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Heimat ist ein Raum aus Zeit

Heimat ist ein Raum aus Zeit

Das, was übrig bleibt

| Roman Scheiber |
Eine faszinierende Familiengeschichte als Bildersammlung und parallel geführter Hörfilm: „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ von Thomas Heise.

Einen Film, der eine mehr als hundertjährige Geschichte erzählt, sieht man nicht alle Tage. Einen Film, der so eine Generationen übergreifende Geschichte erzählt, indem er das Bild weitgehend vom Ton trennt und konsequent parallel führt, hat man vielleicht noch nie gesehen. Thomas Heise macht das in diesem Film. Er folgt den Spuren seiner intellektuellen Familie, angefangen von seinen Großeltern Wilhelm Heise, einem Lehrer, und Edith Hirschhorn, einer jüdischen Bildhauerin, in Wien zur Zeit der Habsburger-Monarchie. Die Geschichte der väterlichen Vorfahren, und später auch seiner Eltern, lässt Heise gewissermaßen als Hörfilm lebendig werden: Hinterlassene Briefe, Aufsätze, Tagebucheinträge, Notizen dominieren – von ihm selbst vorgelesen – die Tonspur.

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Die Bilder wiederum sind collagiert aus gemächlich mit der Filmkamera abgetasteten, privaten Fotoaufnahmen, Porträts und Schnappschüssen, aus Handschriften, Akteneinträgen sowie aus gegenwärtigen Landschafts- und Zivilisationsbildern: Wälder, Wiesen, Halden, Windräder vor Bauruinen, Bahnhöfe, Züge; eine verregnete Fahrt mit der Wiener Straßenbahn mit Blick aus dem verschwommenen Rückfenster; eine Schneelandschaft. Dazu kommen gegenwärtige Geräusche, mal natürlich, mal künstlich, ein Soundscape gefundener Töne, das mal mit dem Bild korreliert, mal nicht. Diese heutigen Sequenzen sind an vielen Stellen dazu angetan, Stimmungen zu erzeugen, eine bestimmte Atmosphäre zu evozieren. Zuweilen beziehen die Bilder sich auf Orte des damaligen Geschehens, mitunter sind sie symbolisch gemeint (eine kaputte Straße etwa als Metapher für den gescheiterten Staatssozialismus) oder kommentieren das auf der Tonspur Berichtete. Nie allerdings wirken sie bloß illustrativ, wie man das etwa aus konventionellen TV-Dokus kennt.

Ein schöner Effekt von Heises Film ist die Anmutung des Verfließens der Zeit durch die Überlagerung, gewissermaßen Durchwucherung von Stimmen und Bildern der Vergangenheit mit Geräuschen und Bildern der Gegenwart

Heimat ist ein Raum aus Zeit: Von einem Film, der so heißt, erwartet man, dass er einem beim Zusehen den eigenen Titel erklärt. Es reicht nicht zu wissen, dass Heise sich als Dokumentarist des deutschen Ostens, seiner „Heimat“ also, einen Namen gemacht hat oder als Chronist der untergegangenen DDR, wie man auch formulieren könnte. Filme wie Stau – Jetzt geht’s los (1993) über das erbärmliche Leben von Skinheads in Halle oder Material (2009) über die verlorene Utopie der Wendezeit haben ihn nicht zuletzt als unbequemen Verkünder gern geleugneter Wahrheiten bekannt gemacht. Davon wird auf einer Meta-Ebene gegen Ende von Heimat ist ein Raum aus Zeit die Rede sein. Dann wird man auch begriffen haben, warum der Film so heißt.

Wenn einer wie Heise gewissermaßen Zeugnis gibt von seiner Familiengeschichte, die – noch deutlicher konturiert als viele andere – auch die Geschichte politischer Systeme ist, dann muss das geradezu ein persönlicher Film werden. Das Private war für Heise von klein auf mit dem Politischen verquickt. Seine Mutter Rosemarie hatte z.B. ein enges Verhältnis zur Schriftstellerin Christa Wolf, sein Vater Wolfgang war mit dem Dramatiker Heiner Müller, einem früheren Schüler, befreundet. Wolfgang Heise war der marxistische Philosoph der DDR gewesen, bis er sich durch seine Loyalität zu Wolf Biermann ins Abseits der SED gestellt sah und seine Rektorenstelle an der Humboldt Universität aufgeben musste, also auf gewisse Weise „heimatlos“ wurde. Jeder versteht nun etwas anderes unter dem Begriff Heimat, Heises Film ist eine Beweisführung seiner eigenen Definition im Titel und, mehr noch: ein über weite Strecken zärtliches Gedicht darüber, was Heimat ausmacht.

