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Am Rande der Welt

20 Jahre dok.at | Jubiläumsveranstaltung

Leben in Bildern

| Christoph Huber |
Die Jubiläumsveranstaltung zu 20 Jahre dok.at im Österreichischen Filmmuseum demonstriert die große Bandbreite des heimischen Dokumentarfilmschaffens.

Mit einer Auswahl von sechs außergewöhnlichen österreichischen Dokumentarfilmen aus den Jahren 1983 bis 2017 feiert das Österreichische Filmmuseum mit dem heimischen Dokumentarfilmverband dok.at dessen 20-jähriges Bestehen – und ein Filmschaffen, dessen Reichtum die Konventionen des orthodoxen Dokumentarfilms immer wieder sprengt.

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Für die Auswahl wurden sechs Kuratorinnen und Kuratoren bzw. Journalistinnen und Journalisten eingeladen, einen Film zu nominieren, der für sie etwas Besonderes repräsentiert. Im Anschluss an die Vorführungen werden sie im Gespräch mit den Filmschaffenden diese Besonderheit erforschen. Zudem wurden alle Regisseurinnen und Regisseure eingeladen, einen Kurzfilm als Partner-Werk zum Auftakt des  jeweiligen Abends auszuwählen. Jede Vorführung wird so zum Double Feature mit überraschenden Kombinationen: Die Palette reicht über das Dokumentarische hinaus bis hin zur Animation und einer klassischen Buster-Keaton-Stummfilmkomödie. Die Zusammenstellung mag nicht repräsentativ im erwartbaren Sinne sein, dennoch lassen sich an ihr die Qualitäten des österreichischen Dokumentarfilmschaffens ablesen, das im Wesentlichen ein Autorinnen-/Autorenkino ist. Der Schwerpunkt der Auswahl liegt auf der Vielfalt der jüngeren Generation, doch sie reicht zurück zu den Filmschaffenden, die einen modernen Zugang zum Dokumentarischen in den achtziger Jahren etablierten (Ruth Beckermann, Peter Schreiner). Sie demonstriert den weltoffenen Blick eines Kinos, das seine Stoffe ebenso vor der Haustür wie in der Ferne (etwa in China und Georgien) entdeckt. Und sie zeigt, wie man oft gerade im vermeintlich „Kleinen“ und Privaten die großen Entwicklungen beschreiben kann, die unsere Welt prägen: das Leben in Bildern (und Tönen).

 

Am Rande der Welt (1991/92)

In Goran Rebis Am Rande der Welt gibt es eine schmerzgetränkte, herzzerreißende, kaum erträgliche Szene: Man sieht die aufgebahrte Leiche eines neunjährigen Buben und dessen Mutter, die über ihm weint, schreit und klagt. Die Szene dauert sehr lange. So lange, bis man beginnt, ein Totenritual zu begreifen, in dem der innerste, intimste, privateste Schmerz nach außen und in die Öffentlichkeit getragen wird. Ein Wehklagen, das die Gemeinschaft ventiliert, die sich auf den Straßen sammelt, um in langen Schlangen am Sarg vorbeizuziehen. Es ist nicht nur eine Trauergemeinschaft, durch die sich die Handkamera, geführt von Jerzy Palacz, den Weg zu einer oder einem Toten bahnt.

Leichenzüge mit in offenen Särgen aufgebahrten Toten sind in Georgien und in dessen Hauptstadt Tbilissi nicht selten. Anfang der neunziger Jahre waren sie besonders häufig. In das junge Georgien reiste damals kein Mensch, den nicht eine tiefe Suche, ein schwerwiegendes Gefühl, eine existenzielle Frage dorthin trieben („Sie haben in Georgien mit allem gerechnet, nur nicht mit sich selbst,“ wird der Autor Clemens Eich in einem georgischen Krankenhaus hören). Niemand reiste aus Spaß in den Kaukasus.

In dieses Land, eigentlich einen Zustand, zog es Goran Rebic´  1991, im Jahr der Unabhängigkeit. Und dann noch ein Mal ein Jahr später. In Tbilissi herrschte Bürgerkrieg, wenig später begann der Sezessionskrieg in Abchasien. Rebic´ zeigt Videoaufnahmen der Straßenkämpfe (die Kamera als technische Verlängerung eines von Angst und Schrecken gebeutelten Körpers), und er zeigt Frauen auf Fauteuils in einem Wohnzimmer, die sich mit von Angst und Schrecken geweiteten Augen diese Aufnahmen ansehen. Er zeigt (und man hört) die Gesänge schwermütiger georgischer Lieder, sentimentales Klavierspiel, Frauen, Männer, Kinder, alle haben dunkle Ringe unter den Augen. Eine überlebensgroße Lenin-Statue stürzt unsanft auf den heutigen Freiheitsplatz.

