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Interview Vitali Manski

Ein sehr schmerzhafter Film

| Ruslana Berndl |

Der ukrainische Dokumentarfilmer Vitali Manski war beim Crossing Europe Filmfestival in Linz zu Gast, wo er für seinen Film „Close Relations“ den Preis für den besten Dokumentarfilm erhielt. Ein Gespräch über seine Arbeit, über Propaganda, die Vorzüge von 16mm-Film und über Politik.

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Vitali Manski wurde 1963 in Lwiw in der heutigen Ukraine geboren. Er studierte Film am Staatlichen Institut für Kinematografie WGIK in Moskau. Mit seinen mehr als 30 Filmen gewann er zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem eine Silberne Taube beim Festival DOK Leipzig und den Preis für den besten Dokumentarfilm beim Internationalen Filmfestival in Karlovy Vary. Außerdem ist er als Produzent tätig, u. a. bei Filmen von Alexander Rastorgujew und Sergei Loznitsa. Seit 1996 sammelt Manski im Rahmen eines groß angelegten Archivprojekts Amateuraufnahmen aus der ehemaligen Sowjetunion. Zweck des Archivs ist es, das audiovisuelle Gedächtnis des privaten Lebens in der UdSSR zu bewahren. Zu seinen eigenen Filmen zählen u.a. Jewish Happiness (1991), Broadway. Black Sea (2002), Gagarin’s Pioneers (2005), Motherland or Death (2011) Pipeline (2013) und Under the Sun (2015).

 

Gleich am Anfang von „Close Relations“ sagen Sie: „Ich hätte niemals gedacht, dass ich diesen Film drehen werde“. Wie ist das Projekt entstanden?

Mit der Empfindung der heranrückenden Katastrophe. Und meine vorauseilenden Empfindungen waren stärker als die dann entstandene Realität. Kann man die Katastrophe messen? Vielleicht kann man einen Sturm messen: die erste Welle, die zweite, dritte, zehnte und so weiter. Und wenn nur wenn ein Mensch in dem Sturm stirbt, dann ist es schon eine Tragödie. Mit anderen Worten: Es gab das Empfinden des beginnenden Krieges. Alle diese Gefühle, Ängste, Befürchtungen haben sich zu einem Gefühl verdichtet, diesen Film drehen zu müssen, obwohl gar nicht abzusehen war, wie sich die Dinge entwickeln würden, vor allem nach der Annexion der Krim. Noch eine Bemerkung: Als die Unruhen auf dem Maidan im Gange waren,  sind sehr viele Leute mit Kamera zum Maidan gefahren, um diese Revolution zu filmen.

 

Waren Sie auch dort?

Es erschien mir nicht notwendig, dorthin zu fahren. Sergej Loznitsa filmte dort, auch die jungen Filmemacher, ich nicht. Natürlich fieberte ich mit Kiew, mit der Ukraine mit, aber ich dachte, dass sollte ich den Menschen, die in der Ukraine leben, überlassen, weil sie es bestimmt gut filmen würden. Ich hatte nicht das Gefühl, dass meine Stimme fehlt. Erst als der Rat der Russischen Föderation plötzlich eine Extrasitzung einberufen hat, und eine einzige Frage zur Abstimmung kam, nämlich das Recht des Oberbefehlshabers, russische Truppen in andere Staaten schicken zu dürfen, wurde klar, worum es sich handelt. Das hat in mir die Überzeugung geweckt, ich müsse jetzt meine Stimme erheben. Ich verstand natürlich, dass ich Mitglied einer russischsprachigen ukrainischen Familie bin, die in die ukrainische Gesellschaft integriert ist, aber auch, dass ich Familienmitglieder habe, die die pro-russischen Position vertreten.

 

Haben Sie mit Ihren Verwandten schon vor dem Film kommuniziert?

Nur bedingt, vor allem natürlich, wenn ich nach Lwiw komme.

