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Hou Hsiao-Hsien

Geschichtsschreibung

| Ella Raidel |
Das Österreichische Filmmuseum widmet dem großen taiwanesischen Regisseur Hou Hsiao-Hsien eine Gesamtretrospektive.

In der ehemaligen amerikanischen Botschaft in der Zhongshan North Road, einem der wenigen Gebäude in Taipei, die aus der japanischen Kolonialzeit noch erhalten sind, befindet sich das von Hou Hsiao-Hsien gegründete Programmkino Spot Cinema. Daneben befindet sich im Erdgeschoss das Café Lumière, benannt nach seinem Film, der Hommage an den japanischen Regisseur Ozu, und im ersten Stock die Bar Le Ballon Rouge, in der man sich Cocktails bestellen kann, die klingende Namen des Neuen taiwanesischen Kinos tragen, wie „Vive L’Amour, „Dust of Angels“ oder „Terrorizer“.

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Dieses taiwanesische Kino, das in den frühen achtziger Jahren aufkam, sorgte international für Furore und wurde als cineastische Erneuerung gefeiert. Die Filme, mit ihrem Charakteristikum der lang anhaltenden, beschaulich distanzierten Aufnahmen, wurden zwar in Arthouse-Kreisen bejubelt, in Taiwan jedoch als „Kassengift“ kritisiert und dann zunehmend von einem kommerzielleren Kino abgelöst. Was von der „Neuen Welle“ blieb, ist, dass Taiwan – Chinas sogenannte abtrünnige Provinz – einen Platz auf der globalen Karte gefunden hat, und das ist vor allem den internationalen Erfolgen Edward Yangs und Hou Hsiao-Hsiens, später auch Tsai Ming-Liangs, zu verdanken.

Mit City of Sadness gewann Hou 1989 den Goldenen Löwen in Venedig. Nur zwei Jahre zuvor war in Taiwan die Militärdiktatur aufgehoben und damit die Öffnung des Landes ermöglicht worden. Der Film ist insofern ein Schlüsselwerk, als er als „nationale Biografie“ fungiert und die Jahre von 1945 bis 1950 porträtiert, als sich Taiwan in der Übergangsphase vom Ende der japanischen Besatzung bis zur Machtübernahme der KMT (Kuomintang-Partei) befand. Kein anderes historisches Moment oder ein Film darüber haben jemals nachhaltig so großen Einfluss ausgeübt und als Katalysator im Identitätsfindungsprozess eine Rolle gespielt. Insgesamt galt diese neue Art des Filmemachens – die Thematisierung der bislang unverarbeiteten Vergangenheit – für die Regisseure der Neuen Welle als ein Befreiungsakt. Vor dem Hintergrund der eigenen Kindheit konnte über persönliche Erfahrungen gesprochen werden; darüber hinaus gewann diese Filmbewegung aber auch insgesamt Bedeutung im Prozess der Dekolonialisierung.

Nationale Biografie

City of Sadness beginnt am 15. August 1945, als im Radio der Rückzug der Japaner verkündet wird und in einer taiwanesischen Familie ein Kind zur Welt kommt. Eingebettet in eine Familiengeschichte werden die Ereignisse des 28. Februar 1947 erzählt, in deren Folge tausende Menschen ermordet wurden, und die bis heute die Bevölkerung polarisieren. Bis 1989 galten die Vorkommnisse als politisches Tabu – vierzig Jahre lang war es den Menschen untersagt, darüber zu sprechen. Offizielle Quellen zu diesen Ereignissen waren auch in den späten achtziger Jahren noch nicht vorhanden, so dass auch Hou Hsiao-Hsien für die Erstellung des Drehbuchs zusammen mit Wu Nian-zhen und Chu T’ien-wen eigene Recherchen betrieb. Die Stoffe für die Filme entwickelten sich aus der literarischen Bewegung Xiangtu, die mit ihrer Vorgehensweise der emanzipierten Geschichtsschreibung wegweisend für die neue kulturelle Identität war. Ihre Informationen stützten sich auf persönliche Erzählungen, Tagebücher und Briefe. Durch diese Methode entwickelten sie biografische Erzählungen, die in die parallelen historischen Ereignisse eingebettet waren.