Der Erzählduktus ist ein durchgehend ruhiger, fast gezogener. Nichtsdestoweniger werden die Risse und Brüche, welche die Zeitläufte des bewegten 20. Jahrhunderts geprägt und sich in Millionen Familiengeschichten niedergeschlagen haben, mit den einfachsten Mitteln plastisch vor Augen geführt. Die Wirkung jener Szene zum Beispiel, die von der Deportierung der jüdischen Familie von Heises Wiener Großmutter Edith erzählt, ist beispiellos. Während die Kamera die elendslangen Listen jener Bürger abfährt, die am 19. Oktober 1941 vom Wiener Aspangbahnhof in die Vernichtungslager Polens deportiert wurden, konversieren die Verwandten zwischen Berlin und Wien in immer besorgteren Briefen bis hin zu diesem Datum. Es ist eine beeindruckend konkrete Darstellung eines Vorgangs, der für die meisten Menschen immer unfassbar und abstrakt bleiben wird, auch weil er in der Regel in Bildern nicht darstellbar ist. Und dann trällert plötzlich Marika Rökk das Eskapismus-Lied „Mach dir nichts daraus“: Schau nicht hin, schau nicht her, schau nur gradeaus – „Unterhaltungsmusik gehört zum Töten“, sagt Thomas Heise zu dieser nur auf den ersten Schock kühnen künstlerischen Entscheidung.

Heimat ist ein Raum aus Zeit verfolgt eine klare und doch mehrschichtige Strategie: Das, was von der Geschichte einer Familie übrig geblieben ist, essenziell zu verdichten und in einer assoziativen Montage mit der gesellschaftlich-politischen Geschichte zu verklammern. Heise bemüht dabei keine dramaturgischen Verrenkungen, die Sogwirkung entsteht aus einem organischen Vor- und Zurück- und Ineinanderschieben der erzählten Zeitabschnitte. Es beginnt mit einer mythisch-bunten Familienaufstellung von Rotkäppchens Personal in einem deutschen Märchenwald; gegen Ende finden wir uns am S-Bahnhof Ostkreuz, einem rammelvollen Berliner Umsteigebahnhof, wo Heise 2008 für 24-h-Berlin gedreht (und sich die Rechte dafür gesichert) hat – so kommen Teile des Materials nun zu ihrer eigentlichen, eigentümlich ausdrucksstarken Bestimmung.

Aus den zahlreich verlesenen Briefen werden die Verbindungen zwischen den Familienmitgliedern und ihrem Umfeld deutlich. Tritt hervor, wie diese Verbindungen sich verstärken, verändern, durch längere Abwesenheit abschwächen oder mit Bitterkeit erfüllen. Wie sich Großeltern verlieben, wie Brüder einander wahrnehmen, wie Affären und Trennungen die Befindlichkeit der Menschen prägen. Es geht um Liebe, Glück, Krankheit, Verlust, Vertreibung, Krieg, Familie, Freunde. Im Bild sind dazu Porträts und ein paar schöne Schnappschüsse aus der Hinterlassenschaft der Familie zu sehen, aber auch gegenwärtige Impressionen der Orte, die einen Bezug zu den damaligen Protagonisten aufweisen. Emotional heftig zum Beispiel: die Briefe des ersten Verflossenen von Rosemarie, eines offenbar ziemlichen machoiden Reaktionärs. Parallel dazu u.a. das Bild eines Verschiebebahnhofs.

Ein schöner Effekt von Heimat ist ein Raum aus Zeit ist eine Anmutung des Verfließens der Zeit durch die Überlagerung, gewissermaßen Durchwucherung von Stimmen und Bildern der Vergangenheit mit Geräuschen und Bildern der Gegenwart. Es ist auch ein Reisefilm: Man durchlebt regelrecht die Geschichte dieser Familie, die Geschichte der politischen Systeme in Mitteleuropa und der Menschen, die davon betroffen waren und bis heute sind. Leitmotivisch rauschen immer wieder Züge vor die Augen und durch die Ohren des Publikums, verstärken den Eindruck der volatilen Dimension der Zeit. Mal assoziiert man einen Transport ins KZ, mal bloß das unaufhaltsame Voranziehen des Weltenlaufs, mal vermeint man ein Echo aus einem früheren Erzählabschnitt zu hören. Oder der Bahnhof als Ausdruck der Ort- und damit der Raumlosigkeit, das Leben im Übergang oder im eilenden Stillstand. Ein Raum nur aus Zeit.

Aufgrund der von ihm selbst gehaltenen Distanz gelangt erst gegen Ende des Films wieder ins Bewusstsein, dass dies ja auch die eigene Geschichte des Filmemachers ist. Wenn die Bilder dynamischer werden, wo sie vorher tendenziell statisch waren, bricht sich die Wirkmacht der jüngeren Familiengeschichte Bahn. Doch auch wenn Heise selbst und seine Arbeit mit der Zeit in den Vordergrund rückt, wird der Film nie eitel. Er behauptet auch nie, etwas Abgeschlossenes zu erzählen. „Heimat ist ein Raum aus Zeit ist ein Nachdenken über die Zeit und die Liebe in ihr, den Menschen, in Tönen, Bildern und Sprache“, sagt Thomas Heise selbst über den Film. Und er konzediert: „Immer bleibt ein Rest, der nicht aufgeht. Das Material des Films ist das Übriggebliebene meiner Familie, Reste. Die, von denen ich weiß, deren Umstände ich erlebt oder anders erfahren habe. Reste, die Geschichte spiegeln, Geschichte, die auch meine ist.“