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Beau Is Afraid

Beau Is Afraid

Here comes Ari

| Jakob Dibold |
Ari Asters „Beau Is Afraid“ ist ein selbst-bewusstes Feuerwerk der Sinneseindrücke, das gleichermaßen zu verzücken und entnerven vermag.

Aufgrund von gerade einmal zwei langen Regiearbeiten ist der Name Ari Aster zu einer Art Adjektiv geworden. Mehr noch als manche ähnlicher Machart riefen seine Filme Hereditary (2018) und Midsommar (2019) eine Resonanz bei Kritik und Publikum hervor, die ihren Autor als Aushängeschild für eine zeitgenössisch neu gedachte Form des Horrorfilms geltend machte. Davon nicht zu trennen ist der Aufstieg der Produktions- und Distributionsfirma A24, die sich unter anderem aufgrund dieser beiden Werke endgültig als Spielwiese für eine neue Generation Filmschaffender etablierte, insbesondere dieses Genre und seine Konventionen ohne Scheu und in neuem Chic ins vage Feld des Arthousekinos zu verpflanzen. Von dieser Entwicklung mag man halten, was man will – oder sie als solche gänzlich in Frage stellen –, sie ist jedenfalls zweifelsohne mitverantwortlich dafür, dass dem nun dritten Langfilm von Ari Aster umso mehr entgegengefiebert wurde. Es heißt nun Vorhang auf für Beau Is Afraid, und so schnell sein Schöpfer kategorisiert wurde, so rasch enthebt ihn seine von ihm selbst im Vorfeld wirkungsvoll sowohl als „nightmare comedy“ und „Jewish Lord of the Rings“ angeteaserte Filmattraktion sofort wieder einer klaren Einordnung.

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BEAU
Denn orientiert man sich an den beiden gut rezipierten Vorgängern, scheint der bei seiner Ankündigung noch „Disappointment Blvd.“ genannte Film einen Wendepunkt im Werk Asters zu bedeuten: Weg vom Kunst-Grusel und hin zu einer assoziativen Abenteuer-Groteske. Wirft man jedoch einen Blick in die zwischen 2011 und 2016 entstandenen Kurzfilme des 1986 in New York geborenen, jedoch in Großbritannien und vor allem New Mexico aufgewachsenen Regisseurs, wird sofort offensichtlich, dass das Gegenteil der Fall ist: Wenn, dann sind Hereditary und Midsommar die stilistischen „Ausreißer“ im Œuvre. Das Angebot, Beau Is Afraid in Einbeziehung der kurzen Arbeiten zu entdecken, ist weniger streberhafte Muße als von Aster selbst ermutigt, schlägt der nunmehrige Titel des Films doch eine direkte Brücke zu Beau, einem Kurzfilm aus 2011. Dieser findet sich als einziger nicht (bzw. nicht vollständig) zur freien Ansicht auf YouTube – schließlich nimmt er die Prämisse und eine Schlüsselszene vorweg, die den bizarren Trip des Protagonisten ins Rollen bringen. Überhaupt ist Beau Is Afraid eine regelrechte Wunderkammer an Einfällen, die bereits in diesen schrägen Miniaturen vorgestellt werden, und so gesehen eine frühe, selbst-reflexive Kulmination künstlerischer Gestaltungsfreude. Distinkte Schnitttechniken, thematische Schwerpunkte – vielleicht am besten fassbar als „fatale Momente in Elternteil-Kind-Beziehungen“ –, ganze Bildsequenzen und sogar Figuren aus Asters filmischen Zehnerjahren finden Einzug und ihre Formvollendung in Beau Is Afraid. Während die audiovisuelle Schönheit des Films von den allermeisten Cinephilen anerkannt werden wird (auch von jenen, die den dreistündigen Psychotrip als zu abstrus oder selbstbezogen empfinden werden), wird die Geschichte, das, was erzählt wird, selbstbewusst die Gemüter spalten: Nun ist er da, der Extreme durchaus gewöhnte Joaquin Phoenix, als völlig blasser, in sich gekehrter, von der Welt in jeder Sekunde überforderter Knilch, der sich in seinem schmuddeligen Apartment in einem in jeder Hinsicht kaputten Großstadtviertel auf eine Reise zu seiner Mutter vorbereitet.