Mit The Puppetmaster (1993) und Good Men, Good Women (1995), in der sich die japanische Besatzung, die Machtübernahme der KMT und die Jahre des paranoid-antikommunistischen „Weißen Terrors“ parallel aus der Biografie der Charaktere entwickeln, schrieb Hou seine nationale Biografie weiter. Exemplarisch hierfür ist The Puppetmaster, in dem ein Volkskünstler, der 84-jährige Puppenspieler Li Tien-Lu, seine Lebensgeschichte mittels traditioneller Bühnenrhetorik in einfachen, performativen Gesten und musikalischen Einlagen erzählt. Anhand seiner persönlichen Erfahrungen werden die politischen Machtstrukturen und das Verbot der eigenen Kultur und Sprache, durch die sich in einer Generation wechselnde Strukturen von der japanischen Kolonie hin zu der Machtübernahme der Kuomintang, entwickelten, begreifbar. Die formale Struktur des Films spiegelt die Parallelität der Ereignisse wider, dokumentarische Aufnahmen fließen wie selbstverständlich in die fiktionale Struktur ein. Der letzte Teil der Trilogie, Good Man, Good Woman, basiert auf der wahren Geschichte eines Ehepaars, das auf Grund des Verdachts der Spionage im Zuge des „Weißen Terrors“ verfolgt und exekutiert wurde. Wie bei anderen Filmemachern seiner Generation erwuchs auch bei Hou Hsiao-Hsien die Motivation für das Arbeiten an einem „neuen“ Kino aus der gesellschaftlichen Sprachlosigkeit über die politischen Geschehnisse.

Neueinsteiger

Hou Hsiao-Hsien wurde 1947 in China geboren. Im Jahr darauf emigrierte seine Familie mit ihm nach Taiwan. Auf Grund seiner Abstammung von der ethnischen Minorität der Hakka gelingt es ihm in seinem Filmschaffen, die Bevölkerung Taiwans in ihrer ethnischen und linguistischen Diversität zu zeigen, ohne dabei für eine der Gruppen Stellung zu beziehen. Er zeigt das Schicksal exilierter Festlandchinesen, die sich ihr Leben in Taiwan als Provisorium einrichteten, in der Absicht, irgendwann wieder auf das Festland zurückzukehren, ebenso wie jene, die unter den Repressalien der japanischen Herrschaft litten. In seinen Filmen werden unterschiedliche Sprachen (Taiwanesisch, Mandarin, Hakka) gesprochen, und unterschiedliche kulturelle Werte kommen zum Ausdruck. Niemand hat die sinophone Weltanschauung und ihre Konflikte so authentisch dargestellt wie Hou.

Seine filmischen Erfahrungen begannen in der Zeit seiner Tätigkeit als Assistent und Drehbuchautor bei der staatlichen CMPC (Chinese Motion Picture Company) während der Periode des „Gesunden Realismus“ von 1975 bis 1982, einer Zeit der Produktion neo-realistischer Filme für Propagandazwecke, die nationalistisches Gedankengut und konfuzianische Werte vermitteln sollten, ohne diese kritisch zu hinterfragen. 1982 begann die CMPC eine Politik zu verfolgen, die unbekannten Regisseuren den Einstieg ins Filmgeschäft erleichtern sollte. Diese „Neueinsteiger-Politik“ sollte unter anderem dazu führen, den Filmmarkt wieder zu beleben. Die erste Filmserie dieser Initiative nannte sich In Our Time (1982) und wurde in vier Episoden von vier Filmemachern und Kollegen von Hou Hsiao-Hsien erstellt, einer davon war Edward Yang. Diese Filmserie gilt als Startschuss für die neue Kinowelle. Erstmals wurde die spezifische taiwanesische Situation in ihrer kulturellen, ethnischen, sozialen und linguistischen Brisanz repräsentiert.

Hous Filme aus dieser Periode wie The Boys From Fengkuei (1983), A Summer at Grandpa’s (1984), A Time to Live and a Time to Die (1985) und Dust in the Wind (1986) greifen nicht nur auf autobiografische Erinnerungen zurück, sondern wurden auch an den Originalschauplätzen seiner Kindheit gedreht. Sie handeln von den Jahren der Jugend und des Erwachsenwerdens vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen und porträtieren das beschauliche Leben auf dem Land unter den Vorzeichen zunehmender Modernisierung: Einfahrende Züge, Haltestellen und Bahnhöfe künden von neuer Geschäftigkeit, von neuen Verbindungen zwischen Stadt und Land und vom Beginn sozialer und urbaner Veränderungen, dem Generationenkonflikt und dem Bruch mit den konfuzianischen Werten der Gesellschaft.

