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Tobias Kurwinkel

Kinderfilmfestival 2021 | Interview

Kinder hören anders

| Benjamin Moldenhauer |
Der Medienwissenschaftler Tobias Kurwinkel über Family Entertainment, über die Omnipräsenz von Medien in der kindlichen Welt und über den Gehörsinn, der für Kinder eine weit größere Rolle spielt als für Erwachsene.

Was zeichnet den Kinderfilm gegenüber dem Erwachsenenfilm aus? Dass er sich an Kinder richtet, ist klar. Aber was sind weniger naheliegende Merkmale?
Tobias Kurwinkel: Nehmen wir zuerst den Inhalt. Kinderfilmplots sind oft mit typischen Motiven in typischen Konstellationen gebaut. Die Außenseiterin, die sich im elternfernen Raum bewähren muss, das Tier, das gerettet werden muss und zu dem der Protagonist eine tiefe Verbindung entwickelt hat … Weniger offensichtlich aber sind die formalen Merkmale. Kinderfilme machen zum Beispiel Rezeptionsangebote, die direkt und indirekt auf den Gehörsinn gerichtet sind. Haben Sie einmal Kinder bei einer hochspannenden, gruseligen Filmszene beobachtet? Kinder halten sich selten die Augen zu, sondern pressen stattdessen ihre Hände auf die Ohren. Sie hören nicht nur anders als Erwachsene, der Gehörsinn spielt für sie eine viel größere Rolle. Etwas, das Filmemacher bewusst oder unbewusst berücksichtigen. Mein Kollege Philipp Schmerheim und ich haben dafür den Begriff der Auralität geprägt. Damit sind nicht nur Filmmusik, Geräusche oder Dialoge gemeint, sondern auch Gestaltungs- und Strukturmerkmale wie zum Beispiel rhythmische Verschränkungen von Bild und Ton und von Kamera- und Figurenbewegung. Auch musikalisierte Montagestrukturen spielen eine Rolle.

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Viele Kinderfilme sind so gebaut, dass sie sich auch an Erwachsene richten, wie zum Beispiel das meiste, was die Firma Pixar produziert. Ist das eine neuere Tendenz?
Family Entertainment, also ein Film, der sich an die ganze Familie, an alle Altersstufen richtet, ist kein neues Phänomen. Walt Disneys Schneewittchen und die sieben Zwerge weist sowohl eine Multi-Adressierung wie auch eine innere Doppeldeutigkeit auf – und ist schon 1937 erschienen. Da findet man bereits Merkmale, mit denen heute die Pixar-Filme arbeiten: Die Filme werden für Kinder und Erwachsene beworben und senden Signale, die an verschiedene Rezipientengruppen gerichtet sind – Ironie, intertextuelle Anspielungen und auch nostalgische Elemente, die beispielsweise Erwachsene erkennen und zuordnen können.

 Was wäre denn ein aktuelles Beispiel?
Können Sie sich an die Haie in Pixars Findet Nemo erinnern? Als der Weiße Hai Bruce versucht, Marlin und Dorie zu fressen und die Tür des U-Boots aufschlägt, sagt er „Hier kommt Bruce“ – eine Anspielung auf Stanley Kubricks The Shining, in dem die Hauptfigur Jack Torrance „Hier kommt Jacky!“ brüllt, bevor der die Tür einschlägt. Der Hai ist dabei in Physiognomie und Mimik an Jack Nicholson angelehnt. Ein weiteres Beispiel aus dem Film sind die Möwen, die den Pelikan Niels verfolgen: Die Aufsicht, mit der an dieser Stelle gearbeitet wird, ist Hitchcocks Die Vögel entnommen. Alles Anspielungen, die Erwachsene dekodieren können, Kinder nicht.

Die Eltern sollen auch mit ins Kino gehen.
Ja, das hat selbstverständlich kommerzielle Gründe. Ich glaube aber, dass es weitere gibt. Der Soziologe und Kindheitsforscher Nick Lee diagnostiziert den Beginn einer Entdifferenzierung von Kinder- und Erwachsenenkulturen und damit auch den Beginn einer Entdifferenzierung von Kindheit und Erwachsensein generell. Family Entertainment ist auch ein Ergebnis dieser laufenden Entwicklung.

 Zuzunehmen scheint auch die Heftigkeit vieler Kinderfilme. Ein einschlägiges Beispiel ist der Horrorfilm „Coraline“, der in Deutschland aus für mich unerfindlichen Gründen ab sechs Jahren freigegeben ist. Wird Kindern im Kino heute mehr zugemutet als noch vor zwanzig Jahren?
Bei der Einschätzung wird heute differenzierter argumentiert als früher. Fragen wie „Ist die Darstellung von Gewalt in irgendeiner Art und Weise legitimiert?“ oder „Wird die Gewalt im Verlauf der Handlung sanktioniert?“ spielen heute eine größere Rolle. Die Antworten auf solche Fragen können dazu führen, dass Szenen durchgelassen werden, die zunächst wenig kindgerecht erscheinen.

 Auf der formalen Ebene werden die Filme komplexer. Die Netflix-Produktion „Die Mitchells gegen die Maschinen“ beispielsweise steckt nicht nur voller Anspielungen und Genreverweise, sondern legt von Anfang an mit einer unheimlichen Geschwindigkeit los. Kann man von hier aus auf eine gestiegene Medien- und Filmkompetenz von Kindern schließen?
Ja, davon bin ich überzeugt. Gründe dafür sind das frühere Einstiegsalter und die zunehmende Präsenz von Medien. Die Rezeption von Filmen ist dadurch bei weitem nicht mehr auf den Kinobesuch limitiert. Kinder sind heute fast ununterbrochen von Medien, insbesondere von Bewegtbildern umgeben. Leider gibt es jedoch kaum Studien, die sich mit der Rezeption von Filmen, also mit film literacy, auseinandersetzen.
Was man sicher sagen kann, dass sich das Wissen über filmische Mittel in der Kindheit schrittweise entwickelt und zwischen dem vierten und zehnten Lebensjahr deutlich zunimmt. Es konnte gezeigt werden, dass bereits Vierjährige einfache Schwenks verstehen, komplizierte langsame Schwenks hingegen erst von Achtjährigen nachvollzogen werden konnten. Komplizierte Elemente der Filmmontage, wie Zeitsprünge oder Rückblenden, können Schulkinder bis zu einem Alter von zehn Jahren oft nicht nachvollziehen.