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Ennio Morricone

Interview

„Immer ein bisschen angeben“

| Marc Hairapetian |
Ennio Morricone im Gespräch

500 Filmmusiken in 52 Jahren, dazu kommen noch hunderte andere Kompostionen: Ennio Morricone, geboren 1928 im römischen Stadtteil Trastevere, ist eine lebende Legende. Am 16. Februar spielt der Maestro live mit Orchester in der Wiener Stadthalle. Im Gespräch blickt der ungebrochen vitale Bach-Liebhaber, der nicht immer nur über Italo-Western reden möchte, auf die Aufs und Abs seiner Karriere und auf eine filmmusikalische Sensation, die nicht zustande kam.

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Ich will nicht mit Ihren Scores zu Italo-Western starten, sondern mit dem „Clan der Sizilianer“, den viele Filmmusik-Liebhaber für Ihre beste Arbeit halten. Der Regisseur Henri Verneuil war Armenier. Und die Armenier in der Diaspora lieben diese Musik, obwohl oder gerade weil sie sehr italienisch ist. Mein armenischer Vater sagte einmal: „Da steckt das ganze Leben drin. Der Soundtrack ist cool, melancholisch, sexy und würdevoll zugleich, und klingt so als würde man mit geradem Rücken durchs Leben gehen.“ Welche Erinnerung haben Sie an Verneuil und den „Clan der Sizilianer?
Das hat Ihr Vater sehr schön gesagt. Mille Grazie! Natürlich kann ich mich an Henri Verneuil und an den Film gut erinnern. Henri war einer der ersten Regisseure, der eng mit mir zusammen arbeiten wollte. Er war ein sehr sympathischer Mann, der mir viele Komplimente machte und mir sehr half, meine ersten Unsicherheiten als Filmkomponist zu überwinden. Es war nach dem einzigen französischen „Italo“-Western (Die Hölle von) San Sebastian unser zweiter Film … Jetzt habe ich selbst angefangen, über Western zu sprechen! Verneuil war ein Meister des spannungsgeladenen Unterhaltungsfilms mit inhaltlicher Tiefe. Später haben wir noch bei Der Coup, Angst über der Stadt und bei meinem Lieblings-Politthriller I wie Ikarus intensiv zusammengearbeitet.

Der Clan der Sizilianer war 1969 eine ziemlich mühselige Arbeit. Jedes Mal, wenn ich für einen Film arbeite, versuche ich auch immer Elemente einzubauen, die mich selbst interessieren. Ich erzähle Ihnen etwas, was ich noch nie erzählt habe: Der Clan der Sizilianer basiert auf Johann Sebastian Bachs „Präludium für Orgel in a-Moll“ sowie seiner Neunten. Seine Klavierübungsstücke für Schüler nannte er nicht unbescheiden Sinfonien. Im Grund besteht das Hauptmotiv von Der Clan der Sizilianer nur aus diesen vier Tönen (singt sie vor). Im Grunde hört es sich einfach an, aber allein das hat mich über einen Monat Arbeit gekostet. Darüber legte ich ein sizilianisches Motiv. Ich liess zwei Melodien gegeneinander ankämpfen, weil der von Jean Gabin in der Rolle des Vittorio Manalese angeführte „Clan der Sizilianer“ erst mit dem von Alain Delon verkörperten französischen Banditen Roger Sartet kooperiert, um nach erfolgreichem Juwelenraub mit ihm aneinander zu geraten. Doch wissen Sie, was den Soundtrack bis heute zu einem meiner erfolgreichsten macht, so dass er sogar von John Zorn und jungen Leuten aus der Club-Kultur mehrfach gecovert wurde?

Vielleicht die Verwendung von für einen orchestralen Score untypischen Geräuschen wie Pfeifen oder Instrumenten wie Maultrommel und E-Gitarre?
Richtig! Gerade die geradezu stoisch eingesetzte Maultrommel verleiht dem Soundtrack etwas Lässiges, dass durch das E-Gitarren-Riff unterstützt wird. Ich setzte auch einen Synthesizer bei der Szene ein, in der sich Alain Delon am Strand des sizilianischen Anwesens raubtierartig auf die sich in der Sonne rekelnde, nackte Irina Demick stürzt, die hier mit einem der Söhne Gabins verheiratet ist. Somit wird das Unheil heraufbeschworen – und das wollte ich mit einer explosiven, erotisch aufgeheizten Musik unterstreichen. Nicht nur in Frankreich, sondern auch in den USA und vor allem in Deutschland brach der Film Kassenrekorde, und das Soundtrack-Album verkaufte sich ebenfalls hervorragend.