Am Rande der Welt fängt einen politisch-gesellschaftlichen Schwebezustand ein, ein Taumeln zwischen der Hoffnung auf Frei- und Unabhängigkeit (frei wovon und unabhängig wofür?), divergierenden Vorstellungen darüber, was es bedeutet, eine Nation zu sein und dem Wunsch des Individuums nach Leben, einfach Leben. Am Rande der Welt erzählt von einem Land, das es so tatsächlich nicht mehr gibt: ein Land, das drauf und dran war, zu verschwinden, bevor es überhaupt existierte. (Anna Katharina Laggner)

 

Auf dem Weg (1986–1990)

Das Kino von Peter Schreiner (und den bescheidenen, intelligenten, humanistischen Menschen, der dieses geschaffen hat, was völlig untrennbar scheint) habe ich erst nach seinem digitalen „Comeback“ entdeckt, als er mit dem preisgekrönten Bellavista nach über einem Jahrzehnt Pause 2006 wieder einen Film vorlegte. Als ich dann Peters frühere Arbeiten sah, schien es mir unglaublich, dass ein so außergewöhnliches Werk zwischenzeitlich fast vergessen worden war. Auch deswegen, weil Schreiners Filme eine sinnliche, genuin filmische Schau- und Hör-Erfahrung bieten, die sich kaum in Worten wiedergeben lässt. Das beginnt schon bei der Einordnung: Trotz dokumentarischer Wurzeln gehen sie über das hinaus, was man gemeinhin Dokumentarfilm nennt. Sie streben nach maximaler Einfachheit und fangen dabei die widersprüchliche Komplexität des Lebens ein. Weil Schreiner weiß, dass man sich Zeit nehmen muss, um zum Kern der Dinge vorzustoßen.

Film als Lebensbegleiter und Ausdruck einer Sehnsucht nach Freiheit. Auf dem Weg scheint mir die freieste dieser schwebenden Collagen: eine Art transzendentaler Reisefilm, dessen Fluss unterschiedlichster Bilder und Töne eine hypnotische Suchbewegung formt, deren Beschreibung sie unweigerlich entzaubern würde. Man könnte die magischen Naturbilder erwähnen, die vulkanischen Landschaften und schattigen Wälder. Die bemerkenswerten Szenen von Proben mit Texten von Elio Vittorini oder mit Lied-Improvisationen sowie von Gesprächen, ernst und lachend, mit Freunden. Die atemberaubenden Farb-Blitze im Schwarz-Weiß-Material: klassische Gemälde (Fra Angelico), Kindermalerei und malende Kinder. Den kosmischen Rahmen eines Sternwarte-Besuchs. Und doch bleibt das Gefühl, das Wesentliche nicht zu treffen.

Dann schickt mir Peter die Begründung für den Kurzfilm, den er sich als Auftakt zum Screening von Auf dem Weg wünscht, die siebenminütige Animation Mond und Tiger (1984) von Bärbel Neubauer, und sagt damit selbst auch eigentlich alles, wofür mir die Worte fehlen: „Ich schätze den Film, weil er, über einen langen Zeitraum – Bild für Bild gemalt – entstanden ist, dabei aber gleichzeitig Dokument eines spontanen Gestaltungsprozesses ist: ein mitreißender Fluss, der den Betrachter in das Geschehen hineinzieht. Er repräsentiert für mich eindrucksvoll eine der grundlegenden kinematografischen Besonderheiten – die mir in meiner Arbeit immer wieder bei der Montage begegnet: dass nämlich in der Aneinanderreihung der Einstellungen etwas gänzlich Neues entstehen kann, ein Fluss, der weder im Konzept noch während des Drehens so absehbar war, der aber schließlich den Film ausmacht, der Film ist.“ (Christoph Huber)

 

Double Happiness (2014)