Nach dem großen Erfolg von City of Sadness 1989 etablierte sich Hou Hsiao-Hsien als erstrangiger internationaler Autorenfilmer. In seinem Film Flowers of Shanghai (1998), mit Hongkong-Star Tony Leung Chiu-wai in der Hauptrolle, wandte er sich erstmals einem klassischen chinesischen Thema zu, obwohl der Film zur Gänze in einem Studio in Taiwan gedreht wurde. Mit Café Lumière (2003), einer in Japan gedrehten Hommage an die Filme Ozu Yasujiros, und Flight of the Red Balloon (2008) mit Juliette Binoche in der Hauptrolle, griff er Themen außerhalb seiner taiwanesischen Erfahrung auf und arbeitete mit inter-
nationalen Produzenten.

Martial Arts

Hou Hsiao-Hsiens extrem lange Einstellungen, die beschaulich distanzierte Fotografie, die er mit seinem Kameramann Lee Min-Ying entwickelte, die zeitlichen Umbrüche und die elliptische Erzählform sind Charakteristika seiner Filme. Aufnahmen von Fragmenten aus Radio- und Fernsehsendungen dienen als Subtext einer dialogarmen, fragmentarischen Erzählstruktur. Die durchschnittliche Länge der Einstellungen beträgt in City of Sadness 42 Sekunden und steigert sich in Good Men, Good Woman auf mehr als hundert Sekunden. Seine stark kontrastierende Lichtsetzung (Chiaroscuro) und die räumliche Tiefe der Mise en Scène eröffnen (Denk-)Räume und verstärken den realistischen Zugang. In den tableau-artigen Inszenierungen durchleben die Charaktere alltägliches Leben und Handeln schlicht dadurch, dass sie Posen einnehmen. Die Anreicherung rein optischer oder akustischer Situationen ist integraler Teil der Form. Hous Filme kreisen um seine Subjekte, um so den Zusammenhang zwischen individuellem, privatem Raum und der Beschaffenheit der Stadt oder Landschaft zu formulieren, als Symptom eines größeren politischen und globalen Kräfteverhältnisses.

Immer wieder wurde Hou mit den italienischen Neorealisten oder Ozu Yasujiro verglichen. Wie bei Ozu wird der gesamte gesellschaftliche Kosmos, dessen größter Konflikt die Entfremdung der Menschen von ihrer Umwelt ist, anhand der Inszenierung einer einzigen Familie dargestellt, deren Ereignishorizont jedoch nicht über die Türschwelle des Wohnhauses reicht. Die Reduktion der Filmsprache, die sich ausbreitende Sprachlosigkeit und Stille, die sich bei Ozu aus der Ästhetik des Zen-Buddhismus herleitet, eröffnet bei Hou ebenfalls durch Absenz und Auslassungen Gedankenräume.

Im Gespräch erweist sich Hou Hsiao-Hsien als bodenständiger Regisseur, der sein Handwerk versteht, und für den Film vor allem ein universelles Ausdrucksmittel ist, dessen technische Bedingungen und Rahmenbedingungen sich im Laufe seines Schaffens grundlegend verändert haben und die zu jeder Zeit unweigerlich die Form der Filme beeinflusst haben. Derzeit arbeitet er an einem Martial-Arts-Film mit dem Titel The Assassin, mit Shu Qi, jener taiwanesischen Darstellerin, mit der er schon Millennium Mambo und Three Times gedreht hatte, in der Hauptrolle. Sie spielt eine Attentäterin, die sich in eines ihrer Opfer verliebt. Mit dem wuxia-Drama wechselt er in ein neues Genre und beschäftigt sich mit der Gesellschaft der Tang-Dynastie (618–907). Das Drehbuch stammt erneut von Chu T’ien-wen, der wichtigsten literarischen Wegbegleiterin vieler seiner Filme.

Wie viele andere der großen chinesischen Regisseure, etwa Wong Kar-wai (The Grandmaster, 2013), Zhang Yimou (Hero, 2002), Ang Lee (Crouching Tiger, Hidden Dragon, 2000) – auch Jia Zhangke bereitet übrigens einen wuxia-Film vor – wagt sich also auch Hou Hsiao-Hsien an das unumstritten beliebteste Genre der chinesischen Populärkultur, um den Anforderungen der Filmindustrie und vor allem des Marktes gerecht zu werden und einen Box-Office-Hit zu landen.

