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De Patrick Karlovy Vary Filmfestival

54. Karlovy Vary Filmfestival

Große Filmkunst mit Frauenpower

| Kirsten Liese |
Das Karlovy Vary Filmfestival erlebte mit seiner 54. Ausgabe eine seiner besten

Die verhassten Halbschwestern Irina und Neža würden sich lieber aus dem Weg gehen. Aber wegen bescheidener Einkünfte bleibt ihnen nichts anderes übrig, sich in ihrer neuen Lebenssituation eine Wohnung in Ljubljana zu teilen: Irina hat sich von ihrem Mann getrennt und braucht eine neue Bleibe, Neža ist neu in der Stadt und will studieren. Konträre Lebensentwürfe prallen aufeinander, Wut auf den Vater kocht hoch, aber als Irinas Exmann, der die Trennung nicht akzeptieren will, gegen Irina gewalttätig wird, kommen sich die frustrierte Friseuse und die rebellische Aussteigerin in Solidarität einander näher.
Der slowenische Beitrag Polsestra (Half-Sister) bescherte dem Wettbewerb in Karlovy Vary bemerkenswert starke Frauenfiguren, wie man sie in einem osteuropäischen Film nicht unbedingt erwarten würde, insbesondere in Gestalt der taffen, auf die Männer pfeifenden, aggressiv auftretenden Neža, die sich noch dazu vegan ernährt.

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Regisseur Damjan Kozole schaut mit psychologischem Scharfsinn hinter die raue Fassade seiner Heldinnen, hinter der sich tiefe Verletzungen verbergen. Sie haben wenig mit den jungen Frauen selbst zu tun als vielmehr mit schwierigen familiären Umständen: Als Irina Kind war, verließ der Vater sie und ihre slowenische Mutter, um mit einer Albanerin eine neue Familie zu gründen, aus der Neža hervorging. Wut und Eifersucht ihrer Mutter haben sich auf Irina unweigerlich übertragen.
Aber auch Neža, von deren Vergangenheit man weniger erfährt, hat wohl schwere Enttäuschungen von Menschen erlitten, von denen sie sich abgewendet hat. Ihre Liebe gilt allein Jimmy, ihrem Hund.

Den Wettbewerb des 54. Jahrgangs in Karlovy Vary prägten generell viele Geschichten mit starken Frauen, darunter aber nur vereinzelte Werke von Filmemacherinnen. Die viel diskutierte Forderung nach einer größeren Präsenz von Regisseurinnen scheint auf männliche Filmschaffende abzufärben, meint Festivalleiter Karel Och. Filmemacher zeigten sich mittlerweile viel sensibilisierter und offener für Genderthemen. Allen voran Jan-Ole Gerster. Sein deutscher Beitrag Lara wurde in Karlovy Vary mit dem Spezialpreis der Jury, einem Preis für die beste Hauptdarstellerin und dem Preis der ökumenischen Jury verdient hoch ausgezeichnet.

Corinna Harfouch ist die strenge, vom Ehrgeiz zerfressene, an ihren hohen Selbstansprüchen gescheiterte, frühpensionierte Beamtin. Jedem, der ihr über den Weg läuft, schenkt sie an ihrem 60.Geburtstag eine Eintrittskarte für das Klavierrecital ihres Sohnes, auf den sie ihren unerfüllten Traum von einer Pianistenkarriere projiziert. Harfouchs Lara ist aber nicht nur eine dominante Mutter, die jeden Versuch ihres Sohnes, sich von ihr abzunabeln erstickt, sondern zugleich eine Persönlichkeit, die mit schonungsloser Ehrlichkeit, instinktsicherem Gespür für Genialität, Aufdringlichkeit und unermüdlicher Energie andere anspornt. Und sei es nur ein gelangweilter Junge, dem sie in Abwesenheit seines Lehrers ungefragt Klavierunterricht gibt.
Schon lange sah man Corinna Harfouch in keiner so großen, anspruchsvollen Rolle im Kino. Die letzte vergleichbar interessante, wenn auch nicht ganz so zentrale Figur war wohl die Titelheldin in Giulias Verschwinden (2009), ein Episodenfilm, der sich ebenfalls um eine Frau an einem runden Geburtstag drehte, aber hier war es noch der fünfzigste.