Ich hatte Ella Raidels 45-minütigen Dokumentarfilm Subverses. China in Mozambique (2011) gesehen und hatte ihre im Schüren Verlag publizierte Doktorarbeit über den taiwanesischen Meisterregisseur Tsai Ming-liang gelesen. Die Künstlerin/Autorin begann mich zu interessieren, weil sowohl Film als auch Buch die – meiner Meinung nach – richtigen Fragen stellten. Mit Subverses war Raidel ihrer Zeit Jahre voraus, weil damals, 2011, kaum noch jemand die sich anbahnende Beziehung zwischen vielen afrikanischen Staaten und der Volksrepublik China wahrnahm, eine seltsam friedliche Kolonialiserung mit wechselseitigem Benefit. Als ich dann später ihren Film Double Happiness sah, war ich erst recht begeistert, lässt sich doch kaum ein intelligenterer, tiefsinnigerer und mit so viel Einfühlungsvermögen und Gespür gestalteter filmischer Essay denken.

Unter „double happiness“ versteht man im chinesischen Raum jenes Glück, das sich automatisch verdoppelt, wenn zwei Menschen beschließen, für immer miteinander zu leben. Ella Raidel hat dieses schöne, optimistische Bild als Titel für ihren ersten langen Dokumentarfilm gewählt. Doch, siehe oben, man sollte eher von einem Essay sprechen, nicht von einem Dokumentarfilm, und schon gar nicht von der handelsüblichen Globalisierungs-Doku. Ausgehend von der viel publizierten, aber eher banalen Tatsache, dass „die Chinesen“ in der Nähe der Freien Wirtschaftszone Shenzhen die oberösterreichische Touristenattraktion Hallstatt, oder zumindest Teile davon, quasi maßstabgetreu nachgebaut haben, wirft Raidel einen sehr präzisen Blick auf das heutige China, völlig unbeeindruckt von den beiden Gegenpolen des aktuellen westlichen China-Bildes, das zwischen atemloser Bewunderung für das „Wirtschaftswunderland“ und platter Kritik an den „politischen Verhältnissen“ wenig Spielraum lässt. Dank eigener kluger Beobachtungen und mit Hilfe hervorragend ausgewählter Gesprächspartnerinnen und -partner, vornehmlich aus den Bereichen Architektur und Stadtplanung, entsteht das Panorama eines Landes an einem heiklen Punkt seiner politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung.

Wie jeder gute Film wirft auch dieser mehr wichtige Fragen auf, als er beantwortet – wie die nach dem Verhältnis von Tradition, Moderne und Zukunft, zwischen realen Gegebenheiten und spätkapitalistischen Träumen, zwischen notwendigem Fortschritt und der Bewahrung einer intakten Umwelt. Double Happiness würde wohl auch darin bestehen, diese zum Teil recht heftig klaffenden Gegensätze miteinander zu „vermählen“.

Sehr gerne hätte ich übrigens Ella Raidels neuen Film A Pile of Ghosts ausgewählt, aber dessen Premiere steht noch aus und wird wohl bei einem der größeren internationalen Filmfestivals erfolgen. (Andreas Ungerböck)

 

Oceanul mare (2009)

Ich weiß nicht mehr genau, wo ich Katharina Coponys Oceanul mare das erste Mal gesehen habe, wahrscheinlich aber bei der Duisburger Filmwoche 2009. Damals war China als neuer globaler Motor der Weltwirtschaft schon groß im Gerede, auch wenn es noch keine chinesischen Bücher auf Thalia-Regale geschafft hatten.

Ich erinnere mich an den flanierenden Gestus des Films, daran, wie er einen, vermittelt über Autofahrten oder diese kleinen Zügen, die es sonst nur für Touristen gibt, auf eine Reise mitnimmt. Fast konnte man glauben, sie führte nach China selbst, aber China ist, wie Coponys impressionistische, narrative Schließungen bewusst vermeidende Arbeit nahelegt, ja eigentlich schon überall. In Bukarest hat es etwa die Gestalt des Red Dragon Markets, eines überdachten Monsters von einem Mall, das die kleingewobene Struktur eines Straßenmarktes ins Innere verlegt.

Auch sonst zeigt der Film die rumänische Stadt vor allem als einen deterritorialisierten Raum, ein endlose Randzone, die von den Einwanderern kulturalisiert wurde: Die Geschäfte und Restaurants (manche mit Karaoke), die brutalistischen Gebäude, man könnte sie wohl auch in China finden. Einzig auf einer Wohnzimmerwand hängen, wie als Ersatz, unzählige Reliquienbilder – Yuexia, eine der zwei porträtierten Frauen hat einen rumänischen Ehemann. Alles ist hier spezifisch und zugleich schon das Vexierbild einer globalen Gleichförmigkeit. 

