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Kleine-schmutzige-Briefe

Filmstart

Kleine schmutzige Briefe

| Alexandra Seitz |
Wer hat sie geschrieben?

 

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Während im nahegelegenen London die Suffragetten auf die Barrikaden gehen, um das Allgemeine Wahlrecht für Frauen zu erkämpfen, werden im malerischen Küstenörtchen Littlehampton, Sussex, anonyme Briefe geschrieben. Von solcher Schamlosigkeit und derart unflätigem Sprachgebrauch, dass die wohlgeordnete Welt im Vereinigten Königreich der 1920er-Jahre, bekanntermaßen eine der strengen Sittsamkeit, glatt untergehen würde – wäre diese Welt nicht zugleich eine der Doppelmoral und des Standesdünkels. Sowie der Sensationslust auf einen gewissen Kitzel an jener Stelle, an der man sich nicht kratzen darf, jedenfalls nicht in aller Öffentlichkeit. Also wird, wann immer die Gelegenheit sich bietet, aus den Briefen zitiert und sich entrüstet.

Sie, die Thea Sharrocks auf einem tatsächlichen Skandal beruhender, schwarzer Komödie den Titel geben, treffen zunächst lediglich bei Jungfer Edith Swan ein. Als Älteste von elf Geschwistern lebt sie noch im Haushalt der Eltern, den Vater Edward mit dem eisernen Griff des unbestrittenen Patriarchen führt. Natürlich ist es dem Alten ein Dorn im Auge, dass seine Edith sich mit Nachbarin Rose Gooding anfreundet, einer lebenslustigen Irin mit Kind und ohne Mann. Dass Rose die Briefschreiberin ist, liegt für die alsbald antretenden, bis auf eine Ausnahme männlichen Vertreter der Staatsgewalt ebenso auf der Hand, wie den Zuschauenden sowie – dies ist ihr offizieller Titel – „Woman Police Officer“ Gladys Moss klar ist, dass sie es nicht ist. Wer sich hingegen in touretteartigen Invektiv-Schwallen erleichtert, wird hier natürlich nicht verraten, auch wenn es meilenweit vorherzusehen ist.

Die eigentliche Frage lautet ohnehin: Was will uns diese alte Geschichte heute bedeuten? Erinnert sie uns daran, wie eingeschränkt der Radius einer Frau vor gerade einmal hundert Jahren noch war? „Woman Police Officer“ Moss beispielsweise ist es nicht gestattet zu heiraten, womit ihr auch das Kinderkriegen verwehrt ist. Oder erinnert sie uns vielmehr daran, dass Klassenunterschiede und Geschlechterdiskriminierung alles andere als Geister der Vergangenheit sind? Wer keine Lust auf dergleichen emanzipatorische Reflexionen hat, kann sich an der exzellenten Schauspielerei von Olivia Colman, Timothy Spall und Jessie Buckley schadlos halten beziehungsweise erfreuen und Kleine schmutzige Briefe schlicht als gelungenes Exemplar des verdienstvollen und ehrwürdigen Genres des englischen Kostümfilms goutieren.