Aber auch Gerster, der sich nach seinem viel beachteten, großartigen Erstling Oh Boy! sieben Jahre für seinen zweiten Film Zeit ließ, etabliert sich mit diesem erstklassigen Autorenfilm als einer der besten deutschen Regisseure unserer Zeit. An Lara stimmt einfach alles, die Geschichte wirkt glaubwürdig und packend, vor allem bewegen sich Drehbuch und Regie sicher in der Welt der klassischen Musik, die im Kino oft einfältig und falsch dargestellt wird. Kurzum, dass ein derart herausragender Film, der einem den fast schon verloren gegangenen Glauben an das deutsche Kino wiedergibt, just auf dem kleinsten europäischen A-Festival in Karlovy Vary seine Weltpremiere erlebte- kurz vor der kleineren Deutschlandpremiere auf dem Münchner Filmfest- ist eine Sensation.

Und noch eine weitere Produktion trug entscheidend dazu bei, dass der 54. Jahrgang so stark daher kam wie lange nicht mehr: La virgen de agosto von Jonàs Trueba, ein anregender Konversationsfilm über das Liebesleben einer 33-Jährigen, ungemein atmosphärisch, poetisch und von leichter Hand inszeniert wie eine spanische Antwort auf den Franzosen Eric Rohmer. Eva (eine aparte Schönheit: Itsaso Arana), die Protagonistin, ist auf der Suche. Sie hat Madrid trotz heißer Temperaturen im Hochsommer nicht verlassen wie viele andere Einheimische, sinniert vielmehr, inspiriert von Gesprächen mit Freundinnen und Männern, über ihre Zukunft. Möchte sie gerne weiter unabhängig sein, vielleicht für einige Zeit ins Ausland gehen oder doch auf Partnersuche für ein Kind? Eva hat noch viel vor sich und ist noch jung, aber doch nicht mehr so jung wie die Protagonisten in Rohmers Sommer. Der Spielraum für Entscheidungen ist schon schmaler geworden als die junger Studenten Anfang 20, und die Männer, an denen die hübsche, charmante Eva Gefallen findet, verhalten sich überwiegend stofflich. Das alles schildert der Film subtil, unaufdringlich und ohne Kopflastigkeiten. Schade, dass er nur den Fipresci-Kritikerpreis gewann.

Ebenfalls mit lyrischen, poetischen Aufnahmen, noch dazu in Schwarzweiß empfahl sich To The Stars für die Leinwand, die Geschichte zweier unterschiedlicher Mädchen, die gemeinsam in Oklahoma in den 1960er Jahren gemeinsam Widrigkeiten in Familie und Schule trotzen. Die stark kurzsichtige, etwas unscheinbare und schüchterne Iris lernt Maggie kennen, als sie auf dem Weg zur Highschool von unreifen Jungs verspottet wird. Die im Auto anbrausende, temperamentvolle Maggie vertreibt die Bande. Deren Selbstbewusstsein färbt mit wachsender Freundschaft auf Iris ab, die sich bald unter Maggies Mithilfe mondän frisiert und kleidet und ungewollt die Eifersucht ihrer Mutter entfacht, als sie die Aufmerksamkeit eines Jungen gewinnt, auf den diese ein Auge geworfen hatte. Und dann scheint auch noch der Zusammenhalt der Mädchen einen Riss zu bekommen, als sich Maggie plötzlich seltsam und abweisend verhält. Aber was folgt, ist eine liebenswerte Reverenz an den Lesbenfilm-Klassiker Desert Hearts.

All diese starken Frauenfilme gingen jedoch leider mit Ausnahme von Lara bei der Preisverleihung leer aus. Den Preis für die beste Regie gewann der Belgier Tim Mielants für seine in ihrer Bizarrerie etwas aufgesetzte Tragikomödie De Patrick um einen Betreiber eines Nudistencamps, den nach dem Tod seines Vaters nichts Anderes mehr beschäftigt als ein verschwundener Hammer.
Anlass zum Ärgernis gab die Preisverleihung gleichwohl nicht. Zumindest bietet das zum besten Film gekürte bulgarische Roadmovie Bashtata (The Father) um einen sturen alten Mann, der seinem Sohn nach dem Tod seiner Frau mit esoterischen Eskapaden viel Geduld abverlangt, in bester Tradition des Balkankinos skurrilen Witz.

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