Koreanische Serien boomen nach wie vor, und das zu Recht. Vier Highlights aus einem gelobten Land der Unterhaltungsindustrie – für alle, die noch nicht alles gesehen haben.
Serienmüdigkeit? Nachlassen der Kreativität? Keine Spur davon. Im Gegenteil: Die koreanische Serienlandschaft präsentiert sich bunt und vielfältig wie nie zuvor. Und das Interesse seitens der Anbieter und des Publikums ist nichtendenwollend. Seit dem absoluten Quoten-Hit Squid Game (2021) warten Zuschauende weltweit nicht nur (sehn)süchtig auf die angekündigte zweite Staffel, viele haben sich inzwischen auf die Suche nach dem „nächsten großen Ding“ begeben.
Netflix, um nur ein Beispiel zu nennen, hat die große Nachfrage längst erkannt und bietet mittlerweile ein breites Sortiment an koreanischen Serien an – selbst produzierte ebenso wie angekaufte. Auffällig ist, dass es aktuell kaum große, ganze Jahre umspannende Formate gibt, dafür viele sechs- bis zehnteilige Mini-Serien oder solche mit zwei Staffeln. Und ganz ehrlich: Meistens ist es dann ja auch genug. Es gibt genügend Beispiele von hervorragenden Serien, auch amerikanischen, denen es gut getan hätte, wären sie früher zu Ende gewesen, wie etwa Killing Eve oder The Handmaid’s Tale. Koreanische Serien halten sich weitgehend an diese Richtlinie, dafür dauern oft die einzelnen Episoden ziemlich lang, manche bis zu 80 Minuten. Die vier Beispiele in diesem Überblick sind alle neueren Datums, thematisch in gewisser Weise verwandt, aber in der Machart verschieden und vor allem höchst sehenswert.
Die dummen Streiche der Reichen
Das war der treffende deutsche Titel einer Louis-de-Funès-Komödie aus dem Jahr 1971, und er kommt einem unweigerlich in den Sinn, wenn man die Serie Remarriage & Desires (bisher acht Folgen) sieht, die wohl noch eine zweite Staffel bekommen wird, so erfolgreich, wie sie in der Heimat war. Allerdings sind die Streiche hier eher drastischer Natur. Remarriage & Desires, übrigens die einzige der vier Serien, die von einem Mann geschrieben wurde, ist – oder vielleicht sollte man sagen: wäre gerne – eine bitterböse Satire auf die „oberen 0,1%“, wie es im Dialog einmal explizit heißt. Diese Superreichen aus den Bereichen Business, Justiz oder Politik leben gänzlich unter sich in einer Welt, die mit der der Normalbevölkerung keinerlei Berührungspunkte hat. Es geht um Statussymbole, Geld und vor allem um Macht, Macht und Macht. In diesem Setting versucht die junge, von Ehrgeiz zerfressene Anwältin Jin Yoo-hui „nach oben“ zu gelangen, und dabei geht sie sprichwörtlich über Leichen. Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, den begehrtesten (geschiedenen) Junggesellen des Landes, Lee Hyung-ju, den Besitzer der größten Game-Firma, für sich zu erobern – aber nicht, weil sie ihn liebt, sondern weil sie hofft, dann endlich am Ziel ihrer Wünsche zu sein. Eine Nobel-Datingagentur (der koreanische, weniger holprige Originaltitel „Die schwarze Braut“ verweist darauf) soll ihr dazu verhelfen, aber sie nützt auch ihre eigene kriminelle Energie, weil ihr alles zu langsam geht und zu mühsam ist. Dass ihr Streben einer heftigen narzisstischen Kränkung entspringt, erfahren wir schon bald, die restliche Zeit verfolgt man fast schon ungläubig, was die Superreichen einander alles antun, nur um ihren Status zu erhalten oder auszubauen. Das ist, so ehrlich muss man sein, Trash, aber auf hohem Niveau, und, wie viele Meinungen in Internet-Foren bestätigen, man kann einfach nicht aufhören, zuzuschauen, bis hin zum (vorläufigen) Ende. Jin Yoo-huis Gegenspielerin ist die Universitätslehrerin Seo Hye-seung, deren Ehemann eines der ersten Opfer der ehrgeizigen Anwältin war und die ihrerseits auf Rache sinnt. Klingt wild und ist es auch. Rache, das weiß man aus vielen preisgekrönten koreanischen Kinofilmen (Oldboy, Lady Vengeance usw.) ist ein beliebtes Thema im medialen Output des Landes, doch wie in den genannten Filmen ist auch hier bald klar, dass Seo Hye-seung einen hohen Preis für die Befriedigung ihrer Rachegelüste zahlen wird müssen.
