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Gretel & Hänsel / Gretel & Hansel

Filmkritik

Gretel & Hänsel

| Alexandra Seitz |
Ein erfreulich komplexer Genrebeitrag, kompetent inszeniert als atmosphärisches Schauerstück

Dermaleinst herrschte Hungersnot im Land, und Hänsel und Gretel werden auf Betreiben der bösen Stiefmutter – in älteren Versionen der Geschichte ist es die leibliche Mutter – vom Vater im Wald ausgesetzt. Dort stoßen sie auf ein Haus aus Lebkuchen, in dem eine Hexe lebt, die Gretel zur Hausarbeit zwingt und Hänsel mästet, um ihn zu fressen. Doch die Schlauheit der Geschwister siegt über die Pläne der Hexe, sie wird von den Kindern verbrannt. Hänsel und Gretel finden wieder zurück nachhause, wo sie von ihrem Vater willkommen geheißen werden; die (Stief-)Mutter ist unterdessen verstorben.

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Die Deutungsmöglichkeiten dieses bekannten Erziehungs-Märchens sind komplex, zentrale Motive hierbei sind: die kindliche Urangst, von den Eltern verstoßen zu werden und verhungern zu müssen; das Lebkuchenhaus als ein Bild des nährenden, mütterlichen Körpers; der Tod der Mutterfigur, die sowohl in der Hexe als auch in der (Stief-)Mutter gestaltet ist. Zudem ist es das patriarchale Ordnungssystem, das den Ausgangs- und den Zielpunkt einer Initiationsreise bildet, im Zuge derer weibliche Macht und Wissen vernichtet werden. Denn, wir erinnern uns, was da als Hexe verdammt wird, war vormals als kräuter- und heilkundige, weise Frau angesehen.

Vor diesem Hintergrund klärt sich Osgood Perkins’ interpretatorischer Neuansatz, den er mit der Umkehrung der Namen im Titel signalisiert. Wo vormals Hänsel, der Ältere, die Führung übernahm und die kleine Gretel zu beschützen trachtete, ist es diesmal umgekehrt. Zudem ist Gretel als Heranwachsende an der Schwelle zur Pubertät gezeichnet, deren Kurzhaarschnitt der Figur eine androgyne Anmutung verleiht und sie damit vom Typus des Opfers absetzt.

Alles andere als ein konventioneller Horrorfilm, nimmt Gretel & Hänsel nicht Zuflucht zu öden Jump Scares, um Gänsehaut zu erzeugen. Vielmehr vertraut Perkins auf die Inszenierung unheimlicher Stimmungen vermittels eines ästhetischen Konzepts, das vom Szenenbild über Kameraführung und Lichtsetzung bis zum Sounddesign kongenial umgesetzt wird und im Ergebnis an einen psychedelischen Rausch erinnert. So erschließt denn auch der Primat des Atmosphärischen das reiche Bedeutungsfeld, auf dem Gretel und „die Hexe“ einander unter geänderten Vorzeichen begegnen können. Dass am Ende weiterhin Rätsel ungelöst durch den Wald wabern, mag manchen Grund zur Klage geben. Anderen beweist es lediglich, dass immer ein Rest Unerklärliches bleibt: jener Stoff, aus dem die Märchen sind.