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Herr Bachmann und seine Klasse

Herr Bachmann und seine Klasse

Wofür wir lernen

| Alexandra Seitz |
Mit jeder Minute dieser Langzeitdokumentation wird die Welt ein klein wenig besser, weil die Hoffnung darauf, dass Hopfen und Malz noch nicht gänzlich verloren sind, ein klein wenig größer wird: „Herr Bachmann und seine Klasse“ von Maria Speth.

Es ist ein Wintermorgen und draußen vor den Fenstern noch eher dunkel. Der Lehrer schaut in die Runde, blickt in überwiegend müde Gesichter und schlägt vor, dass sich alle erst einmal noch ein paar Minuten ausruhen, bevor es losgeht mit dem Unterricht. Also Kopf auf die Arme auf der Tischplatte und Augen schließen und dösen. Aufforderung zum Schulschlaf? Im Ernst jetzt? Nicht weniger ungewöhnlich als dieser Einstieg in den Schultag ist, dass sich im zugehörigen Klassenzimmer ein Schlagzeug, mehrere Gitarren sowie ein Sofa befinden, dass mitunter alle durcheinander laufen, der eine dies, die andere jenes macht, und dass ganz allgemein der Eindruck herrscht, als wäre hierarchisch organisierter Frontalunterricht an diesem Ort nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Und wie sieht überhaupt der Lehrer aus?! Mit seiner Strickmütze, in Jeans und Turnschuhen, angetan mit AC/DC-Shirt und Kapuzenpulli, vom ganzen Erscheinungsbild her mehr leger statt autoritär.

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Dieser Lehrer ist Herr Bachmann, und er ist ein Lehrer, wie ihn wohl jeder und jede gerne (gehabt) hätte. Dass er Quereinsteiger in den Beruf ist, wundert einen nicht, wenn man ihn so unterrichten sieht, in Maria Speths Langzeitbeobachtung Herr Bachmann und seine Klasse. Mitunter fragt man sich sogar, ob er überhaupt Stoff vermittelt, ob die Kinder also etwas lernen, im Sinne von Faktenwissen und Lesenschreibenrechnen. Was er ihnen aber auf jeden Fall beibringt, und zwar, indem er es ihnen vorlebt, ist zuhören, nachdenken und artikulieren, sind Aufmerksamkeit und kritisches Bewusstsein, sind Empathie und Respekt. Also eigentlich alles, was es braucht, um „ein anständiger Mensch“ zu sein. Das ist ohnehin schon keine leichte Aufgabe; umso schwieriger ist sie jedoch in einem Einwanderungsland, wie Deutschland nun einmal eines ist (selbst wenn es das mitunter hartnäckig leugnet), und wo Menschen aus der ganzen Welt in einem Bildungssystem aufeinander treffen, das nicht nur über unzureichende finanzielle Mittel verfügt, sondern auch der Integration als Teil des Curriculums oftmals hilflos gegenüber steht. Herr Bachmann unterrichtet seit siebzehn Jahren an der Georg-Büchner-Gesamtschule in Stadtallendorf.

Das ist eine Industriestadt im Norden von Hessen, deren Einwanderungsgeschichte bis in die dreißiger Jahre zurückreicht, als während des Nazi-Regimes tausende Zwangsarbeiter in den dortigen Sprengstofffabriken beschäftigt waren. Nach dem Krieg entwickelten sich Teile der Stadt zu typischen Vertriebenengemeinden, heute ist Stadtallendorf von großen Betrieben wie dem Ferrero Werk oder der Fritz Winter Eisengießerei geprägt. 70 Prozent der knapp 21.000 Einwohner haben Migrationshintergrund, rund 5.000 von ihnen sind Muslime. Herr Bachmanns Klasse – Schüler und Schülerinnen aus neun Ländern im Alter zwischen 12 und 14 – spiegelt das wider. Mithin also handelt Speths Langzeitbeobachtung von den Herausforderungen, mit denen sich die deutsche Gegenwartsgesellschaft in ihren öffentlichen Schulen konfrontiert sieht.

Klingt langweilig? Noch dazu dauert Herr Bachmann und seine Klasse dreieinhalb Stunden. Braucht es die wirklich, diese genaue Aufzeichnung des alltäglichen Unterrichtens und Unterrichtet werdens, fragt man sich, und stellt bereits nach kurzer Laufzeit dieses ausgesprochen kurzweiligen Films fest: Ja, die braucht’s! Weil in den Wiederholungen mit der Zeit Nuancen sichtbar werden, die sich zu Veränderungen entwickeln, so dass am Ende tatsächlich die Wirksamkeit von Erziehung sichtbar wird: als Veränderung im Denken und im Verhalten; nicht als Ergebnis von Zurichtung oder Drill, sondern als Resultat von Prozessen der Einsicht und des Verstehens.

Herr Bachmann und seine Klasse – bei der Berlinale, wo er Premiere feierte, mit einem Silbernen Bären sowie dem Publikumspreis ausgezeichnet – dokumentiert demnach nicht nur einen gelingenden Gegenentwurf zur Bildungsmisere, er zeigt vor allem, welch komplexe Arbeit Erziehung ist, dass sie im Grunde und ihrem Wesen nach Menschenbildung ist und wie schön, erfüllend und beglückend es sein kann, sich ihr zu widmen. So sie denn tatsächlich ernst genommen wird.