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GoEast Filmfestival

GoEast Filmfestival

Karg, spröde, minimalistisch und skurril

| Kirsten Liese |
Das junge osteuropäische Kino präsentierte auf dem 19. GoEast Filmfestival Wiesbaden einen neuen Stil

Vanya, Petya und Sasha finden keinen Sinn in ihrem Leben. Mit Partys, Drogen, Sex und Alkohol lehnen sich die jungen Russen gegen die ungeliebten Eltern auf, denen sie die Schuld an ihrer Misere geben. Zwei von ihnen wollen ihrer dumpfen Lethargie durch Selbstzerstörung entkommen: Vanya stürzt sich, von Petya dazu ermuntert, nackt vom Balkon, Petya trinkt daraufhin Säure, überlebt knapp und klebt sich in einer Anwallung von Schuldgefühlen ein Pflaster auf den Mund. Sasha schließlich klinkt sich beschämt aus dem Gruppensex aus, nachdem ihn ein Betrunkener in einer Bar gefragt hat, ob er einen beschnittenen Penis habe und ein Muslim sei. Acid, das nihilistische Porträt einer am Abgrund taumelnden Jugend in Russland von Alexander Gorchilin, stand beim GoEast besonders exemplarisch für eine ganze Reihe von Filmen, die sich mit Generationenkonflikten beschäftigen und einen neuen spröden, kargen, minimalistischen Stil ausprägen. Vermutlich auch deshalb hat er, wiewohl ziemlich ratlos um seine Protagonisten kreisend, die Goldene Lilie für den besten Film in Wiesbaden gewonnen.

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Eines freilich muss man diesem neuen Stil, der um den renommierten, bis vor kurzem noch unter Hausarrest stehenden Regisseur Kirill Serebrennikow herum entsteht, lassen: Er passt zu den teils recht desolaten Geschichten, die die Jungen erzählen.
Wie von der niederländischen Festivalleiterin Helen Gerritsen zu erfahren, wird das osteuropäische Kino aktuell stark bestimmt von Filmschaffenden um die 20, denen für ihre Debütfilme oftmals nur kleine Budgets zur Verfügung stehen. Sie setzen sich wohl aber auch bewusst von dem poetischen Kunstkino älterer Meister ab.
Serebrennikow, der nicht nur als Filmemacher, sondern auch als Opern- und Theaterregisseur international viel Beachtung findet, ist für so manche seiner Ensemblemitglieder am Moskauer Gogol Center wie Gorchilin zu einem Vorbild geworden. So machen zunehmend Schauspieler ihre eigenen Filme.

Konkreter und politischer werden die Konflikte in dem Dokumentarfilm Strip and War, ausgezeichnet mit dem Fipresci-Kritikerpreis. Zwei Welten prallen da in Gestalt eines ehemaligen Offiziers und Militär-Veterans und einem künstlerischen Rebellen aufeinander. Der Opa kann nicht verstehen, warum sich sein Enkelsohn trotz abgeschlossenem Ingenieurstudium als Stripper in Lokalen prostituiert und von einer unlukrativen Tanzkarriere träumt, der Enkel wiederum sieht nicht ein, warum der Alte immer noch an das kommunistische System glaubt.
Andrei Kutsila aus Belarus, Regisseur dieses Films, Jahrgang 1983, begründet die Generationenkonflikte mit Veränderungsängsten, Kurzsichtig- und Bequemlichkeit. So würden sich die Älteren eine Regierung wünschen, die „hart durchgreift“, in Kauf nehmen, dass Menschenrechte verletzt und Freiheiten eingeschränkt werden und es keine unabhängigen Medien gibt, weil sie fürchten, in Belarus könnten chaotische, „kriegsähnliche Zustände wie in der Ukraine“ eintreten. Im Film gibt er sich gleichwohl als ein neutraler Beobachter, der seine Figuren nicht denunziert. Man muss nicht schon 80 Jahre alt sein, um sich bisweilen in den Großvater hineinzuversetzen, der dem Enkel großzügig Kost und Logis bietet, ihm in seiner Wohnung viel Platz einräumt, an seinem Leben Anteil nimmt und den Jungen in seiner undankbaren frechen Diktion dafür bisweilen in die Schranken weist.