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Klassenkampf
Wer gedacht hat, dass Remarriage & Desires von Rache handelt, hat The Glory nicht gesehen, eine weitere, noch ziemlich frische Netflix-Erfolgsserie. In 16 Episoden entfaltet sich die Geschichte von Moon Dong-eun, die in der Highschool von drei Mitschülerinnen und zwei Mitschülern nicht nur gnadenlos gemobbt, sondern auch körperlich schwer misshandelt wurde. Die Spuren dieser Tortur sind ihrem Körper buchstäblich eingebrannt. 18 Jahre später macht Dong-eun sich daran, sich an den Quälgeistern, vor allem aber an der Rädelsführerin Park Yeon-jin zu rächen. Diese ist mittlerweile eine gefeierte Wetter-Fee und Mode-Ikone. Dass Dong-eun so spät mit ihrer Rache beginnt, hat wohl damit zu tun, dass sie so lang gebraucht hat, ihre Traumata aufzuarbeiten. Was The Glory von Remarriage & Desires unterscheidet, ist vor allem die sehr hohe erzählerische Qualität, die sich auch Zeit für interessante Seitenstränge nimmt, und die Subtilität in der Figurenzeichnung: Die Bösen sind hier auch böse, aber mit Schattierungen. Eine von Dong-euns Strategien – es handelt sich um einen Langzeit-Racheplan, der sehr viel Geduld erfordert –, ist, dass sie die fünf Leute gegeneinander ausspielt, so lange, bis diese tatsächlich nicht mehr wissen, wie ihnen geschieht. Aber auch jene Menschen, Eltern und Lehrer beispielsweise, die damals nichts unternommen haben, geraten ins Fadenkreuz der Rächerin.
Es fällt bei allen vier hier vorgestellten Serien auf, dass diese – im Westen sehr unüblich – jeweils von einer Person geschrieben wurden und auch nur eine Person bei allen Episoden Regie führt. Im Falle von The Glory stammt das Drehbuch von der vielfach ausgezeichneten Autorin Kim Eun-sook, und man kann ihre Arbeit mit den vielen feinen Nuancen und der nicht abreißenden Spannungskurve nur bewundern. Wie sie die Figuren, etwa Park Yeon-jins Ehemann, der von der schlimmen Vergangenheit seiner Frau nichts weiß, in das Beziehungsgeflecht einbaut, das ist meisterhaft, oder die Geschichte von Yoon So-hee, einem weiteren Mobbing-Opfer, oder die unglaublich vielschichtige Figur des Joo Yeo-jeong, eines jungen Arztes, der sich verpflichtet, Dong-eun bei ihrer Rache-Mission zu unterstützen. Mobbing (oder „bullying“) in der Schule ist inzwischen ein Standardthema in koreanischen Filmen – und leider höchst real. Die Brutalität, mit der vorgegangen wird, ist erschreckend, und nicht selten – siehe The Glory – handelt es sich dabei um eine verquere Ausprägung von Klassenkampf. Kinder aus „armen“ Verhältnissen leiden überproportional oft unter Bullying, und Mädchen ganz besonders. Da reicht es oft schon, die „falschen“ Sneakers anzuhaben.
Das hat auch mit dem Erfolgszwang zu tun, den eine radikal leistungsorientierte Gesellschaft wie die koreanische (in Japan und China ist es nicht viel anders) mit sich bringt. Wenn man weiß, welch hysterisches nationales Drama sich jedes Jahr an dem Tag abspielt, an dem die Aufnahmeprüfungen an den Universitäten stattfinden (alle Eltern wollen natürlich, dass ihr Kind möglichst an eine der Elite-Unis kommt), kann man ermessen, welcher Druck auf den Jugendlichen lastet. Die Kluft zwischen den sozialen Schichten kennt man auch aus Bong Joon-hos Oscar-Hit Parasite oder Kore-eda Hirokazus Broker (siehe „ray“ 03/23), und in The Glory wird sie mehrmals explizit angesprochen.
