Ruth Beckermann hat für „Favoriten“ eine Volksschulklasse im gleichnamigen 10. Wiener Gemeindebezirk über mehrere Jahre mit der Kamera begleitet. Im Interview spricht sie über ihre Arbeitsweise, eine tolle Lehrerin und die Mängel im gegenwärtigen Bildungssystem.
Manchmal ist Schule doof. Mathematik, zum Beispiel. Melisa ist dran. Sie soll die Zahl 172 runden und eigentlich kann sie es auch. Nur heute ist ihr das alles zu viel. Die Viertklässlerin zögert, versucht es mit Raten: 101, 200, 181. Sie hat kein Glück. Frau Idiskut lässt nicht locker, baut ihr Brücken, fragt nochmal anders nach. Aber es hilft alles nichts. Nach einer gefühlten Ewigkeit darf sich die Schülerin setzen. In der Klasse ist es mucksmäuschenstill. „Urschade“, sagt die Lehrerin. Die richtige Antwort bleibt aus.
Dabei weiß Melisa, dass sie lernen muss. Sie hat Ziele und Ideen. Ob sie selbst einmal Pädagogin, Polizistin oder Krankenschwester wird, steht noch offen. Dass sie überhaupt davon träumt, verdankt sie Ilkay Idiskut, die das Mädchen seit der zweiten Klasse betreut. Die Frau Anfang dreißig unterrichtet an der größten Volksschule Wiens, Bernhardtsthalgasse, im 10. Gemeindebezirk. Fast alle Kinder dort haben einen Migrationshintergrund und Deutsch nicht als Muttersprache erlernt.
Ruth Beckermann hat Melisa und ihre Mitschüler und Mitschülerinnen von Herbst 2020 bis Frühjahr 2023 mit ihrer Kamera begleitet. Im Vorspann nennt die Regisseurin alle Kinder beim Namen. Einige davon werden im Gedächtnis bleiben: Alper, Beid, Hafsa, Fatima, Manessa, Melisa, Majeda. Sie schieben sich mit ihren kleinen Persönlichkeiten immer wieder in den Vordergrund und werden so zu den Protagonisten in einem Film, der viel, aber nicht ausschließlich im Klassenzimmer spielt. Ausflüge ins Schwimmbad, die Moschee oder den Stephansdom
lockern den Schulalltag auf und weiten den Blick. Besonders groß ist die Aufregung, als Beckermann überraschend Handys zum Filmen unter den Kindern verteilt. Der formale Bruch erweist sich als kluger Schachzug einer Dokumentarfilmerin, in deren Werk das Ungewisse, das nicht Kalkulierbare stets eine wichtige Rolle spielt. Davon abgesehen bleibt die Regisseurin unsichtbar, überlässt der Lehrerin das Parkett. Ilkay Idiskut sorgt im Klassenzimmer für eine Atmosphäre der Offenheit, Intimität und des Respekts. „Everybody“, ruft sie gleich zu Beginn und streckt beim Tanzen die Arme in die Luft. Spielerisch lernen die Mädchen und Buben Englisch: „To the left, to the right. To the front. Bring it back.“ Später singen sie alle zusammen ausgelassen den „Körperteile-Blues“.
Mit jedem neuen Schuljahr wird der Druck größer. Die erste Klassenarbeit, richtige Noten, Schweiß und Tränen kommen dazu. Immer deutlicher zeigt sich, wie sehr die Zukunft der Kinder von der Empfehlung für die weiterführenden Bildungseinrichtungen, der Mittelschule oder dem Gymnasium abhängt. Das macht es auch der engagierten Lehrerin schwer, die sich jeden Tag aufs Neue gemeinsam mit ihren Schülern in den Ring wirft – egal, wie schlecht die Voraussetzungen sind.
Gleich zu Beginn des Films gibt eine Personalsitzung einen ernüchternden Einblick in den Zustand des gegenwärtigen Bildungssystems: Die Sprachförderung wurde gestrichen, die Schulsozialarbeiterin fällt aus und die Schulpsychologin steht kurz vor dem Mutterschaftsurlaub. Als dann auch noch eine Quereinsteigerin ohne Deutschkenntnisse zu ihr in die vierte Klasse kommt, ist sogar die sonst so robuste und engagierte Ilkay Idiskut für einen Moment ratlos. Unterkriegen lässt sie sich trotzdem nicht. An ihre Grenzen stößt die Lehrerin erst, als sie selbst schwanger wird. Dass Idiskut die Klasse drei Monate vor Ende des Schuljahres verlassen muss, ohne dass ein Ersatz für sie gefunden ist, bricht ihr und den Kindern das Herz. Sie hat ihnen in der gemeinsamen Zeit so viel mehr beigebracht als es der Lehrplan verlangt. Das wissen die Mädchen und Buben. Mathe ist eben nur das eine. Wichtiger ist Hoffnung. Und Würde.