Vom lesen zum erzählen

Hou Hsiao-Hsien im Gespräch über Kampfkunstfilme, über die Macht der Bücher, über historischen Realismus und die Zensur, die der Zwang zum Kassenerfolg mit sich bringt.

Interview ~ Ella Raidel und Austin M.H. Hsu

Sie arbeiten seit geraumer Zeit an einem Martial-Arts-Film. Wo liegen die Herausforderungen in diesem Genre?
Um einen guten Genrefilm zu machen, ist eine ganze Filmindustrie notwendig, und nicht viele Länder können das. Nehmen wir zum Beispiel Taiwan: So wie ich es sehe, sind wir nicht vorbereitet darauf, und das, obwohl sich die Industrie hier schon seit einiger Zeit entwickelt hat. Genrefilme sind schwierig zu produzieren, man braucht trainiertes Personal, teures Equipment, eine gute Struktur und Distribution.

Worum geht es in dem Film? Was ist Ihr Zugang zum Genre des wuxia, der Kampfkunst?
Der Film, an dem ich arbeite, basiert auf der Legende des
Zhuangzi [„Meister Zhuang“, daoistischer Philosoph und Dichter, Anm.] aus der Tang Dynastie. Der Text ist eher kurz. Ich erinnere mich, dass wir die Geschichte schon im Gymnasium gelesen hatten und dann auch auf der Universität. Bis dahin hatte ich schon viel Wuxia-Literatur gelesen. Der Prototyp des Wuxia, also Zhuangzi und die klassischen chinesischen Texte, haben mich immer schon interessiert. Das sind alles Stoffe, die auch in der Peking-Oper immer wieder zur Aufführung kamen. Ich aber komme ja von der literarischen Tradition und nicht vom Theater. Geschichten erzählen war früher anders als Filme machen heute, daher lassen sich die Stoffe von damals schwer in einen Film umsetzen.

Eine dieser literarischen Vorlagen ist das „Notizbuch“ (bi ji), das ist noch kürzer und stammt aus einer Zeit noch vor Zhuangzi. Die Wuxia-Literatur und die Filme beziehen sich auf den Realismus, den man in diesem „Notizbuch“ vorfindet. Die Schwierigkeit für mich als Filmemacher ist nun, dass ich den Realismus der damaligen Zeit wiederherzustellen versuche, und das ist gar nicht einfach, weil es ja kaum Spuren aus der Zeit gibt. Heute kann man die Atmosphäre der damaligen Zeit vielleicht noch in japanischen Tempeln finden, etwa im Toshodai-Tempel des berühmten Mönchs Jianzhen aus dem Jahr 759 n. Chr. Jianzhen war blind und machte fünf erfolglose Versuche, den Buddhismus nach Japan zu bringen. Die Überfahrt mit dem Schiff war damals unglaublich schwierig und gefährlich. Erst beim sechsten Anlauf gelang es ihm, Japan zu erreichen, und er führte dann den Buddhismus in die Japanische Reformation ein.

Der Tempel ist immer noch erhalten. Es begeistert mich, dass man ihn damals ohne einen einzigen Nagel errichtet hat. Es hat 20 Jahre gedauert, das Gebäude zu renovieren, und sie mussten ihn komplett auseinandernehmen. Daikakuji in Kyoto ist ein weiteres Beispiel für einen Tempel, der ein Gefühl für die damalige Zeit vermitteln kann. Ich hatte den Eindruck, dass das Gebäude mehr als nur Architektur ist, sondern dass es auch das Gesetz beeinflusst und einen Raum für Aufklärung geschaffen hat, die die Struktur der japanischen Gesellschaft verändern sollte.

Wie wichtig ist Ihnen der Realismus in so einem Film?
Als Filmemacher weiß ich, dass die Architektur nur der Schatten der Vergangenheit ist, durch die ich versuche, die damalige Zeit wiederzubeleben. Könnte ich eine Zeitreise machen, könnte ich ja doch nur einen oberflächlichen Blick erhaschen. Wer weiß schon, wie es damals auf der Welt war. Authentischer Realismus ist unmöglich, aber als Filmemacher muss man eine Form finden, um diese Kluft zur Vergangenheit, die man darstellen möchte, zu überbrücken. Alle Außenaufnahmen habe ich in Japan gemacht und für sämtliche Innenaufnahmen das Set in einem Studio in Taiwan nachgebaut.

