Der 78. Jahrgang der Internationalen Filmfestspiele am Lido verspricht von 1. bis 11. September hochspannendes, starkes Kino pur. Eine Vorschau.
Man hat Mut beweisen am Lido. Im vergangen Jahr war Venedig aus bekannten Gründen das einzige der großen A-Filmfestivals, das trotz der Pandemie tatsächlich vor Ort und mit Publikum stattfand – kleiner zwar, mit nur halb so vielen Sitzplätzen pro Kino sowie verschärften Sicherheitsmaßnahmen. Aber immerhin. Vorfälle gab es keine, nur viele mitunter sehr starke Filme, denen in jedem «normalen» Jahr vielleicht weniger Aufmerksamkeit zugekommen wäre. Und natürlich konnte Venedig obendrein mit Nomadland auftrumpfen, dem späteren Oscar-Gewinner, mit dem Chloé Zhao nach ihrem Goldene Löwen weltweit zu einem unaufhaltsamen Siegeszug ansetzte.
Aber all das ist heute Festival-Schnee von gestern. Denn in diesem Jahr passiert wieder mehr in der Filmwelt, viel mehr sogar. Sowohl die Berlinale als auch Cannes, Locarno und Karlovy Vary fanden aufgrund coronabedingter terminlicher Verschiebungen allein in den letzten drei Monaten statt. Und auch Venedig spielt nun erneut auf, und zwar mit einem Angebot, die nicht nur Vorfreude macht, sondern regelrecht in Staunen versetzt. Unter den 21 Filmen im Wettbewerb befinden sich große und spannende neuere Namen, die das Cannes Line-up vom Juli zumindest auf dem Papier ziemlich in den Schatten stellen.
Angeführt wird das Staraufgebot zweifelsohne von Denis Villeneuves Science-Fiction-Epos Dune, über dessen starbesetzte Adaption bereits viel spekuliert wurde. Aber auch Ridley Scotts im Frankreich des Hundertjährigen Krieges angesiedeltes Historiendrama The Last Duel nach einem Drehbuch von Nicole Holofcener, Ben Affleck und Matt Damon, von denen letztere neben Adam Driver und Jodie Comer natürlich auch selbst mitspielen, verspricht ein imposantes Kinoerlebnis. Beide Produktionen laufen jedoch außer Konkurrenz, so wie auch Edgar Wrights Psychothriller Last Night in Soho, mit der großartigen Anya Taylor-Joy (The Queen’s Gambit) und Matt Smith, der im Vorfeld ebenfalls bereits hoch gehandelt wird.
Im Wettbewerb steht Jane Campion mit ihrer Netflix-Produktion The Power of the Dog ganz oben auf der Liste der Favoritinnen. In dem Drama über zwei sich befehdende Brüder im Montana der 1920er Jahre sind Benedict Cumberbatch, Jesse Plemons und Kirsten Dunst in den Hauptrollen zu sehen. Dazu präsentiert Maggie Gyllenhaal ihr Regiedebüt The Lost Daughter, in dem Olivia Colman ebenfalls einem beachtlichen Darsteller-Ensemble vorsteht, zu dem neben Dakota Johnson und Ed Harris auch Peter Sarsgaard und Alba Rohrwacher gehören. Und noch eine Frau macht in diesem Wettbewerb von sich reden: Die in England geborene, iranisch-amerikanische Regisseurin Ana Lily Amirpour, deren Erstling A Girl Walks Home Alone at Night vor sechs Jahren das Vampirfilmgenre mit einer ästhetisierten Indie-Variation völlig neu überholte. Nachdem sie mit ihrem postapokalyptischen Kannibalenmärchen The Bad Batch 2016 in Venedig den Jurypreis holte, kehrt sie nun mit dem Fantasy-Thriller Mona Lisa and the Blood Moon zurück, in dem Kate Hudson die Hauptrolle spielt, zurück.
Spannend werden dürfte auch Pablo Larraíns biografisch untermauertes Psychodrama Spencer, in dem Kristen Stewart und Jack Farthing als Diana und Charles die letzten Züge der Ehe des zu dem Zeitpunkt längst entzweiten Royal-Paares nachzeichnen, sowie Paul Schraders im Spielermilieu angelegter Rachethriller The Card Counter mit Oscar Isaac, Willem Dafoe und Tye Sheridan.