Das Interview lesen Sie in unserer Printausgabe 09/24
Frau Beckermann, diese Art der Langzeitbeobachtung von Kindern ist eher untypisch für Ihre Arbeitsweise. Wie kam es dazu?
Ich bin von den Themen und Formaten her nicht festgelegt. Die Zeit zwischen dem Kindergarten und dem Eintritt ins Teenagerdasein hat mich interessiert. Ich finde, dass Mädchen und Jungen in dieser Phase besonders aufnahmefähig und neugierig sind. Aber es gibt wenige Filme über dieses Alter.
Werden Kinder in diesem Alter unterschätzt?
Ja, sie nehmen viel mehr von dem auf, was um sie herum passiert, als wir ihnen zutrauen. Und sie bilden sich ihre Meinung. Wir hören ihnen nur oft genug nicht zu.
Warum haben Sie sich speziell für diese Schulklasse im 10. Bezirk entschieden?
Sie steht repräsentativ für viele Klassen, wie sie in europäischen Großstädten typisch sind. Diese Kinder sind unsere Zukunft. Was sie heute lernen, die Werte, die sie entwickeln, das alles wird die Gesellschaft schon bald bestimmen.
Wie sehr unterscheidet sich der Film von der Idee, mit der Sie an das Projekt herangegangen sind?
Wir sind von Anfang an sehr offen gewesen. Als ich mich für diese zweite Klasse und ihre Lehrerin entschieden hatte, kannte ich die Kinder noch nicht. Zuerst haben wir sehr viel im Unterricht mitgedreht. Das war anstrengend, weil die Schulstunden gefühlt sehr langsam verlaufen. Und in dem Alter braucht es immer eine Weile, bis die Kinder überhaupt ein paar Wörter sagen. Aber das musste ich auch erst lernen. Ein Film ist immer ein Prozess. Irgendwann habe ich entschieden, mich eher auf konkrete Situationen und weniger auf den kompletten Schulalltag zu konzentrieren. Trotzdem war es wichtig und notwendig, erst mal viel dabei zu sein, um ein Gefühl für die Kinder zu entwickeln.
Was hatten Sie formal im Sinn?
Für mich sollte es von vornherein in Richtung „Direct Cinema“ gehen. Ich wollte keine Interviews mit den Kindern machen. Wir haben sehr schnell entschieden, dass wir Großaufnahmen von ihnen brauchen. Um sie zu porträtieren. Wenn ein Kind aus dem Off etwas sagt, versteht man das nur sehr schlecht. Und dann gab es einen Moment, wo ich gedacht habe, jetzt möchte ich doch eingreifen. Also haben wir ihnen Handykameras gegeben. Das war ein Weg heraus aus dem gesetzten Format.
In welchen Abständen haben Sie gedreht?
Manchmal drei, manchmal sechs Wochen. Es war meistens abhängig vom Stundenplan, wann ein Besuch in der Moschee geplant war oder ein Ausflug ins Schwimmbad. Es gab feste Termine, die wir wahrnehmen wollten.
Kam es Ihnen auch auf bestimmte Themen im Lehrstoff an?
Ja, zum Beispiel, als es im Unterricht um den menschlichen Körper ging. Oder als der Krieg in der Ukraine ausbrach. Da wussten wir, jetzt müssen wir drehen, weil es die Kinder betrifft. Alle hatten Angst, und die Lehrerin hat das auch thematisiert. Andere Schlüsselmomente wie etwa die Diskussion, ob Frauen Bikinis tragen dürfen, haben sich spontan ergeben. Das konnten wir vorher nicht wissen.
Es heißt immer, Dokumentarfilme entstehen am Schneidetisch. Ist das auch Ihre Erfahrung?
Das Wunderbare an der Montage ist, dass man im Material wühlen kann. Vor dem Dreh hat man Ideen, alles ist abstrakt. Danach arbeitet man mit dem, was man hat. Man analysiert, setzt Schwerpunkte, sucht nach den verbindenden Elementen. Dazu gehört auch, dass man alles, was sich beim Filmen nicht ergeben hat, verwerfen muss. Nichts ist schlimmer, als sich krampfhaft an eine Idee zu klammern, die sich praktisch als unbrauchbar oder unmöglich erwiesen hat. Ich bin in der Hinsicht sehr radikal.
Entdecken Sie im Nachhinein manchmal Dinge, die in der Fülle des Materials untergegangen sind?
Die ganz tollen Momente spürt man beim Drehen. Die merkt man sich sofort.
Wie sieht es mit der Wahl Ihrer Protagonisten aus? Gab es Kriterien, nach denen Sie bestimmte Kinder in den Vordergrund gerückt haben?