Generell schätze ich (dokumentarische) Filme, die sich nicht im Thesenhaften verlieren, um Zusammenhänge sichtbar zu machen, sondern stattdessen – Manny Farbers berühmter Begriff der Termitenkunst steht dafür Pate — wie ins Innere eines Stammes führen, um dort von außen unsichtbare Bahnen und (Irr-)Wege freizulegen. Oceanul mare ist dafür ein wunderbares Beispiel: Er ist einerseits das Porträt einer chinesischen Diaspora, die nach 1989, nach dem kataklystischen Ende der Reformbewegung, ihr Glück in der Fremde suchte – am besten dort, wo es noch Pioniergeist brauchte. In den Off-Erzählungen, die über anonyme, manchmal gespenstisch wirkende Stadtansichten gelegt werden und die Vorgeschichten der porträtierten Menschen einholen, meint man dann auch das Echo anderer, weiter zurückliegender Auswandererschicksale zu hören.

Auf der anderen Seite ordnet der Film seine mannigfaltigen Eindrücke in einer klugen Montage, die auch keine disruptiven Bildwechsel scheut, zu einer ökonomischen Gegengeschichte zum westlichen Vorwärtsdrang: eine Geschichte, die, wie Anna Lowenhaupt Tsing sagen würde, von der „Übersetzung von Erwartungshaltungen“ lebt. Ein Chinese will eigentlich in die USA und wird in Rumänien mit „Slippers“ zum gemachten Mann. (Dominik Kamalzadeh)

 

Was uns bindet (2017)

„Halbherzigkeit ist nix, weder in einer Beziehung noch beim Sanieren“, sagt der Baumeister bei der Begehung. Er umreißt damit eine unangenehme Tatsache: Die Renovierung wird aufwändig, wenn man sie ordentlich angeht. Aber deswegen alles einfach so lassen? Die Szene ist ein Glücksfall in Was uns bindet. Das Alltägliche bekommt auf einmal enorme metaphorische Wucht, als da hinter einer Holzverschalung die verschimmelte Wand zum Vorschein kommt: Die Fassade stimmt, aber dahinter bröckelt es. Was sollen die Nachbarn nur denken?

Eigentlich wollte Ivette Löcker einen Film über den Lungau machen, die Landschaft ihrer Herkunft, und hinterfragen, was sie, die seit Jahren in Berlin lebt, noch mit dieser Gegend verbindet. Es wurde dann ein sehr persönlicher, schonungsloser, dabei nie voyeuristischer Film über ihre eigene Familie zum Zeitpunkt einer großen Entscheidung: Die Eltern von Löcker wollen ihren Töchtern das Haus überschreiben, in dem sie leben. Die Erbschaft soll davor geklärt sein, aber dieses Haus ist speziell: Oben lebt Mama, Papa hat sich im Keller eine Wohnung eingerichtet. Es ist eine Beziehungskonstellation, die räumlich das vollzieht, was in vielen aus Pragmatismus aufrechterhaltenen Ehen de facto stattfindet.

Löcker geht in ihrem Film den Biografien ihrer Eltern nach, und vor allem diesem unausgewogenen Arrangement auf den Grund: Warum leben die Eltern getrennt und doch unter einem Dach zusammen? Was hält sie noch, warum gab es nie eine Scheidung? Was ist es, das Löcker und ihre beiden Schwestern an diesen Ort bindet? Wie ist die Last zu bewältigen, die ein unaufgearbeitetes materielles Erbe mit sich bringt? Und warum sind da so ambivalente Gefühle den Eltern gegenüber, ein ewig schlechtes Gewissen, eine Bringschuld, die nie beglichen werden kann?

