängung des Kriegsrechts 1981 im französischen Exil lebt, jedoch nicht. Man spürt die Wut in ihren Worten, wenn sie über ihren neuen Film spricht. Green Border spielt 2021 an jener „grünen Grenze“ zwischen Polen und Belarus, die bis heute Schauplatz einer scheinbar endlosen Tortur für Flüchtlinge ist. Der weißrussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat die verzweifelten Menschen, die den gefährlichen Weg in die Freiheit durch sein Land wagen, in den letzten Jahren effektiv zu lebenden Spielbällen im Kampf gegen die Sanktionen der Europäischen Union gemacht.

Hollands Film zeigt die ganze Brutalität der Pushbacks am Stacheldrahtzaun, der sich kilometerlang durch ein dichtes, sumpfiges Waldgebiet zieht. Auf den ersten Blick wirken die wackeligen Schwarz-Weiß-Bilder dokumentarisch, wenn sie von den Strapazen, den Ängsten, den Plänen der Menschen berichten, die dort unterwegs sind. Aber dahinter verbirgt sich eine Methode: Mit jedem Perspektivwechsel erschließt sich noch eine andere Ebene des Sehens. Immer wieder kreist die Kamera aufmerksam um dieselben Personen, fängt Details, Stimmungen und Gefühle auf allen Seiten ein. Nur selten gönnt Holland ihren Figuren eine Pause. Im Zentrum stehen die Migranten, die wie menschliche Geschosse hin- und her katapultiert werden. Sie kommen aus Syrien und Afghanistan oder anderswo. Männer, Frauen, Kinder, Schwangere und Großväter, sie alle wollen nur eins: Sicherheit. Aber die hat ihren Preis.

In einzelnen Kapiteln nimmt Holland die Menschen herum ins Visier. Weder für die polnischen Grenzsoldaten noch für die Aktivisten und Aktivistinnen vor Ort ist die Situation einfach. Sie alle sind gefangen in einem unüberschaubaren Geflecht aus Verzweiflung, Hunger, Angst und politischem Unglauben. Wie weit sich das Netz spannt, zeigt sich, als eine Psychologin, die nahe der Grenze lebt, in die komplizierten Umstände involviert wird. Auch sie riskiert bald ihr Leben, um zu helfen. Eine befreundete Nachbarin erklärt sie für verrückt. Am besten nicht einmischen, wegschauen, ist ihre Devise. Die Standpunkte sind verhärtet, nicht nur an vorderster Front.

Auf welcher Seite Agnieszka Holland steht, ist klar. Sie filmt mit offenen Augen, Engagement und Empathie. Dafür hat sie die PiS-Regierung nach der Premiere von Green Border bei den Filmfestspielen in Venedig im vergangenen Herbst öffentlich als Verräterin hingestellt. Die Regisseurin ließ sich davon jedoch nicht einschüchtern, ihre Anwälte schlugen mit einer Verleumdungsklage zurück. Den Prozess gegen Justizminister Zbigniew Ziobro hat Holland gewonnen. Aber zur Ruhe kommt sie deshalb noch lange nicht. Green Border macht das Versagen und die Untätigkeit ganz Europas im Hinblick auf die Migrationsfrage sichtbar. Es gibt viel zu tun. Vielleicht ist es längst zu spät. Dementsprechend düster und widerständig ist ihr Film, der postapokalyptisch anmutet, aber die Wirklichkeit einfängt, egal, wie grausam sie ist.


 

Interview mit Agnieszka Holland

Frau Holland, einen so politischen Film wie „Green Border“ haben Sie schon lange nicht mehr gemacht. Warum eigentlich nicht?
Agnieszka Holland: Es stimmt, ich habe die Politik für ein paar Jahre beiseite gelegt. Aber jetzt ist es an der Zeit, mich wieder zu engagieren. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas tun muss.

Was hat sich geändert?
Agnieszka Holland: Lange gab es keinen Grund, aktiv zu werden, Politik war langweilig. Die Idee der liberalen Demokratie brachte den Fortschritt. Natürlich gab es einige Probleme, aber nichts, womit ich mich wirklich beschäftigen musste. Ich habe mich nicht verantwortlich gefühlt. Meine Aufgabe bestand darin, alle vier Jahre zur Wahl zu gehen und meine Stimme abzugeben – für beide Länder, Polen und Frankreich, denn ich habe die doppelte Staatsbürgerschaft.

Die unmittelbare Reaktion der zu dem Zeitpunkt noch agierenden PiS-Regierung auf Ihren Film war schockierend. Justizminister Zbigniew Ziobro verglich „Green Border“ mit „Nazi-Propaganda“.
Agnieszka Holland: Ich bin froh, dass Sie schockiert waren, denn das Schlimmste war, dass die Menschen in Polen nichts davon wussten.

Wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Agnieszka Holland: Mein erster Gedanke war: Was soll der Scheiß? Natürlich war die Reaktion der Regierung vorhersehbar. Ich wusste, dass es hart werden würde. Aber ich hatte nicht erwartet, dass sie mich mit Goebbels gleichsetzen würden. Meine Anwälte haben sofort die entsprechenden Schritte eingeleitet. Wir reichten eine Verleumdungsklage gegen Ziobro ein. Denn für mich persönlich, mit meiner Biografie, mit meiner Vergangenheit als Enkelin von Opfern des Holocausts, konnten die Anschuldigungen nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein.

Hatten Sie jemals Angst, dass die Anti-Propaganda gegen Sie hätte eskalieren können?
Agnieszka Holland: Das hätte der Fall sein können. Ziobro war und ist immer noch ein sehr wichtiger Staatsmann. Und wenn er so etwas sagt, sind Drohungen unvermeidlich. Es geht nicht nur darum, mich zu beleidigen, sondern auch um Hassreden, die zu echter Gewalt führen können. Aber es hat keinen Sinn, sich darüber aufzuregen.

Gibt Ihnen die Tatsache, dass Sie als Präsidentin der Europäischen Filmakademie in der Öffentlichkeit stehen, einen gewissen Schutz?
Agnieszka Holland: Nein, das glaube ich nicht. Wenn sie es auf mich abgesehen haben, werden sie Mittel und Wege finden, mich aus dem Weg zu räumen.

Wie wichtig war es für Sie, diese Geschichte zu erzählen? Auch vor dem Hintergrund des Krieges, der derzeit in der Ukraine tobt.
Agnieszka Holland: Wenn man es von einem politischen Standpunkt aus betrachtet, werden die Flüchtlinge aus der Ukraine von Putin auch als eine Art Spielball benutzt, um die Schwächen der Europäischen Union aufzudecken. Und es ist nicht das erste Mal, dass dies geschieht. Was mich aber mehr interessiert, ist unsere Reaktion darauf. Wenn wir wirklich die Augen aufmachen, ist es ganz klar, dass die Flüchtlingskrise nicht einfach vorbeigehen wird. Die Zahl der Menschen, die nicht mehr in ihren Heimatländern leben können, die eine bessere, sicherere Welt suchen, wird wachsen. Und wir wissen natürlich nicht, wie wir damit umgehen sollen. Aber wenn die einzige Antwort Gewalt und Zerstörung ist, dann sieht die Zukunft für uns alle sehr düster aus.

Sie nähern sich dem Thema im Film aus verschiedenen Perspektiven an. War die Sichtweise der Grenzsoldaten am schwierigsten zu schildern?
Agnieszka Holland: Ich habe an die Kraft der Fantasie geglaubt. Der Film ist im Eiltempo entstanden. Im September 2021 habe ich mir überlegt, dass ich etwas tun muss, dass ich nicht mehr nur zusehen kann, was an der Grenze passiert. Also habe ich zwei Drehbuchautoren kontaktiert, Maciej Pisuk und Gabriela Lazarkiewicz-Sieczko, die beide auch politisch engagiert sind. Wir begannen sofort mit der Vorrecherche. Das war relativ einfach, weil es eine Menge Material gab. Ich kenne einige der Aktivisten persönlich, die habe ich zuerst interviewt. Sie gaben mir außerdem Zugang zu ihrem Filmmaterial über Flüchtlinge. Viele Migranten habe ich persönlich getroffen. Aber die Grenzbeamten waren unmöglich zu erreichen. Und das, obwohl meine Tochter bei einer der beliebtesten polnischen Serien für HBO Regie geführt hat, in der es um die Grenzsoldaten in Südostpolen ging. Ich habe sogar versucht, ihre Kanäle zu nutzen, aber auch das hat nicht funktioniert.

Woran haben Sie sich dann orientiert?
Agnieszka Holland: Wir wussten zum Beispiel von den Journalisten in der Region, dass es mehrere Selbstmorde gegeben hatte. Wir wussten, dass die Soldaten wie verrückt tranken, dass der Verkauf von Alkohol enorm zugenommen hatte. Und als wir das Drehbuch fast fertig hatten, wurde ich plötzlich von drei Grenzsoldaten getrennt kontaktiert. Zwei von ihnen waren noch aktiv in der Armee, der dritte war bereits pensioniert. Sie bestätigten einfach unseren Verdacht. Fast alles war richtig. Das bedeutet, dass es manchmal gar nicht so sehr auf die Recherche ankommt. Es ist wichtiger, mit der Realität verbunden zu sein und seine psychologische Vorstellungskraft einzusetzen.

Was hat Sie bei der Arbeit an dem Film persönlich am meisten berührt?
Agnieszka Holland: Die Reaktionen der Menschen, die direkt in den Konflikt verwickelt sind. Vor ein paar Tagen habe ich eine der Hauptaktivistinnen getroffen, die unser Drehbuch gelesen hatte, aber wir hatten uns nie persönlich getroffen. Sie sagte mir, dass sie versucht habe, Fehler oder Ungereimtheiten im Film zu finden, aber ihr sei nichts aufgefallen. Das war eine große Erleichterung für mich, denn darum ging es von Anfang an.