 

Stimmt es, dass Sie anlässlich des Filme erstmals Ihre Verwandten in Donbass getroffen haben?

Ja, mit Mischa, dem Großvater meines Schwagers, war es das erste Treffen. Walentina kannte ich, wir haben uns kurz getroffen, als ich in Odessa beim Filmfestival war. Wir wussten, dass es eine solche Verwandtschaft gibt, und natürlich gibt es in jeder Familie widersprüchliche Ansichten, zum Thema Fußball zum Beispiel. Aber wenn die Menschen zu sterben beginnen, im Kessel von Ilowajsk tausende Menschen ermordet werden, ist es Zeit, solche Widersprüche anzupacken. Aber ich muss natürlich auch zugeben, dass niemand diesen Film bestellt hatte und niemand darauf wartete. Gerade zu dem Zeitpunkt traf es sich, dass das Kulturministerium die Entscheidung treffen wollte, welche Filme im nächsten Jahr finanziert würden. Das war reiner Zufall. Wir haben gleich die Einreichung gemacht und haben den öffentlichen Wettbewerb gewonnen.

 

Wie kam das?

Wir hatten eine sehr starke Einreichung, und ich habe immerhin auch einen gewissen Status als Filmemacher. Das Protokoll des Wettbewerbs wurde publiziert, dann war es plötzlich verschwunden. Wir sich später herausgestellt hat, wollte das Ministerium die Kommission, die die Entscheidung getroffen hat, überreden, ihr Votum zu ändern. Aber sie haben keine Mehrheit gefunden, das heißt, die Entscheidung blieb aufrecht. Dann gab der Kulturminister eine seltsame Erklärung ab: Die Situation in der Ukraine sei unklar, und man wolle „die Gesundheit unseres verehrten Regisseurs nicht riskieren“. Es wurde nicht so deutlich gesagt, aber es kam so rüber. Danach habe ich gesagt, das sei eine Lüge. Wenig später hieß es, dass keine Projekte von mir mehr finanziert werden. Das betrifft mich nicht nur als Regisseur, ich bin ja auch Produzent und Direktor eines unabhängigen Filmfestivals namens Artdocfest, das von den Mächtigen nicht geliebt wird. Und ich betreue auch einen nationalen Filmpreis für dokumentarisches Kino. Da ich jetzt Persona non grata bin, blieb dieser Preis jetzt auch ohne Finanzierung. Alle meine Projekte wurden von der Finanzierung ausgeschlossen. Darunter auch Close Relations. Ohne einen Groschen Finanzierung haben wir begonnen, dien Film mit eigenem Geld zu drehen, meine Frau Natascha und ich.

 

Das war im Jahr 2014.

Ja, und die Ironie des Schicksals war: Beim Baltic Sea Forum in Riga gab es ein Pitching, bei dem wir das Projekt präsentiert haben. Dort haben wir drei Partner gefunden! Schlussendlich wurde der Film eine ziemlich große Ko-Produktion.

 

In dem Film sagt eine Ihrer Verwandten, dass der Krieg in ein paar Monaten enden werde. Haben Sie damals sich vorstellen können, dass dieser Krieg so lang anhalten wird?

Ja, ich habe es vorausgesehen, beziehungsweise ich dachte, dass diese Phase, in der wir uns befinden, keine Abkehr von der militärischen Eskalation bringen wird. Übrigens vermute ich gerade jetzt, dass der Krieg in die heißeste Phase zurückkehren wird, besonders wenn man bedenkt, dass 2018 Wahlen in Russland sind.

 

Der Film ist sehr universell, obwohl es eine sehr intime Familiengeschichte ist. Andererseits ist er auch sehr ukrainisch, weil die Situation in vielen ukrainischen Familien sehr ähnlich ist.

Ja. Die Einzigartigkeit des Films liegt in seiner Nichteinzigartigkeit.

 

Würden Sie sagen, dass das ein sehr ukrainischer Film ist?