Frauen im Mittelpunkt
Doch wer denkt, dass es in The Glory schlimm zugeht, hat Little Women (12 Episoden) nicht gesehen. Wie der Titel schon verrät, basiert die Geschichte auf dem Erfolgsroman von Louisa May Alcott (1868/69), der auch mehrmals, zuletzt 2019 von Greta Gerwig, verfilmt wurde. Viel mehr als das Grundgerüst, der Werdegang von vier Schwestern (in der Serie sind es drei, die vierte ist als Kleinkind ums Leben gekommen), ist allerdings nicht übriggeblieben. Die prominente Autorin Jeong Seo-kyung, verantwortlich für die Drehbücher zu herausragenden Filmen wie Lady Vengeance, Thirst, The Handmaiden und Decision to Leave (alle von Park Chan-wook) oder Believer (Lee Hae-young) hat daraus eine meisterlich-haarsträubende soziale Horrorstory mit so vielen Wendungen und Verästelungen gemacht, dass man am Ende fast ungläubig feststellt, wie sehr sich letztlich alles fügt. Das ist zuweilen recht plakativ, aber es geht sich aus. Die drei Schwestern Oh In-Joo, Oh In-kyung und Oh In-hye wachsen in sehr bescheidenen Verhältnissen auf, der Vater ist abwesend, die Mutter verschwindet mit dem Geld, das für eine Schulreise der jüngsten Tochter nach Europa vorgesehen war. Auf unterschiedlichen Wegen geraten alle drei an den ehemaligen Anwalt und nunmehrigen Politiker Park Jae-sang und seine Frau Won Sang-a, beide nach außen hin freundlich und wohltätig, aber – wir ahnen es bald – in Wahrheit abgrundtief böse und unermesslich reich. Die Wurzeln des Bösen reichen zurück bis in den Vietnamkrieg (!), in dem Südkorea ein Verbündeter der USA war. Das ist bis heute ein nationales Tabu, und die Drehbuchautorin sah sich denn auch mit dem Vorwurf konfrontiert, die Rolle des Landes „falsch“ dargestellt zu haben. Wie auch immer: Die Verblendung der Reichen und Mächtigen, die im Grunde nichts zu fürchten haben, weil sie alles unter sich aufgeteilt haben, wird auf schockierende Weise bloßgestellt. Einzig die Medien (und in geringerem Ausmaß Social Media) sind noch Instrumente, die ungezügelte Korruption der Werte aufzudecken. Das ist ein ziemlich optimistisches Motiv, das sich im Übrigen wie ein roter Faden durch alle vier genannten Serien zieht.
Dringlich sei auch auf die zwölf Episoden von Through the Darkness (im koreanischen Original: „Die, die in die Gedankenwelt des Bösen schauen“) hingewiesen. Die Serie, nach dem Drehbuchdebüt (!) der Autorin Seol Yi-na, basiert auf der Biografie des ersten Profilers der koreanischen Polizei, Kwon Il-Yong, der in den neunziger Jahren anhand der Erfahrungen des FBI beginnt, die sich häufenden Fälle von Serienkiller-Morden mit wissenschaftlichen Methoden zu analysieren – selbstverständlich gegen den erbitterten Widerstand der etablierten Polizei, die sich gegen diesen „Unfug“ mit Händen und Füßen wehrt. Wer an die von David Fincher produzierte Serie Mindhunter denkt, liegt nicht falsch: Das gleichnamige Buch des FBI-Pioniers John E. Douglas, auf dem Mindhunter basiert, wird auch von seinem koreanischen Kollegen geschätzt und studiert. Und ähnlich wie sein US-Kollege steigert sich Song Ha-young, wie der Profiler in der Serie heißt, in einem Maße in seine Arbeit hinein, dass es schon unheimlich ist – nicht nur uns, sondern auch seinem Umfeld. Er steht, ganz wie der US-Protagonist, mehrmals kurz vor dem Zusammenbruch. Dass eine Frau eine solch nervenaufreibende Serienkiller-Geschichte schreibt, ist schon ziemlich ungewöhnlich, dass darin eine Frau, Polizei-Captain Yoon Tae-gu, eine zentrale Rolle spielt, noch mehr. Sie ist die vielschichtigste Figur in dieser extrem spannenden Serie.
Auf die vielen famosen Beteiligten dieser faszinierenden Serien einzugehen, würde den Rahmen sprengen. Nur so viel: Die Schauspielerinnen und Schauspieler, deren Namen uns leider wenig sagen, sind bis in die kleinsten Nebenrollen großartig. Viele von ihnen sind gar nicht so sehr in Kinofilmen im Einsatz, sondern spezialisert auf Serien und auf diesem Gebiet große Stars. Es ist bewundernswert, um stellvertretend nur Song Hye-kyo als Mobbing-Opfer/Rächerin in The Glory oder Kim Nam-gil als Profiler in Through the Darkness zu nennen, welch gewaltige Mengen an Dialog und wie viel physische Präsenz diese Menschen scheinbar mühelos stemmen. Der koreanische Star-Kult, das Umfeld, in dem diese Serienlandschaft blüht und gedeiht und die handfesten wirtschaftlichen Fakten – all das soll an dieser Stelle ein anderes Mal beleuchtet werden.