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Kenneth Anger – Blaupausen für Hollywood

Blaupausen für Hollywood

| Heinrich Deisl |

Er zählt neben Maya Deren und Stan Brakhage zu den Protagonisten des amerikanischen Avantgarde-Kinos und revolutionierte wie kein anderer die Vorstellungen davon, wie Popmusik im Film eingesetzt werden kann. Nun feiert Kenneth Anger seinen 80. Geburtstag.

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Kenneth Anger gilt als gleichermaßen schillernder wie kontroversieller Regisseur. Er ist ein großer Geschichtenerzähler, den man nicht einfach zu fassen bekommt. Seine Filme erzählen von allegorischen, magischen und erotischen Zwischenzuständen, seine gründliche Beschäftigung mit altägyptischem Mystizismus und dem englischen Okkultisten Aleister Crowley brachte ihm genauso viel Ablehnung wie Verehrung ein. Anger erkannte als wahrscheinlich Erster den diskursiven Mehrwert von Popsongs in Filmen, seine vertrackte Montagen knüpfen an Sergej Eisenstein an, und seine rätselhaften, surrealen Wachtraumlandschaften dringen in unerreichte Psychogeografien vor. 2002 wurde er von der San Francisco Film Society mit dem „Golden Gate Persistence of Vision Award“ für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

Seit Mitte der 50er Jahre hat Anger, im Februar 1927 in Santa Monica geboren, eine in den tiefsten Sphären des kollektiven Pop-Gedächtnisses verwurzelte Ikonografie aus Zeichen und Musik auf die Leinwand gebracht. Legionen von Regisseuren, von Martin Scorsese über David Lynch und R. W. Fassbinder bis hin zu Quentin Tarantino, versuchten sich Jahrzehnte später ebenfalls darin, vorhandene Songs als strukturierendes und narratives Element zu etablieren. Anger montierte aus Songs eine identifikationsstiftende Syntax, die eine eigene Story erzählt, den Bildern widerspricht oder ihnen eine zusätzliche Bedeutung verleiht.
Dieses „Kino der Korrespondenzen“ zwischen Ton- und Bildebene ist besonders bei Scorpio Rising (1964) evident: Wenn etwa He’s a Rebel von den Crystals oder Devil in Disguise von Elvis Presley erklingen, erzählen die Songtexte von unterschiedlichen Charakternuancen des Protagonisten, während auf der Bildspur Aufnahmen des Helden zu sehen sind, gegengeschnitten mit Marlon Brando aus The Wild One (1953). „Das war immerhin neun Jahre vor Scorseses Mean Streets“, meint Anger im Gespräch: „Danach wurde diese Technik vom Hollywood-Lexikon der Möglichkeiten eingemeindet. Meine Filme sind Reflexionen der Momente, in denen sie gemacht wurden: Ein Song wie Devil in Disguise wurde damals in jedem Radio gespielt. Für alle im Film verwendeten Nummern wurden Tantiemen gezahlt, was mich gut ein Drittel des Gesamtbudgets kostete. Man konnte nicht Musik stehlen, so wie heutzutage jeder von jedem klaut. Wir leben in einem Zeitalter der Piraterie.“

Stereoanlage im Himmel

Angers Bilder von Motorrädern, Magiern, sadomasochistischem Fleisch und trancehaften Tableaux vivants sind ohne seine Affinität zur „goldenen“ Stummfilmzeit Hollywoods nicht vorstellbar. So hatte er während seiner College-Zeit einen Maria-Montez-Fanclub gegründet, schrieb 1959 und 1984 den zweibändigen Beststeller Hollywood Babylon und besitzt eine der weltweit größten Sammlungen an Devotionalien von Rudolph Valentino. Als Anger in den 50er Jahren auf Einladung Jean Cocteaus nach Paris gekommen war und dort einige Zeit lebte, arbeite er für Henri Langlois, den Begründer der Cinémathèque Française. Es geht die Mär, dass niemand Geringerer als Jean-Luc Godard, der zu dieser Zeit wie Anger erste Texte in den Cahiers du Cinéma veröffentlichte, Anger wohl eher im Scherz den Anstoß für Hollywood Babylon gegeben hatte. Angers Oeuvre reicht von Fireworks (1947), einem der ersten explizit homoerotischen Meisterwerke, das stark an die surrealistische Bildsprache Cocteaus erinnert, bis zur burlesken Annäherung an das „Phänomen“ Mickey Mouse (Mouse Heaven, 1987–2004). Dazwischen finden sich Filme wie Inauguration of the Pleasuredome (1954), Lucifer Rising (1966–1981) und Invocation of My Demon Brother (1969), in denen er sich intensiv aus dem esoterischen Fundus bedient. Rabbit’s Moon (1950) dagegen, ein melancholischer Disput zwischen Pierrot und Harlekin in einem nicht zufällig stark an Georges Méliès erinnernden Ambiente, ist seine vielleicht stringenteste Zusammenführung von Stummfilmbildhaftigkeit und der poetischen Überhöhung des Rebellen. Sein Werk ist aber nicht das eines Nihilisten, sondern eines Romantikers. Ähnlich wie Pier Paolo Pasolini arbeitet sich Anger an der Darstellung des Konflikts („passion“) zwischen dem Menschlichen und dem Spirituellen ab. Für ihn ist Luzifer wie im eigentlichen Sinn der Lichtbringer, dessen Problem war, dass er „die Stereoanlage zu laut aufgedreht hatte“.