Und was macht Ihre Musik so universell?
Vielleicht, dass sich verschiedene Elemente harmonisch ergänzen oder aber auch konterkarieren. Die zumeist elegischen Streicher sprechen jung und alt an wie der unvermutete Einsatz von Chören oder der opernartige Gesang von Edda Dell‘Orso. Dadurch, dass ich auch häufiger Schlagzeug verwende, sind viele Stücke sehr tanzbar. Ich liebe einfach Musik, und damit meine ich nicht nur meine eigene, sondern auch die der anderen. Ich bin wirklich stolz, dass ich Freunde meiner Musik aus allen fünf Kontinenten habe.

Stimmt es, dass Sergio Leone Sie bereits nach der Drehbuchlektüre Ihre Musik komponieren liess und den Soundtrack dann am Set vorspielte, um die Schauspieler in die richtige Stimmung zu versetzen?
Mit Sergio habe ich lange experimentiert, bereits den Soundtrack zu finden, während der Film noch in der Entstehung war. Vor allem bei Spiel mir das Lied vom Tod haben wir das so gemacht und den Schauspielern die Musik beim Dreh vom Tonband in Orchesterlautstärke vorgespielt. Das erklärt vielleicht auch, warum Charles Bronson, der sich an dem von Henry Fonda gespielten Mörder seines Bruders rächen will, manchmal wie hypnotisiert durch die Szenerie wandelt. Er war betört, ja, fast zugedröhnt von der Musik, diesem absichtlich etwas schiefen Mundharmonika-Spiel und der sägenden E-Gitarre! Diese Methode habe ich danach auch mit anderen Regisseuren weiter ausgeführt. Normalerweise wird die Musik zum Sound-Design erst dazu gemischt, wenn der Feinschnitt nach dem Rohschnitt einsetzt. Man kann da nicht wirklich die Stimmung des Films wiedergeben, denn vielleicht hat der Regisseur zuvor eine ganz andere Musik im Kopf gehabt. Als Komponist ist es mir wichtig, im Entstehungsprozess eingebunden zu werden. Wichtig ist, dass der Regisseur auch die Musik versteht, weil das Endresultat sonst eine zu große Überraschung für ihn darstellt. Auch das Tempo eines Stücks ist enorm wichtig. Allein eine Musik von nur 20 Sekunden kann enorm viel bewirken. Wenn man die Musik vorher hört, kann man gewisse Szenen etwas länger oder kürzer drehen. Die Musik bringt etwas zum Ausdruck, was im Film normaler Weise nicht zu sehen oder hören ist. Deswegen hat mich Sergio Leone auch immer als seinen musikalischen Drehbuchautor bezeichnet. Sehr schmeichelhaft für mich.

Sie haben insgesamt 500 Soundtracks für Kino- und TV-Filme komponiert. Kommt man durch den Druck nicht auch in die Versuchung, sich selbst zu recyceln? Woher stammt Ihre Inspiration?
Ich schaue immer nach vorne, lerne von einer Erfahrung zur nächsten und versuche, mich nie zu sehr zu wiederholen. Das gilt nicht für mich, sondern für alle Größen des Kinos und der Musik. Bach und auch Anton Webern, der Schöpfer der atonalen Musik, sind immer eine große Quelle der Inspiration für mich gewesen. Durch Webern kam bei aller Melodiösität meiner Musik auch das etwas sperrige und außergewöhnliche Element in meine Soundtracks. Vielleicht macht diese Kombination meinen Erfolg aus, weil meine Musik nicht zu poliert auf Wohlklang getrimmt ist, sondern auch Ecken und Kanten hat. Im Grunde gibt es bei jedem wirklich guten Komponisten dieses unverwechselbare Etwas, das wie ein Stempelabdruck erkennbar ist.