Das war schwer. Ich wusste, ich konnte nicht alle Kinder porträtieren. Glücklicherweise haben sich fünf, sechs in der Klasse auf natürliche Weise als besondere Charaktere herauskristallisiert.
Ilkay Idiskut ist die treibende Kraft des Films. Was ist das Faszinierende an dieser Lehrerin?
Sie strahlt etwas Positives aus und hat eine unglaubliche Energie. Da ist jeder sofort neidisch, der schon aus der Schule raus ist. Man denkt sich, wieso haben wir nicht solche tollen Lehrer gehabt? Die Kinder sind auch alle wie bezaubert. Das merkt man schon daran, wie aufmerksam sie bei ihr im Unterricht sind. Ich habe im Zuge der Recherche viele Lehrerinnen und Lehrer gesehen, die hätte ich nicht filmen wollen. Die schauten schon von vornherein so traurig aus.
Was hat Sie am heutigen Schulsystem, wie Sie es an der Volksschule miterlebt haben, am meisten schockiert?
Dass es kein Personal gibt, um die Lehrkräfte zu entlasten. Wenn man sieht, wie diese Frau für ihren Beruf brennt und sich engagiert, fragt man sich, wo sind eigentlich die, die helfen? Die Sekretärinnen, Sozialarbeiterinnen, Psychologen, Übersetzer, da ist niemand. Es fehlt an Fachkräften, wie überall.
In seiner Ansprache zu Beginn des Schuljahres zeichnet der Direktor ein sehr ernüchterndes Bild. Da will man als Lehrer oder Lehrerin eigentlich gleich wieder nach Hause gehen.
Manche schaffen auch nur acht Stunden die Woche, weil kaum jemand in diesem System Vollzeit arbeiten kann. Das hält man nicht aus. Viele haben Burnouts.
Was macht Ilkay Idiskut anders?
Sie nimmt die Kinder ernst. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie viel die Mädchen und Buben mitbekommen. Natürlich klingt es manchmal schräg, wie sie sich ausdrücken. Aber sie interessieren sich für alles und haben etwas zu sagen. Ilkay lässt sich auf diese Gespräche ein. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Nur sehr wenige Lehrer haben überhaupt den Nerv dazu, weil es anstrengend ist. Wenn zum Beispiel ein Kind sagt, Männer sollen bestimmen, was Frauen anziehen, dann geht sie darauf ein und die Sache wird diskutiert. Es wird nicht darüber hinweggegangen. Das ist eine große Qualität. Oder wenn sich zwei streiten, stellt sie Fragen: Wer hat recht? Wieso? Und warum hat niemand eingegriffen? Das ist auch eine Art der Demokratieschulung.
In der Langzeit-Dokumentation „Herr Bachmann und seine Klasse“ gab es auch diesen einen charismatischen Lehrer.
Ich mochte den Film sehr, doch den Lehrer nicht.
Warum?
Weil er so eitel ist. Aber er ist natürlich auch aus einer anderen Zeit. Was mich interessiert, sind die Gegenwart und die Zukunft. Bachmann ist halt so ein 68er-Typ.
Wie haben Sie Ihre eigene Schulzeit in Erinnerung?
Ich bin gerne in die Volksschule gegangen. Danach habe ich Schule gehasst. Aber man kann das nicht vergleichen. Wir waren dort drei, vier Stunden am Tag. Es gab überhaupt keinen Stress. Ich war Teil einer völlig homogenen deutschsprachigen Klasse. Man hat alles sehr schnell gelernt: Lesen, Schreiben, Rechnen. Es wurde damals sehr wenig von uns verlangt.
Was haben Sie bei der Arbeit an „Favoriten“ für sich gelernt?
Ich wusste vorab kaum etwas über diesen Teil von Wien und über die Menschen, die dort leben. Manchmal liegt eine neue Welt ganz nah, einfach nur in einem anderen Milieu, einem anderen Bezirk. Was mich erstaunt hat, ist die große soziale Kompetenz der Kinder, die dort aufwachsen. Sie sind herzlich, sie sind emotional. Sie sind es gewohnt, in größeren familiären Zusammenhängen zu leben. Das ist heutzutage nicht mehr selbstverständlich.
Gibt es auch in der Erziehung Unterschiede oder Besonderheiten?
Es existieren andere Werte. In den Familien geht es stark um Konsum, viel Spielzeug oder tolle Rucksäcke. Bürgerliche Prioritäten wie Musikunterricht stehen hinten an. Die Schule müsste viel mehr für die Kinder tun und sich weder auf die Eltern verlassen, noch sie in die Pflicht nehmen. Es ist Aufgabe des Schulsystems, den Kindern zu ermöglichen, die deutsche Sprache perfekt zu erlernen. Damit die Kinder gerüstet sind mit dem Wissen, das für die Mobilität einer Gesellschaft erforderlich ist.