Ich würde das nicht gerne sagen, denn sonst heißt das, dass er für ein russisches Publikum z.B. nicht relevant sei. Ich würde es vorziehen zu sagen, dass es ein ehrlicher Film ist, in dem die ganze Palette der in der Ukraine existierenden Positionen dargestellt ist – außer vielleicht eine radikale nationalistische Komponente, die es ja in der Ukraine auch gibt. Aber sie ist nicht sehr häufig. Und als jemand, der 18 Jahre in Lwiw gelebt hat, kann ich das mit Bestimmtheit sagen. Klar, radikalen Nationalismus gibt es überall. Aber in meiner Familie gibt es solche Vertreter nicht. Wenn es in meiner Familie solche Menschen gäbe, sogar entfernte Verwandte, dann hätte ich sie in den Film genommen. Ich denke, meine Familie ist repräsentativ für das Verständnis der ukrainischen Gesellschaft. Und in diesem Sinn ist meine Familie sehr vorbildlich, sie ist nicht einzigartig, solche Familien gibt es viele. Leute, die den Film gesehen haben, sowohl in der Ukraine als auch im Ausland, sagen, dass sie das so verstanden haben, obwohl ihnen die Menschen im Film fremd sind und sie niemanden kennen. Ich glaube, in der Mehrheit der Familien gibt es solche Konfliktlinien.

 

Für die Ukrainer ist es ein Film darüber, wer in den Krieg verstrickt ist, und für die Russen ist es ganz anderer Film, und für die Menschen hier noch einmal ein ganz anderer. Auf jeden Fall ist es ein sehr schmerzhafter Film.

Ja, es ging mir nicht um schöne Worte. Ich bin sehr erstaunt, welche Aufmerksamkeit dieser Film genießt. Wir vermuteten, es werden so um die fünf Festivaleinladungen kommen. Doch er wird in so vielen Ländern der Welt immer und immer wieder gezeigt. Er war schon in Kanada, in Norwegen, Italien, Österreich, usw.

 

In welchen Ländern ist der Film im Verleih?

Im Verleih ist er in allen Ländern, die ihn produziert haben:  Deutschland, Ukraine, Lettland, Estland. Jetzt versuchen wir, den Film in Russland in den Verleih zu bringen. Wir bezweifeln zwar, das wir eine Verleiherlaubnis für den Film bekommen. Aber es gibt eine Firma, die sagt, sie würden sie bekommen. Wir warten auf die Lösung dieser Frage. Bis jetzt befindet sich der Film auf den Tischen der Beamten des Kulturministeriums.

 

Erklären Sie doch bitte kurz, was eine Verleihbescheinigung ist.

Die Verleihbescheinigung ist die staatliche Zensurbescheinigung, der Pass. Ohne Pass kann man den Film nirgends vorführen. Und wenn man ihn ohne diesen Pass vorführt, wird man bestraft: derjenige, der den Film gezeigt hat, und der Besitzer des Saales, in dem der Film vorgeführt wurde. Obwohl in der Verfassung der Russischen Föderation Zensur untersagt ist, gibt es sie. Das Artdocfest wurde zur Verantwortung gezogen, genauer gesagt: nicht das Festival, sondern das Kino, das die Filme vorführte. Es ging um sieben Filme im Bezirksgericht Chamowniki. Gerade im Gericht von Chamowniki gab es Präzedenzfälle wie Pussy Riot. Das ist nicht mehr Kafka, es ist Beckett. Das war im Jahr 2015.

 

Kommen wir zu Ihrer Tante Natascha, die in Lwiw gewohnt hat. Sie hat eine sehr eigenwillige Wahrnehmung. Woher kommt das?