Sprechen wir über Ihren bevorstehenden Auftritt. Aus Ihrem gigantischen Gesamtwerk könnten Sie ja praktisch wochenlang vorspielen. Wie ist ausgerechnet diese Auswahl entstanden?
Die Auswahl besteht aus einer Mischung, bei der ich einerseits weiß, was dem Publikum gefällt, aber anderseits auch das spielen will, was mir gefällt und was ich dem Publikum näher bringen will. Ich liebe Beethoven, der sehr kraftvoll und freigeistig komponierte. Es betrübt mich etwas, dass man mich hierzulande fast nur nach Sergio Leone und Italo-Western befragt, dabei machen diese Soundtracks nur acht Prozent meines Schaffens aus. Ich habe viel mehr Filmmusiken komponiert für große und wichtige Regisseure wie Gillo Pontecorvo oder Giuliano Montaldo, die hier bei Ihnen vielleicht nicht so bekannt sind. Auch die sogenannte Musica Assoluta, die absolute Musik, die ich jenseits der Soundtracks komponiert habe, liegt mir sehr am Herzen. Ich habe ebenfalls 500 von diesen Musiken komponiert. Für die Deutsche Grammophon machte ich Aufnahmen avantgardistischer Musik, die viele gar nicht kennen. Da bietet sich bei den Konzerten die Gelegenheit, neben Hits wie Für ein paar Dollar mehr, Zwei glorreiche Halunken, Es war einmal in Amerika, Mission, Cinema Paradiso oder Die Unbestechlichen, wo das Al-Capone-Thema mit gestopfter Trompete gespielt wird, auch diese eher unbekannten Stücke zu spielen.

Sie sind in diesem Jahr 85 geworden und seit nunmehr 52 Jahren im Filmgeschäft. Wie viel hat sich für Sie verändert bei der Umstellung von analoger auf digitale Technik?
Ich habe diesen Prozess fast vorausgesehen, bevor er stattgefunden hat. Bei meinem alten Magnetofon konnte man nur acht Spuren bei einer Bandbreite von 1 Zoll aufnehmen. Ich wollte aber 24 Spuren haben, indem ich drei mal acht Spuren jeweils getrennt aufnahm. Die Regisseure waren beim Hören von jeweils acht Spuren verwirrt, bevor sie den Endmix hörten: „Deine Musik ist ja gar nicht fertig!“ Da die Regisseure keine Komponisten waren, konnten sie sich nicht vorstellen, wie die fertige Musik klingen würde. Diese Probleme gibt es nicht mehr, denn heute kann man digital alles machen. Für Giuseppe Tornatores neuen Film The Best Offer habe ich allerdings wieder getrickst. Ich ließ alle Instrumente einzeln aufnehmen, ohne dass ein Musiker wusste, was der andere gespielt hatte. Der Endmix sollte dadurch etwas Unberechenbares haben. Das hat nicht nur Tornatore gefallen, sondern auch den Mitgliedern der Europäischen Filmakademie, die mir in diesem Jahr den Preis für die beste Musik verliehen.

Gehen Sie eigentlich mit dem gleichen Ehrgeiz an einen Soundtrack heran, wenn Ihnen ein Nachwuchsregisseur nur ein geringes Honorar bieten kann? Sind Sie da noch Idealist?
Es ist nie vom Geld abhängig. Mein Job war und ist immer an der Seite des Orchesters. Das war schon so, als ich als Theater- und Rundfunkkomponist begann und danach für das Fernsehen arbeitete oder Popsangs schrieb. Für mich ist die Herausforderung, ob ich bei einem Film musikalisch etwas zu sagen habe und mich stets verbessern kann. Natürlich wollte und will ich Geld verdienen. Ich habe mich auch immer bezahlen lassen, mal mehr, mal weniger. Aber der Hauptgrund ist die Liebe, die ich für die Musik habe. Deswegen komponiere ich heute noch im fortgeschrittenen Alter. Wird mir viel Zeit gegeben, nehme ich sie mir. Wird mir nur wenig Zeit gelassen, arbeite ich schneller. Dann arbeite ich ganze Nächte durch, um das gewünschte Resultat zu erzielen.

Die meisten Regisseure beten Sie an. Gibt es auch einen, der Ihnen das Leben schwer gemacht hat?
Obwohl ich für Bernardo Bertolucci bereits 1964 für Vor der Revolution und 1968 für die Dostojewski-Apaption Partne“ die Partituren schrieb, hörte er sich 1976 im Vorfeld von 1900 bei Kollegen um, ob ich wirklich ein so guter Komponist wäre. Na, immerhin hat er mich doch noch engagiert.