Die nötige Heiterkeit zur Abwechslung dürften dagegen die Argentinier Mariano Cohn und Gastón Duprat mit ihrer Komödie Official Competition in den diesjährigen Wettbewerb bringen, die als «scharfsinnige Satire auf die Filmindustrie» gehandelt wird und mit Penélope Cruz und Antonio Banderas ebenfalls hochkarätig besetzt ist.
Den Auftakt macht in diesem Jahr Pedro Almodóvars Parallel Mothers, in dem ebenfalls Penélope Cruz im Zentrum steht, während der Italiener Roberto Andò das Festival am 11. September mit seinem Film The Hidden Child beschließt, wenn auch außer Konkurrenz. Neben einer auffällig starken Präsenz des aktuellen italienischen Kinos insgesamt, das von Paolo Sorrentinos The Hand of God und dem düsteren Thriller America Latino der Zwillingsbrüder Damiano und Fabio D’Innocenzo über Il Buco von Michelangelo Frammartino bis hin zu dem historischen Fantasy-Drama Freaks Out von Gabriele Mainetti reicht, ist auch Frankreich mit Stéphane Brizés Drama Un autre monde sowie der Romanverfilmung Lost Illusions von Xavier Giannolis und L’Evenement von Audrey Diwan überraschend stark vertreten.
Zu den weniger prominenten, aber nicht minder vielversprechenden Namen gehört in diesem 78. Jahrgang der aus Venezuela stammende Regisseur Lorenzo Vigas, dessen Debütfilm From Afar 2015 den Hauptpreis am Lido holte und der im vergangenen Jahr den Gewinner des Silbernen Löwen, New Order, von seinem mexikanischen Kollegen Michel Franco mitproduzierte. Sein zweiter Spielfilm The Box konkurriert diesmal mit Franco, der sein neues Drama Sundown vorstellt, in dem Tim Roth einen reichen Briten spielt, der in Acapulco vor seiner Familie (inklusive Charlotte Gainsbourg als Schwester), der Realität und dem eigenen Leben zu flüchten versucht. Aus Polen kommt Jan P. Matuszyskis Leave No Traces, während Russland mit Captain Volkonogov Escaped von dem Regieduo Natasha Merkulova und Aleksey Chupov um den Goldenen Löwen konkurriert, ebenso wie der aus der Ukraine stammende Valentin Vasyanovych, der in Reflection die Verwüstung des Krieges zwischen der Ukraine und Russland thematisiert.
Im dokumentarische Bereich sei vor allem auf die Fortsetzung der Life of Crime-Serie des legendärer Dokumentaristen Jon Alpert hingewiesen, der in seiner Langzeitbeobachtung des Alltags von zwei Kriminellen vielleicht den wirksamsten Thriller über Gewalt, Prostitution und Drogen gedreht hat. Zudem werden mit Hallelujah: Leonard Cohen, A Journey, A Song von Daniel Geller und Dayna Goldfine sowie Ennio von Giuseppe Tornatore, in dem der Cinema Paradiso-Regisseur seinen langjährigen Freund und Kollaborateur Ennio Morricone ehrt, zudem zwei herausragende Musikerpersönlichkeiten in den Mittelpunkt der Filmfestlichkeiten am Lido gerückt.
Am ehesten zu sehen bekommt man von dem insgesamt hochspannenden Filmprogram in Venedig hierzulande jedoch eine Serie: Scenes from a Marriage, in dem Jessica Chastain und Oscar Isaac Ingmar Bergmans schwedischen Klassiker aus den Siebzigern fürs HBO in fünf Teilen neu interpretieren, wird bereits am 13. September, wenige Tage nach der Premiere am Lido, über Sky auch auf den heimischen Bildschirmen ausgestrahlt, während Dune (Starttermin 17. September) als erstes Großereignis im Kino Einzug hält, dicht gefolgt von David Gordon Greens Halloween Kills, der anlässlich eines Ehrenpreises für Jamie Lee Curtis am Lido gezeigt wird, und Scotts The Last Duel, die derzeit beide für einen Kinostart Mitte Oktober vorgesehen sind