Natascha positioniert sich durch ihren Vater. Sie sagt: Mein Vater ist Russe, also bin ich Russin. Ihr Vater, mein Großonkel Zhenja, war wirklich sowjetischer Offizier und aus dem Wologda-Gebiet. Er blieb nach dem Krieg in der Garnison von Vilnius, und sie ist in Vilnius geboren. In der mütterlichen Linie aber gab es kein russisches Blut, sondern polnisch-litauisches. Es ist wie bei der dummen Frage an ein Kind: Wen liebst du mehr, Mutter oder Vater? In ihrer Argumentation berücksichtigt sie die Mutter überhaupt nicht: Ich bin Russin, weil mein Vater Russe ist. Jeder hat das Recht, sich zu positionieren, wie er möchte, aber ich denke, dass sie versucht, die äußeren Umstände an eine ihr wichtige Konstruktion anzupassen.

 

Es ist auch nicht so einfach, die Widersprüche zwischen dem Westen und Osten der Ukraine zu erklären.

Wir kommen nach Österreich, und für uns ist Österreich Österreich. Und dann stellt sich heraus, es gibt Traditionen, die man nur als Tiroler und in Zusammenhang mit Tirol verstehen kann. Bis man es nicht selber gesehen oder es einem jemand erzählt, kann man nicht verstehen, dass es zwischen einem und einem anderen Teil Österreichs irgendwelche Unterschiede gibt.

 

Wie würden sie in ein Paar Sätzen die Widersprüche zwischen dem Osten und dem Westen erklären?

Die Ukraine befindet sich zwischen zwei mächtigen energetischen Feldern. Zwischen dem russischen Imperium und der europäischen Zivilisation. Entsprechend sind jene Territorien, die der europäischen Zivilisation näher liegen, diesen energetischen Feldern ergeben. Und die dem russischen Imperium näher sind, den dortigen. Es ist ziemlich klar.

 

Würden Sie mit mir übereinstimmen, dass das Problem der Sprache ein künstlich geschaffenes ist?

Tja, wir unterhalten uns jetzt auf Russisch, und Sie können ganz ruhig mit mir Russisch sprechen. Wenn Sie in Donbass Russisch reden und nicht Ukrainisch, dann ist es erst recht komfortabel. Ich möchte anmerken, dass ich die Handlungen der Ukraine nicht zu hundert Prozent unterstütze und die Handlungen Russlands nicht zu hundert Prozent kritisiere. Ich finde, dass das Thema Sprache keine kleine Rolle spielt. Nach Maidan hat sich ja Andrij Parubij, der kein Politiker, sondern ein Mensch von der Straße war, auf dem Höhepunkt der politischen Euphorie im berauschten Zustand für das obligatorische Ukrainisch eingesetzt. Das Gesetz war auch für Donbass obligatorisch. Natürlich hat die russische Propaganda das ausgenützt, um die Menschen zu erschrecken. Das waren aber keine abstrakten Ängste, sondern durch dieses Gesetz begründet. Das hat den Anstoß gegeben für die Abstimmung zur Abspaltung von der Ukraine. Man hat damit Öl ins Feuer gegossen. Natürlich hat niemand von den russischen Propagandisten erwähnt, dass dieses Gesetz nur eine Woche in Kraft war. Es haben sich kluge Menschen gefunden, die verstanden haben, dass es falsch ist. Also wurde es aufgehoben. Aber selbst wenn es nur kurze Zeit in Kraft war, hat es natürlich provoziert. Ich denke, dass das Gesetz Hunderte Menschenleben gekostet hat.

 

Im Laufe des Films führen alle Verwandten fast ausschließlich Gespräche über Politik. Gab es auch andere Gespräche, oder wurden sie während der Montage weggeschnitten?