Was war Ihre größte Enttäuschung?
Leider konnte 1966 aus vertragsrechtlichen Gründen meine Musik zu Die Bibel nicht verwendet werden, so dass der begabte, all zu früh verstorbene Mayuzumi Toshiro kurzfristig einspringen musste. Eine kleine Genugtuung war es für mich, dass ich 30 Jahre später gleich für mehrere TV-Filme Episoden aus dem Alten und Neuen Testament vertonen durfte.

Hat es Sie nicht aus nicht ein bisschen verärgert, dass Ihre wohl berühmtesten und besten Soundtracks wie „Zwei glorreiche Halunken“, „Spiel mir das Lied vom Tod“, „Die gefürchteten Zwei“ („Il Mercenario“) und „Der Clan der Sizilaner“ keine Preise erhalten haben und Sie bei bisher fünf Nominierungen als bester Komponist 2007 „nur“ einen Ehren-Oscar entgegen nehmen durften?
In den sechziger und siebziger Jahren waren Italo-Western und französische Gangsterfilme zwar international erfolgreich, wurden aber von der Filmkritik und den Auswahlgremien für Preisvergaben als Genre-Filme abgetan und deswegen nicht berücksichtigt. In Hollywood erhielt ich meine erste Oscar-Nominierung immerhin schon 1979 für Terrence Malicks Days of Heaven, den ersten Preis in meiner Heimat gewann ich hingegen erst 1988 für Giuliano Montaldos Brille mit Goldrand.

Wen oder was vermissen Sie?
Vor allem Bruno Nicolai, der bis zu seinem Tod 1991 viele meiner Soundtracks dirigiert hat und selbst ein wundervoller Komponist war.

Gibt es einen Ort, an dem Sie besonders gut komponieren können?
Schlicht und ergreifend bei mir zuhause. Aber manchmal kommen mir die besten Ideen beim Autofahren. Dann parke ich schnell irgendwo und mache mir Notizen.

Haben Sie einen Tipp für junge Filmkomponisten?
Es gibt einen Tipp: Im Grunde lernen, ganz viel lernen bei guten Komponisten und immer selbst ein bisschen angeben. Damit holt man sich das Selbstbewusstsein, um protzige, richtig starke Musik, zu komponieren.

Mit welchen Regisseuren hätten Sie gerne zusammengearbeitet oder würden es noch tun?
Normaler Weise beantworte ich diese Frage nicht, weil ich immer soviel Arbeit hatte, dass ich nie dazu gekommen bin, mir etwas zu wünschen, doch es gibt eine Sache im Leben, die mir passiert oder besser gesagt nicht passiert ist, und das finde ich bis heute noch schade: Stanley Kubrick rief mich Anfang der siebziger Jahre an, ob ich die Musik zu Uhrwerk Orange schreiben könnte. Am Telefon waren wir uns über alles einig, sogar über das Geld. Doch Kubrick, der aus London angerufen hatte, wollte aus Flugangst nicht nach Rom reisen. So habe habe ich allein in Rom angefangen, an der Musik zu schreiben. Irgendwann hat Kubrick bei Sergio Leone angerufen und gefragt, ob ich eigentlich mit dem Job bei ihm zufrieden wäre. Und Leone antwortete: „Ja, ist er, auch wenn er derzeit viel um die Ohren hat. Parallel arbeitet er doch gerade an meinem Score zu Todesmelodie.“ Daraufhin hat Kubrick leider nie wieder bei mir angerufen. Er drehte nur alle drei bis fünf Jahre einen Film, ich hingegen schrieb zu dem Zeitpunkt jährlich 15 Soundtracks. Gerne hätte ich für den besten Regisseur aller Zeiten zum besten Film aller Zeiten komponiert. Uhrwerk Orange ist, wie Luis Buñuel gesagt hat, der einzig wahre Film über die moderne Zeit. Ein Plädoyer für die Willensfreiheit des Menschen, der selbst entscheiden soll, ob er gut und böse handelt. Ich hatte sehr gute Ideen für das Opening mit Anti-Held Alex De Large und seinen drei Droogies in der Korova-Milchbar, doch ich muss neidlos anerkennen, das Walter Carlos mit seinen wuchtig-hypnotischen Synthesizer-Klängen, die auf Henry Purcells Begräbnismusik für Königin Mary basieren, den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Besser hätte ich es auch nicht machen können!

 

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