Rock vs. Elektronik

Angers Filme liefen zu dieser Zeit im aufgeblasenen 35mm-Format in praktisch allen Kunstfilmkinos in der „Midnight-Movies“-Schiene, wo sich kunstbeflissene Cineasten mit Rockmusik-Fans mischten. Die spezielle Mischung aus profundem esoterischem Wissen, elaborierter Filmkunst und aktueller Musik bildete eine Schnittstelle, die nicht nur den popkulturellen Status Quo der 60er Jahre definierte, sondern einen Blick in die Zukunft der Musikvideos zeitigte, siehe etwa Videos von David LaChapelle, Peter Christopherson oder Paul Poet. Anger ist diesen Entwicklungen indes abhold, einen eigenen Fernseher lehnt er strikt ab.

Wenn Anger von der Invocation-Session erzählt, kann man einmal mehr das Gefühl bekommen, dass „legendäre“ Momente meist nur bedeuten, „zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein“: „Mick Jagger besaß als einer der allerersten Privatmenschen einen Moog-Synthesizer. Er bot mir an, den Film in seinem Haus vorzuführen. Während ich den 16mm-Projektor bediente, improvisierte er über den Film. Da man mit 16mm kein Stereosignal bekommt, wurde in Mono aufgenommen. Was schade ist, denn die Musik hatte sehr prononcierte Stereoeffekte, rechter und linker Lautsprecher ‚sprachen’ miteinander.“

Dass Anger ausgewiesener Fan von Swing, Rock’n’Roll und Rock ist, hat er hinlänglich belegt, wie aber steht es mit aktueller Musik? „Wie könnte ich das vermeiden? Nur wenn ich mit Ohrstöpseln herumginge. Musik aus dem Internet herunter zu laden, hat die Musikindustrie kaputt gemacht, und Independent-Plattengeschäfte gehen Bankrott, weil man sich Musik besorgen kann, ohne sich ein Album zu kaufen. Ich kann nicht verstehen, warum jemand 50.000 Songs auf der Festplatte hat. Für mich ist das eine Art von Vampirismus. Ich habe noch immer alte, fragile Schellacks mit populären Songs aus den 20ern, 30ern und der Glenn Miller-Ära. Hinsichtlich aktueller Musik lehne ich Rap und HipHop total ab. Den darin propagierten Chauvinismus und die unreflektierte Verherrlichung von Gewalt finde ich abstoßend.“

La Belle de la Bête

Anger ist und bleibt das personifizierte schlechte Gewissen Amerikas, wenn er sich mit devianter Subkultur genauso auseinander setzt wie mit der von ihm mitdefinierten Pop-Ikonografie aus Outlaw-Mythen, archetypischen Symbolen, Mystizismus und den Parallelwelten des Hollywood-Glamour. Ihm wurde wiederholt vorgeworfen, gewaltverherrlichende und sexuell abartige Filme zu machen. Dabei ging es nie darum, einen „common sense“ zu vertreten. Vielmehr reflektieren die Filme schonungslos genauso herrschende gesellschaftliche Praktiken wie deren Beschränkungen. „Mein Ansatz ist dem der ‚Schönheit‘ von Leni Riefenstahl recht ähnlich. Als sie nach Afrika zu den Nuba ging, fand ich das alles andere als attraktiv. Sie erzählte mir, dass sie die schlimmen und schrecklichen Dinge dort nicht kümmerten. Sie waren nicht Teil ihrer Vision von einer alten und noblen Rasse, die in Verbindung mit der Vergangenheit lebte. Ich habe meine eigene Vision darüber, was ich mit der Kamera abbilde, Schock- und Horrorelemente können Teil meiner filmischen Erzählung sein.“

Doch wie steht Anger, der Bilderstürmer und deutschstämmige Amerikaner, der sein künstlerisches und persönliches Leben dem Film geweiht hat, zu aktuellen Geschehnissen? „Ich schätze, 9/11 war früher oder später unvermeidlich. Es ist ein Beispiel für einen ungleichen Kampf, in dem ein kleiner Feind etwas Riesiges schlagen kann. Es gibt eine Gruppe Fanatiker in der moslemischen Welt mit der fixen Idee, Amerika symbolisiere all das, was sie an westlicher Kultur hassen. Wenn man sie gewähren ließe, würden sie alle Filme und jede Fotografie zerstören. Ich kann nicht jemandem gegenüber völlig liberal sein, der mich und jede Art meiner Kunst zerstören will. Es gibt ein Element, das jede Art von Kunst radikal hasst und das extreme Angst vor dem Körperlichen hat: Der weibliche Körper muss komplett verhüllt werden, der Körper ist ein totales Geheimnis. Darin sehe ich, wenn man das mit dem westlichen oder amerikanischen Ansatz vergleicht, wirklich einen Zusammenprall von Kulturen. All das sind interessante Konflikte, es war ein ziemlich diabolisches Szenario.“