Ich würde nicht sagen, dass sie über die Politik reden. Die Verwandten reden über das Leben. (Denkt länger nach.) Nein. Sie reden über angewandte Politik und nicht über politische Konstruktionen, im Sinne von: Soll man zu Wahlen gehen oder nicht, entscheidet meine Stimme oder nicht. Ich denke, dass die Gespräche sich nicht so sehr um Politik drehen, sondern um das Verständnis der aktuellen Ereignisse. Wenn sie über Politik reden, dann mehr in einem humanistischen Sinn: wie sie die Zukunft des Landes sehen, wie sich die Vergangenheit des Landes darstellt. Es ist mehr eine humanistische Auffassung als eine politische, weil es in der Ukraine ein aktives politisches Leben gibt, zum Unterschied übrigens von Russland, wo es einen Steuermann gibt und wo alles vorhersehbar ist. In der Ukraine gibt es Parteien, Medien, Diskussionen. Alles kocht. Niemand von den Protagonisten meines Films redet über das politische Leben im buchstäblichen Sinne.

 

Viele referieren das, was sie im Fernsehen sehen, wie z.B. Onkel Mischa.

Onkel Mischa ist ziemlich lustig, weil er absurde Sachen sagt und sie für seine eigenen ausgibt. Im Prinzip auch die Verwandten in Lwiw, auch sie wiederholen teilweise das, was sie im Fernsehen sehen. Das Problem ist, dass das Fernsehen die Wahrheit sagen, die Halbwahrheit sagen oder auch richtig lügen kann. Ich würde nicht sagen, dass das ukrainische Fernsehen die absolute Wahrheit sagt, aber die Bandbreite seiner Einblicke ist wesentlich höher als die des russischen Fernsehens. Natascha und ich sahen eine ukrainische Sendung aus Riga, in der der Korrespondent an den Ministerpräsident der Ukraine herankommt und beginnt, ihm direkt Fragen zu stellen. Über die teure Drei-Zimmer-Wohnung, die er für seine Schwiegermutter gekauft hat. Ein Bodyguard will den Korrespondenten wegdrängen, aber der Ministerpräsident sagt, er soll ihn gewähren lassen. Und dann sagt er: Wenn Sie es vollständig zeigen und nichts rausschneiden, dann werde ich antworten. Sich vorzustellen, dass der Ministerpräsident Russlands zu jemandem sagt: Ihr schneidet mich nicht, dann antworte ich, das ist völlig absurd: Erstens wird niemand an ihn herankommen, und wenn doch, wird der Ministerpräsident nicht mit den Journalisten reden. Das sind die Dinge, in denen sich die beiden Länder total unterscheiden.

 

Mich würde Ihre politische Ansicht interessieren: Finden Sie, dass die Ukraine von Europa im Stich gelassen wurde?

Ich verstehe, dass die Interessen der europäischen Länder für sie wichtiger sind als die der Ukraine. Und leider verstehen sie nicht, dass die Interessen der Ukraine die Interessen Europas sind. Das billigere Gas aus Russland verhindert härtere Sanktionen gegen Russland, das ist klar. Ganz banal gesprochen: Das Hemd ist ihnen näher als der Rock, also die Heizung in den Häusern der eigenen Wähler oder die Interessen ihrer eigenen Firmen. Würde man auf das Gas verzichten, könnte man einen harten Boykott Russlands forcieren, weil dieses Land der Aggressor ist, das Land, das den Krieg entfesselt hat. Hätte man einen prinzipienfesteren Standpunkt, wäre der Krieg vielleicht schon aus. Aber die taktischen politischen Manöver sorgen dafür, dass der Krieg fortgesetzt wird.

 

Zur Zeit der Sowjetunion war es sehr kompliziert, Informationen zu bekommen. Jetzt gibt es Informationen im Überfluss, aber mir scheint die Lage noch komplizierter zu sein, weil es soviel Fake- und Propagandainformationen gibt. Wie kann ein gewöhnlicher Bürger die wahren Informationen herausfiltern, wenn die Propaganda so gut funktioniert?

In Russland ist das unmöglich. Ich denke nicht, dass der durchschnittliche Russe der massiven propagandistischen Bombardierung Widerstand leisten kann. Es ist unmöglich, sich davor zu verstecken, es genügt auch nicht, den Fernseher auszuschalten. Vielleicht hilft es, wenn man irgendwohin fahren kann, zum Beispiel in die Taiga. Es ist unmöglich, und das ist eine Tragödie.