IS
Was ist hier nur los? Ein leblos wirkender Mann sitzt seine Therapiestunde ab, nimmt ein neues Rezept gegen seine Angststörung entgegen und kämpft sich in einer maßlos überzeichneten urbanen Hölle erst tapfer in den Schlaf, um dann erst recht zu spät aufzuwachen – und nach einer Verkettung unglücklichster Zufälle sowohl seinen Flug in Richtung mütterliche Heimat zu verpassen als auch seine vier Wände als Schlachtfeld vorzufinden. Zu allem Überfluss erfährt Beau anschließend in unwahrscheinlichster Manier, dass seine Mutter plötzlich gestorben ist, im Eigenheim erschlagen von einem Luster. Der in allen Sinnen des Wortes verlorene Sohn muss dringend zum Begräbnis, denn ohne seine Anwesenheit darf die Beisetzung gar nicht stattfinden – so regelte es Mutter selbst. Dass Beau von dieser Klausel erst erfährt, nachdem er ziemlich schwer verletzt in einem schicken Vorort-Haus erwacht, wo er von jenem Ehepaar umsorgt wird, das an seinen Blessuren Mitschuld trägt, sollte an dieser Stelle gar nicht mehr groß überraschen. Die nächste Station des holprigen Wegs wird eine zufällige Begegnung in einem Wald werden, finales Ziel ein luxuriöses Anwesen, in dem sich das ganze wilde Puzzle zusammenfügt, nur um zu implodieren.

Hier inhaltlich Genaueres zu verraten, wäre schade; der Versuch einer Beschreibung, wie all das in Szene gesetzt wird, erscheint zweckmäßiger. Aster führt seine Hauptfigur, seinen unnahbaren Titelhelden, wie bereits gesagt, in einem Setting der schamlosen Übersteigerung ein; was dabei kinematografisch passiert, zählt sicher zum Virtuosesten der letzten Jahre. Dem folgt eine Persiflage auf die wohlhabende US-Suburbs-Bourgeoisie, wie sie pointierter kaum möglich ist, und im Dickicht der Bäume entführt uns Ari Aster mit Hilfe der Animationsfilmkünstler

Joaquín Cociña und Cristóbal León (La casa lobo; u. a. Berlinale 2018) in ein berückendes Märchen, das den Midsommar-Folk-Horror und das Hereditary-Puppenhaus ebenso fortschreibt, wie es in maximaler Verschachtelung und religiös eingefärbt die Kunst und das Leben in Symbiose webt. Im Vergleich lässt sich das letzte Drittel des Films, das sich primär im Haus der Mutter abspielt, leider – und trotz eines fulminanten Auftritts von Musical-Legende Patti LuPone – klar als schwächer benennen.

Keineswegs außen vor bleiben soll in dieser kurzen Einteilung, wie sich kontinuierlich Geträumtes und Erinnertes ins Bild drängen, beides mit Wasser in verschiedenen Ausprägungen als alles verbindendem Element. Dass Ari Asters Ideenreichtum so einnehmend wie eine VR-Version eines Bosch-Gemäldes auf die Leinwand kommen kann, ist der grandiosen Arbeit von Szenenbildnerin Fiona Crombie, Kostümbildnerin Alice Babidge und seines Langzeit-Kollaborateurs Pawel Pogorzelski an der Kamera mit zu verdanken. Und einer genau ob jener Gehemmtheit, die die Rolle verlangt, nicht hoch genug einzuschätzenden Performance von Joaquin Phoenix, der, quasi als Gegenstück zu seinem Joker (2019), einen kleinlauten Verlierer verkörpert, aus dem zwar fast nichts heraus-, über den aber fast alles hereinbricht (laut Regisseur ist sein Star auch einmal vor Erschöpfung ohnmächtig geworden).