Die Antworten auf diese Fragen betreffen fast alle Menschen, die Eltern und eine Vergangenheit haben: Was uns bindet schildert unsentimental, wie Erwartungen und Hoffnungen ein Leben lähmen können, wie Bequemlichkeit und Entscheidungsscheu eine Freiheit verhindern, und was das für die nachfolgende Generation bedeutet. (Magdalena Miedl)

 

Wien retour (1982/83)

Als Ruth Beckermann 1982/83 gemeinsam mit Josef Aichholzer den Film Wien Retour drehte, war die Zeit des Faschismus so lange her, wie die Zeit der Entstehung des Filmes heute für mich zurückliegt. In einer schönen, winterlichen Zugfahrt nähert sich die Filmemacherin von Osten her der Stadt Wien, dem zweiten Bezirk, der „Mazzes-Insel“, wie jener Teil der Stadt noch bis in die neunziger Jahre allen Wienerinnen und Wienern bekannt war. Auf der Prater Hauptalle trifft sie den ehemaligen KPÖ-Politiker Franz Weintraub, Jahrgang 1909. Er teilt mit der Filmcrew und dem Publikum Erinnerungen an das Wien der 1930er Jahre. Beckermanns lockige Haare wehen immer wieder ins Bild, wir hören ihre Stimme. Sie ist da: präsent, interessiert, involviert. Und lässt ihr Gegenüber erzählen von jenem Wien vor dem Krieg, in dem ein jüdisches Kind nie allein war und die Arbeiterbewegung attraktiv war für Jung und Alt. Beckermann hört zu, wohlwollend, behutsam. Wir spüren, sie hört für uns so besonders aufmerksam zu – und für sich selbst. Unsere bis dahin ungestellten Fragen werden ihre Fragen. Weintraub erinnert sich an das „Frecherwerden der reaktionären Kräfte, das war damals in den Jahren 24,25,26“. Und da spürt man zum ersten Mal, dass der Film heute noch etwas zu sagen hat, sich die historische Dokumentation mit unserer Gegenwartverbindet, beinahe schmerzhaft.

Weintraub erzählt von der Faszination der Sozialdemokratie und erinnert sich an den Brand des Justizpalastes im Jahr 1927. Er war 18 Jahre alt, hatte Angst, fühlte sich hilflos. Und dann wendet sich das Blatt: „Das, was wir bisher als faschistische Hahnenschwänzlergruppe verachtet und verlacht haben, war auf einmal in der Regierung, hat das Kommando über die Exekutive gehabt“, erinnert sich Weintraub – und wieder meldet sich Unbehagen bei der Zuschauerin, gesellt sich ein Zittern der Bauchdecke zur Enge in der Kehle. Im Jahr 1932, nach den Gemeinderatswahlen in Wien, wird er in der Nähe der Universität von Nazis zusammengeschlagen und schließt sich in der Folge der „linksradikalen Arbeiteropposition“ an. Weintraub wird verhaftet und für sechs Monate inhaftiert. Nach seiner Entlassung geht er in den kommunistischen Untergrund und flieht 1938 nach England. 1945 kehrt er, der den Großteil seiner Familie in der Shoa verloren hat, als Franz West nach Wien und in die Spitze der KPÖ-Führung zurück. 1968 distanziert er sich von der KPÖ. Bis zu seinem Tod im Jahr 1984 ist er Mitarbeiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands.

Für Ruth Beckermann war dieser Film nicht nur eine Entdeckungsreise in das ihr bis dahin unbekannte jüdische Wien der Vorkriegszeit, sondern auch in die Geschichte der Arbeiterbewegung. 1986 folgte der Film Die papierene Brücke, eine Reise durch Beckermanns eigene mitteleuropäisch-jüdische Familiengeschichte. Der 1990 gedrehte Film Nach Jerusalem beschließt die Trilogie, in der sich die Mitbegründerin des Filmladens mit der Frage nach jüdischer Identität und Heimat auseinandersetzt. Immer wieder nimmt sie in ihren Filmen das Thema „jüdische Identität und Wien“ auf, z.B. in homemad(e) über jüdische Händler in der Wiener Innenstadt oder Zorros Bar Mizwa, in dem sie vier Zwölfjährige auf dem Weg zu ihrer Bar Mizwa begleitet. Mit ihrem jüngsten Film Waldheims Walzer (2018), der getragen wird von Material, das Ruth Beckermann 1985/86 während Kurt Waldheims Wahlkampf gedreht hatte, gelang ihr wieder, was sich wie ein roter Faden durch ihr filmisches Werk zieht und was mit Wien Retour  seinen Anfang nahm: den Schleier des verlogenen Schweigens, der auf dem Verhältnis zwischen der Republik Österreich und der Geschichte der österreichischen Juden lag, mit Klarheit und Präzision hochzuheben. Das ist ihr größtes Verdienst. (Renata Schmidtkunz)