 

Wie sehen Sie die Rolle des Staates in solch turbulenten Zeiten?

Der Staat soll sich damit beschäftigen, ein positives Lebensklima für seine Bürger zu schaffen. Wenn es irgendwelche Krankheiten in der Gesellschaft gibt oder irgendwo eine Infektion aufflammt, soll der Staat die Infektion beseitigen und alle Kräfte einsetzen, um die Gesellschaft zu heilen. Der Staat soll alles aufbieten, um die Menschen aus dem Zustand der Krankheit zu retten. Und in Russland verbreitet der Staat selbst die Infektionsherde, damit sich die Gesellschaft ansteckt, damit sie eben nicht nicht gesund wird. Das ist das Problem. In Wirklichkeit ist es schon nicht mehr ein Problem, sondern ein Verbrechen. Gottseidank unterscheiden sich die Ergebnisse dieser Handlungen, aber die Methodik ist absolut die gleiche wie in Nazi-Deutschland. Das muss man genau verstehen.

 

Wenn man den Film anschaut, hat man das Gefühl, er sei auf 16 mm gedreht.

Das war so gedacht. Ich überlegte lange, wie ich es mache. 16 mm und 8 mm sind die einzig und allein glaubwürdige Form, in der das reale Leben aufgenommen werden kann, denn nur Amateuraufnahmen, das sage ich Ihnen als Autor des Films Die privaten Chroniken. Der Monolog, haben uns einen glaubwürdigen Eindruck des sowjetischen Lebens gegeben, das in den offiziellen audiovisuellen Medien überhaupt nicht gezeigt wurde. Deshalb arbeitete ich lange daran, diesen Eindruck herzustellen. Ich war zu hundert Prozent davon überzeugt, und jetzt zeigen alle Vorführungen des Films, dass ich Recht hatte. Es gibt dem Film ganz anderen Charakter.

 

Es macht ihn poetisch.

Ja, anders als die kalten, pragmatischen digitalen Bilder.

 

Sie sagen am Ende, dass der Film Sie verändert hat.

Nicht der Film an sich. Das Leben hat mich gezwungen, diesen Film zu machen und mich selber zu verändern. Die Tatsache, dass wir nach dem großen, inhaltsvollen und sehr integrierten Leben in Russland mit dem aufgebauten Haus, mit dem gepflanzten Baum, mit den geborenen Kindern die Koffer nahmen und ins fremde Land emigrierten … das ist ein sehr ernster Schritt, der natürlich unser Leben grundlegend verändert hat.

 

Wie sehen Sie die Chancen auf Frieden in der Ukraine?

Ich möchte, dass die Ukraine ein zivilisiertes und freundliches Land wird und jene Menschen, die gegen die Ukraine kämpfen, sich aus der Ukraine davonmachen wollen, einsehen, dass in ihrer ehemaligen Heimat eigentlich ein glückliches Leben blühte.

 

Sehen Sie die Ukraine mit Donbass ohne Donbass? Mit Krim oder ohne Krim?

Ich denke, dass die Ukraine ohne Donbass keine Chancen auf die blühende Zukunft hat. Kein Staat der Welt wird seine Annexion noch seine Unabhängigkeit anerkennen. Und wenn die Ukraine mit solchen komplizierten unentschiedenen Problemen leben wird, wird sie zu einer Bremse der Entwicklung. Vielleicht sieht es in hundert Jahren anders aus, aber da ich maximal vielleicht noch 25 Jahre leben werde, werde ich es nicht erfahren.

 

Glauben Sie an die Rückgabe der Krim?

Ja, aber nicht mit militärischen Mitteln, sondern durch ein Referendum, wo die Mehrheit über die Rückführung der Krim abstimmen wird. Dann wird die Ukraine jenes Land sein, in welches die Menschen zurückkommen wollen.

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