Was waren die größten Herausforderungen bei den Dreharbeiten?
Agnieszka Holland: Das war eigentlich ganz einfach. Wir hatten nicht viel Geld. Die Crew war klein, aber sehr engagiert. Jeder akzeptierte, nur eine kleine Gage zu erhalten, einige arbeiteten sogar umsonst. Wir hatten zwei Sets und haben parallel gedreht. Ich bin wirklich froh, dass ich Filmemacherin bin und keine Politikerin. Ich hatte während der Produktion jederzeit die volle Kontrolle über meine Arbeit, im Gegensatz zu den Politikern, die keine Ahnung haben, was in Europa vor sich geht.

Nach der Premiere des Films haben Sie an die Europäische Union appelliert, jetzt eine Entscheidung zu treffen, auch weil der Druck von rechts zunimmt. Haben Sie das Gefühl, dass es bereits zu spät ist?
Agnieszka Holland: Ich denke schon. Als die Krise 2014 ausbrach, hat die Europäische Union zu schnell einen Rückzieher gemacht. Das gab den populistischen und faschistischen Bewegungen die Möglichkeit, die allgemeine Angst vor der enormen Zahl von Flüchtlingen – zwei Millionen, drei Millionen – sofort für ihre Zwecke auszunutzen. Sie wollten beweisen, dass Europa untergeht, seine Identität verliert, dass die europäische Idee, die auf Solidarität und Internationalismus beruht, nicht mehr tragfähig ist – und es hat funktioniert. Sie waren nicht nur in Ungarn, Polen und Italien erfolgreich. Bis zu einem gewissen Grad konnten sie auch in Frankreich, Spanien und Deutschland Fuß fassen. Seitdem tut die EU so, als gäbe es das Problem nicht. Die Lösungen, die sie anbieten, sind lächerlich.

Sie haben auch gesagt, dass das Kino nicht völlig machtlos ist. Was genau meinen Sie damit?
Agnieszka Holland: Wir können eine Realität schaffen, die mehr zeigt als die Wirklichkeit, die wir sehen. Wir können die Menschen mit unseren Bildern leichter erreichen. Und ja, wir können Menschen eine Stimme geben, die sonst keine Möglichkeit haben, an die Öffentlichkeit zu gehen. Aber natürlich weiß ich auch, dass unser Einfluss begrenzt ist. Ich bin nicht naiv.

Hat sich Ihre Motivation für das Filmemachen im Laufe Ihrer Karriere verändert?
Agnieszka Holland: Nein. Ich habe es immer für richtig und wichtig gehalten, auf meine Weise politisch aktiv zu sein. Als Filmemacherin, als Künstlerin habe ich das Recht und die Möglichkeit, meine eigene Agenda zu verfolgen. Ich denke nicht, dass es unsere Aufgabe ist, die großen politischen Schlachten zu schlagen. Aber wir befinden uns jetzt in einer Situation, in der ich persönlich keine andere Wahl sehe, als aktiv zu werden.

Heißt das, Sie werden sich weiter mit diesem Thema beschäftigen?
Agnieszka Holland: Mein nächster Film wird sich um Franz Kafka drehen, ich muss mich nicht immer konkret mit politischen Ereignissen auseinandersetzen. Aber seit 2014 habe ich den Eindruck, dass das europäische Kino, das unabhängige Kino, nicht mehr relevant ist für die wirklichen Probleme unserer Zeit. Es ist talentiert, es ist sensibel, es spricht über Kindheit, über Traumata und persönliche Krisen, die natürlich auch sehr wichtig sind. Aber das ist nicht genug.

Was macht Kafka in diesem Zusammenhang für Sie zu einer interessanten Figur?
Agnieszka Holland: Kafka ist mein Seelenverwandter, seit ich 15 bin. Er ist wie ein Bruder für mich, jemand, der mich durch sein Schreiben immer sehr beeinflusst hat. Und ich denke, viele seiner Werke und Ideen sind heute aktueller denn je.

Wie sieht Ihre Strategie für den weltweiten Kinostart von „Green Border“ aus?
Agnieszka Holland: Es gibt keine bestimmte Strategie. Wir wollen den Film zeigen, darum geht es. Wir arbeiten mit normalen kommerziellen Verleihern zusammen, die sich sehr wohl bewusst sind, dass dies ein sehr kontroverses Thema ist. Und das kann im Kino immer in beide Richtungen gehen.

Und wie geht es für Sie persönlich weiter?
Agnieszka Holland: Zugegeben, ich kenne das Ausmaß der möglichen Probleme nicht. Aber keine Sorge, ich werde mich nicht unterkriegen lassen. So schnell gebe ich nicht auf.