AFRAID
Das Spektakel, das Beau umgibt, wiederholt verschlingt und wieder ausspeit, wird von Aster einerseits als fantastisch, als imaginiert inszeniert, andererseits gelingt es ihm immer wieder, das Gefühl zu erwecken, dass die absurden Geschehnisse im Grunde gar nicht so realitätsfremd sind, wie es den Anschein erweckt. Das ist ein zentraler Baustein in der Konstruktion dieses Films: Wie so oft interessiert sich Aster im Kern für zerrüttete menschliche Beziehungen innerhalb familiärer Kontexte, für die Entstehung und Auswirkung von Traumata sowie die Frage der Schuld. In seiner neuesten Beschäftigung damit zeichnet er ein gerade in seiner überbordenden Unordnung präzises Bild unserer Gesellschaft: Nicht nur anhand von Beau, dessen Minderwertigkeitsgefühle, Entfremdung und nie eingelöste Liebesversprechen gleichsam uns Publikum schlichtweg unangenehm berühren, sondern auch (am direktesten) von Jeeves, dem PTSD-gebeutelten US-Army-Pflegefall, den das wohlhabende Ehepaar umsorgt, in dessen Obhut sich Beau wiederfindet, und der Teenie-Tochter derselben Familie, die evident vernachlässigt und mit Smartphone als Komplize die Flucht nach vorne sucht, während ihre Eltern einen Altar für den verstorbenen Helden-Sohn errichten und sein Zimmer unter Betretungsverbot stellen.

Weil die Bezüge so deutlich sind – der Hauptcharakter aus Asters Kurzfilm C’est La Vie (2016), der sich dort u. a. über den Begriff des Unheimlichen Gedanken macht, kehrt hier gar nackt und mit Messer-Todestrieb wieder; eine gewisse Neigung zu koitalem Humor ist nicht zu leugnen –, lässt sich Beau Is Afraid leicht als großkotziges, hippes Freud-Epos verknappen. Seine Struktur und seine wie besessene Verdichtung von Sprache, Sound und Bild machen ihn aber zu einem noch ambitionierteren, eigenständigeren Versuch, das Gefühl von psychischen Entrückungen durch die Mittel des Kinos spürbar zu machen. Denn Aster wählt einen schrillen, radikal offenen Stil dafür, der der Logik des zeitgenössischen Internets, dessen sozialen Medien und tausenden beißend-spaßigen Memes Rechnung trägt, den durchpsychoanalysierten Menschen so in der Gegenwart des Informations-Kapitalismus verortet. Nicht umsonst ist Beaus Mutter eine überaus erfolgreiche Unternehmerin und sind die Produkte ihrer Firma MW Industries allerorts im Film präsent, und nicht umsonst geht mit dem Film seit einiger Zeit eine Marketing-Kampagne einher, die als Alternate-Reality-Game – eine Werbepraxis, die spätestens mit The Blair Witch Project (1999) und A.I. (2001) auch im Bewerben von Kinostarts Fuß fasste – eine Insider-Erfahrung verspricht: MW Industries ist auf TikTok, Instagram und sogar LinkedIn präsent und bietet mittlerweile einiges an Interaktion an.

In algorithmischer Überleitung sei hier noch Her, ebenfalls mit Joaquin Phoenix in der Hauptrolle, als filmischer Verwandter von Beau Is Afraid erwähnt – alleine deshalb, weil sich Spike Jonzes A.I.-Tragödie seltsamerweise bis jetzt nicht oder kaum unter den vielen Filmtiteln und Inspirationen findet, die die Fachpresse seit dem US-Kinostart mit Beau Is Afraid in Verbindung bringt. Anspielungen auf mehr und weniger bekannte Filme sind hier jedenfalls so dermaßen viele zu finden, dass schon der Beginn einer Aufzählung die Badewanne zum Überlaufen brächte. Vielleicht ist es sogar aufschlussreicher, diesen Umstand dahingehend zu deuten, dass Aster weniger einzelnen Filmen, sondern vielmehr Hollywood und Kino im Gesamten als der ultimativen (Alb-)Traumfabrik huldigt. Hinweise auf das Damoklesschwert des pausenlosen Entertainments streut Aster jedenfalls genug. Um die Zukunft des Mediums hingegen muss man sich dank Beau Is Afraid wieder ein Stück weniger ängstigen. Denn durch ihn wird nicht nur Ari Aster zu einer (nun wahrhaftigen) Eigenmarke – die Meinungen über ihn werden auseinanderklaffen, aber sie werden in Massen vorhanden sein.