Stärker noch als solche nüchternen, gesellschaftspolitisch ambitionierten Werke berührten in Wiesbaden die Coming-of-Age-Geschichten zweier Frauen. Von der psychisch kranken Mutter, dem ruppigen Vater und der unentwegt redenden, nervtötenden Großmutter stark beansprucht, muss eine Tschechin in Bata Parkanovás sehr sensiblem Beitrag Momente unter große Mühen lernen, sich in ihren eigenen Wünschen und Grenzen auszuloten. In dem Roadmovie Take Me Somewhere Nice reift die nach Bosnien gereiste junge Alma aus Holland an der Unzuverlässigkeit ihres Cousins. Der will sie im klapprigen Auto nicht zu ihrem Vater ins Krankenhaus bringen, und so macht sie sich kurzerhand mutig auf eigene Faust auf einen nicht ganz ungefährlichen Weg.

Spannende Einblicke in die Probleme, Haltungen und Sichtweisen der osteuropäischen Jugend täuschten in Wiesbaden jedoch nicht darüber hinweg, dass gute Geschichten allein keine große Filmkunst hervorbringen. Viele der um den besten Film konkurrierenden Beiträge, überwiegend in Fernsehästhetik, bewegten sich eher im Mittelfeld. Vielleicht nicht zufällig kam es bei der Auswahl der Filme zu heftigen Kontroversen wie Festivalleiterin Gerritsen berichtete. Über nahezu alle Filme seien sich die Kuratorinnen und Kuratoren uneinig gewesen. Beunruhigend ist das gewiss nicht, sondern durchaus ein Zeichen für die Lebendigkeit, Diversität und Vitalität eines Festivals.

Eines fiel darüber allerdings schon auf: Dass sich im diesjährigen GoEast nur sehr wenig poetische Filmkunst mit sorgfältig ausgeleuchteten Bildern und durchkomponierten Szenen fand, wie sie über viele Jahre speziell das osteuropäische Kino prägte.
Zu den wenigen Werken, die einen solchen Anspruch noch halbwegs einlösten, zählte das in Wiesbaden mit dem Regiepreis ausgezeichnete Drama Die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt des Kasachen Adilkhan Yerzhanov. Es ist die Geschichte einer Frau vom Land, der nach dem Selbstmord ihres Vaters aufgrund hoher Schulden nichts anderes übrig bleibt, sich ihrer Mutter zuliebe an ihren reichen Onkel in der Stadt zu verkaufen, der ihr und ihrer Familie in der Not durch Heirat helfen soll. Zu ihrem einzigen Trost begleitet sie ihrer treuer Freund Kuandyk, der seinerseits alles versucht, um Geld aufzutreiben, damit aber sein Leben aufs Spiel setzt in einem ausbeuterischen System, in dem diejenigen, die am wenigsten verdienen, brutal gegeneinander ausgespielt werden. Sparsame Farbtupfer in kargen landschaftlichen Weiten und Kostümen bilden die eindrucksvolle Kulisse für Geschehnisse, die in ihrer unfassbaren Grausamkeit beinahe schon wieder absurd erscheinen.

Der singulärer fiktive, mystische Historienfilm Das Rätsel des Jaan Niemand von Kaur Kokk aus Estland um einen vermeintlichen deutsch-baltischen Arzt, der sich selbst fremd ist und noch nicht einmal an seinen Namen erinnern kann, überragte den Wettbewerb, ging aber leider leer aus. Mit faszinierenden Kamera-Aufnahmen von nächtlichen, mystischen Szenen im Kerzenschein und langsamen Einstellungen, wie sie die alten Meister des osteuropäischen Kinos bevorzugten, ließ er keinen Zweifel darüber aufkommen, dass großes Kino eben doch zeitlos ist.

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