Für viele Filmemacher, die an Wuxia-Filmen arbeiteten, war der Regisseur King Hu (1932–1997) ein großes Vorbild. Er verbrachte ja auch mehrere Jahre in Taiwan, wo A Touch of Zen entstand, ein Meisterwerk des wuxia. Was war für Sie das Besondere an King Hu?
Als King Hu seine bemerkenswerten Filme in Taiwan produzierte, war die Filmindustrie hier nicht auf der Höhe der Zeit. Und als er das erste Mal aus Hongkong kam, um bei uns einen Wuxia-Film zu drehen, musste er sich mit den Restriktionen auseinandersetzen, die ihm von Anfang an auferlegt wurden – und das zu einer Zeit, bevor es Kungfu-Choreografen gab. So erfand er diese Wirbelwind-Bewegungen, die Close-ups auf Details, zum Beispiel die Füße, die über die Landschaft gleiten, um diesen Realismus zu symbolisieren, um die Stimmung einzufangen. Auch seine Charaktere trugen diese Dimension in sich. Er revolutionierte das Genre. Wuxia ist eine Form der Erzählung, die besondere Anforderung an den Leser bzw. Rezipienten stellt. Die Quelle ist der Roman. Es ist schwierig, das Gefühl aus der Literatur in den Film zu übersetzen.

Mit welchen Restriktionen haben Sie zu arbeiten? Für Ihren Film arbeiten Sie eng mit volkschinesischen Geldgebern zusammen. Gibt es Einschränkungen durch die Zensur?
Ich bin ein chinesischer Regisseur, also muss ich mein Geld auf dem chinesischen Markt finden, denn um einen Film in Umlauf zu bringen, braucht man viel Geld. Meine Firma ist eine chinesische, mit einem Stützpunkt in Hongkong. Amerikanische Filme haben ihren eigenen Markt. Jeder hat seine eigenen Beschränkungen, auch ich habe meine. Meine Limitationen grenzen die Anforderungen an meine Arbeit ein. Es war nicht meine Absicht, ein Autor zu werden, aber ich erfand meine eigenen Gesetze entlang meines Weges. Für mich ist das Schwierigste, wenn man an dem Punkt ankommt, wo man etwas nicht mehr ändern kann. Alles hat seine eigenen Einschränkungen. Aber wenn es zum Dreh kommt, erkennt man plötzlich, dass man es nicht ändern kann.

Zensur ist kein Thema, weil man innerhalb der Limitationen Raum finden kann. Die wirkliche Zensur ist die Anforderung, damit an den Kinokassen Geld verdienen zu müssen. Das ist die wirkliche Herausforderung – ob das gelingt, oder ob man versagt. Du musst zu dir selbst stehen, um die Zensur zu reflektieren. Erschaffe Arbeit für dich selbst, nicht für das Publikum. Wenn ich mit chinesischen Firmen arbeite, regelt der Markt die Gesetze. Sie lesen das Drehbuch und verstehen es nicht, aber sie eruieren seinen Marktwert. Aber man kann sich von dem Strom nicht mitreißen lassen, man muss seiner inneren Stimme folgen, um sein wahres Selbst zu erkennen. Dann erst kann man mit dem System verhandeln.

Sie sind ohne Zweifel einer der bedeutendsten chinesischen Filmregisseure. Was ist für Sie beim Filmemachen wichtig?
Ich als taiwanesischer Regisseur muss – im Vergleich zu den amerikanischen Regisseuren, die offenbar machen können, was sie wollen – alles mit meinen eigenen Augen sehen, um zu entscheiden, ob ich es machen kann oder nicht. Meine kulturellen Wurzeln sind chinesisch, ich kann nichts machen, was nicht in Beziehung zu meiner Kultur steht. Es sollte strenge Regeln geben, um einen Film zu drehen, aber es gibt immer ein Objekt, das gedreht wird, ganz gleich ob real, arrangiert oder manipuliert, das die filmische Situation erzeugt.

Nehmen wir den Roman „Flowers of Shanghai“ (1892) zum Beispiel: Der Autor Han Bangqing verfolgt allen Stationen seiner Jugend. Er schreibt über seine Erfahrung, darüber wie es war, während der Qing-Dynastie beim staatlichen Examen durchzufallen. Wenn man die Geschichte heute liest, kann man die Präsenz des Autors in der Erzählung immer noch spüren. Es vermittelt sehr präzise fast kinematografische Darstellungen. Sein Blick schweift umher, er beschreibt Objekte und Dinge. Ich versuche solche Perspektiven dann durch die Verwendung von Kamerafahrten umzusetzen. Zuerst dachte ich daran, alles mit 16mm-Handkamera zu drehen, um diese Gefühlswelt zu vermitteln. Die Kamera hatte systemeigene Tücken, eine Drehspule, die beim Filmdurchlauf von sich aus Jump Cuts erzeugte. Es sollte eine neue Erfahrung werden, und ich machte mit meinem Kameramann Lee Min-Ying mehrere Versuche, aber er war schon zu alt, um sich an die Neuerungen und den wackelnden Sucher zu gewöhnen. Ich dachte sogar daran, einen zweiten Kameramann einzusetzen. Die Idee musste ich aber verwerfen, da Lee wie besessen von den Schienen und der 35 mm-Kamera-Bewegung war. Das Wichtigste für mich ist eine charakteristische Form zu finden, die in den Bereichen zwischen Gestalt, Szenen und Performance die richtige Balance findet.

Sie sind nicht nur Regisseur, sondern sie produzieren auch Filme junger Filmemacherinnen und Filmemacher. Welchen Ratschlag geben sie jungen Filmschaffenden?
Mein Ratschlag ist, dass sie ihre eigene Stimme und Ausdrucksweise finden müssen. Jetzt ist die Hemmschwelle zum Filmemachen sehr niedrig: Besorge dir ein paar Schauspieler und Schauspielerinnen, ein günstiges Equipment, und schon kannst du einen Film machen. Man muss nicht einen Star wie Shu Qi haben, um einen Film zu machen. Wenn du einen Star engagierst, braucht du Bodyguards, alle Szenen müssen ständig geändert werden, man kann nicht auf offener Straße drehen oder in der U-Bahn. In Wahrheit braucht man nur eine kleine Gruppe von Leuten und kann jederzeit Filme machen. Und wenn du einen kommerziellen Film machen willst, kannst du das auch, es ist ja kein Verbrechen. Früher gab es viele technische Restriktionen, und man drehte alles auf 35mm-Film. Heute brauchst du das nicht mehr, alles ist digital. Genauso ist es mit dem Schreiben. Das ist fast noch schwieriger, als Filme zu machen. Wie verwendet man Worte als Medium? Wie erzeugt man Bedeutung zwischen den Zeilen? Das ist ausschlaggebend!

Was hat Sie zum Film gebracht? Welchen Stellenwert hatte die Literatur dabei?
Für mich ist der zentrale Wert, den ich durch die Literatur erfahren habe, die Humanität. Das ist es wahrscheinlich, was einen Autorenfilmer ausmacht: Er zeigt durch sein Werk seine persönliche Sichtweise auf die Welt. Es dauert seine Zeit, bis man als Autor eine Form findet, um sich auszudrücken.

Ich las viele Romane, als ich jung war, und sah genauso viele Filme. Lesen war mir immer sehr wichtig, weil es eine langsamere Zeitlichkeit voraussetzt. Text ist viel kraftvoller als Bild. Ich habe aber nicht deswegen so viel gelesen, weil ich Filmemacher werden wollte. Es war überhaupt keine Absicht dahinter, es war Teil meines Erwachsenwerdens, ganz anders, als das heute ist. All die jungen Leute stecken ihre Köpfe in iPhones und iPads. Vor ein paar Tagen lief The Godfather auf HBO, aber ich habe den Roman schon in meiner Schulzeit gelesen. Er hat meine Weltanschauung geprägt. Ich hätte ein Gangster werden können, wenn es nach meiner Jugenderinnerung gegangen wäre, aber als mein Vater starb, sagten die Nachbarn, er sei ein Literat und Philosoph gewesen. Ich tauchte ein in die Welt des Lesens – Robinson Crusoe und die viel weniger bekannte Fortsetzung „Die weiteren Abenteuer des Robinson Crusoe“ und all die Übersetzungen von Romanen, die ich las, als ich jung war. Ich las jede Menge Romane und studierte den Existentialismus, der damals ziemlich populär war. Lesen, Filme anschauen, die Familie und die Erfahrungen des Lebens selbst haben mich zu der Person gemacht, die ich heute bin.