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Lichter der Vorstadt – A wie Arbeit, K wie Kino

A wie Arbeit, K wie Kino

| Lukas Maurer |

Aki Kaurismäki, finnischer Romantiker und minimalistischer Humanist, beschließt mit „Lichter der Vorstadt“ seine den Globalisierungsopfern gewidmete zweite Verlierer-Trilogie.

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Die Filme von Aki Kaurismäki erkennt man auf den ersten Blick. Sie sind streng, schweigsam, statuarisch: Filmischer Stoizismus in vollendeter Form, ausgemalt in signalstarken Farben oder leuchtendem Schwarzweiß. Ihre Helden verlieren nicht viele Worte, rauchen und trinken im Übermaß und starren große Löcher in die Luft, kurzum: Sie üben sich in finnischer Melancholie, oftmals begleitet von wunderbar schnulzigen Tangoliedern. Eine schwere Last scheint auf ihren Schultern zu liegen, eine Last, die „das Leben“ heißt, aber auch „freie Marktwirtschaft“ oder in ihrer jüngsten Ausprägung „Globalisierung“. Kaurismäki-Figuren sind zumeist einfache Leute, Unterprivilegierte, die in Finnland leben und arbeiten, Müllmänner und Fabriksarbeiterinnen, Straßenbahnfahrer und Würstelverkäuferinnen; Menschen, die schlagartig mit Arbeitsverlust konfrontiert sind und/oder vor dem Nichts stehen.

Ihnen hat Kaurismäki in den 80er Jahren mit seiner Verlierer-Trilogie, auch „proletarische Trilogie“ genannt (Schatten im Paradies, Ariel, Das Mädchen aus der Streichholzfabrik), ein würdiges Denkmal gesetzt. Als ihr Schutzpatron und unversöhnlicher Realist ließ er es dabei aber freilich nicht bewenden, sondern kündigte in Folge der Fertigstellung seines Arbeitslosenmelodrams Wolken ziehen vorüber (1996) ein weiteres mahnendes Trip-tychon zur Lage der finnischen Arbeiterschaft an. Nach seinem bisher epischsten und reifsten Werk Der Mann ohne Vergangenheit (2002) legt er nun mit Lichter der Vorstadt den dritten und letzten Teil zur zweiten Verlierer-Trilogie vor, eine bittere Noir-Ballade über die Einsamkeit eines Wachmanns.

Kummerfalten und Optimismus

Einsam waren sie im Grunde schon immer, die Schützlinge von Aki Kaurismäki. Auf Koiskinen (Janne Hyytiäinen), den Helden seines jüngsten Films, trifft das aber in besonderer Weise zu. Er geht einem Job als Nachtwächter in einer Shopping Mall am Rande von Helsinki nach, einer Profession, die ihm leider nur allzu gut zu Gesicht steht. Nachtwächter sind zumeist Einzelgänger, und für Koiskinen gilt das gleich in zweifacher Hinsicht. Er ist Einzelgänger auch außerhalb der Dienstzeit. Von seinen Kollegen wird er geschmäht, von Frauen in nächtlichen Speiselokalen ignoriert. Koiskinen steht sprichwörtlich im Eck. Auf seiner Stirn liegen Kummerfalten, in seinen Augen die Sehnsucht und Traurigkeit eines streunenden Hundes. Aufmerksamkeit bekommt er nur von der Würstelbudenbetreiberin Aila (Maria Heiskanen) und dem gelackten Ganoven Lindström, der ihn prüfend ins Visier nimmt. Als trübsinniger Security Guard ist Koiskinen ein perfektes Opfer. Bei einem Juwelenraub im Einkaufszentrum soll er als Scharnier zwischen Drahtzieher und Ausführenden fungieren. Ein Lockvogel in Gestalt eines blonden Engels mit schwarzem Lidstrich wird ausgesandt, eine Femme Fatale namens Mirja (Maria Järvenhelmi), die Koiskinens Herz im Nu gefangen nimmt. „Shall we get married?“ will er gleich nach dem ersten Wortwechsel in lakonischer Verzückung wissen. Ein gemeinsamer Kinobesuch muss aber fürs erste genügen.

Kaurismäki, nie um grimmige Komik und pointierte Melodramatik verlegen, präsentierte sich in den thematischen Vorgängern von Lichter der Vorstadt als Erzähler in neuem Gewand. An Stelle des demonstrativen Pessimismus von einst ist in Wolken ziehen vorüber und Der Mann ohne Vergangenheit ein Optimismus und eine, bei aller Tragik des Gegebenen, Unbeschwertheit getreten, die sogar ein nahezu klassisches Happy End ermöglichen. Hier muss niemand fluchtartig das Land verlassen oder sich zur unbarmherzig proletarischen Rachegöttin wandeln. Die Hoffnung, die seine Figuren in früheren Filmen eher mitteilslos vor sich her trugen, hat ihnen Kaurismäki in diesen Arbeiten unübersehbar an die Brust geheftet. In Wolken ziehen vorüber ist das bescheidene Ehepaar Ilona und Lauri, das sich ihre Sony-Fernseher- und Versandhauscouch-Existenz nur auf Raten leisten kann, zwar massiv vom Rationalisierungswahn am Arbeitsmarkt bedroht, aber die Phase der Desillusionierung währt nur kurz. Von Beginn an wendet Kaurismäki seine ganze erzählerische und stilistische Energie dafür auf, den beispielhaften Zusammenhalt nicht nur der beiden, sondern der gesamten ehemaligen Kollegenschaft von Oberkellnerin Ilona in aller Anmut und Würde zu schildern, welcher letztlich dazu führt, dass sie ihr symbolträchtig auf den Namen „Arbeit“ getauftes Restaurant eröffnen können.

Über die erblühte Hoffnung ist aber auch der von Kaurismäki so rigoros praktizierte Stil-Minimalismus in Bewegung geraten: Dem beredten Schweigen seiner Helden hat sich in Der Mann ohne Vergangenheit ein regelrechter Wortschwall beigemischt, ihrer sonst so spröden Körpersprache Anflüge von Ekstase, für Kaurismäki-Maßstäbe große Gesten und Gefühle, in denen sich eine wohldosierte Portion Lebensfreude offenbart. Überhaupt erscheint diese den Obdachlosen gewidmete Container-Love-Story wie für die Breitwand komponiert: Die Bilder wirken ausladender als üblich, und die Wolkenformationen über Helsinki glänzen, als wären sie direkt dem big sky aus den Pionierwestern eines John Ford oder Howard Hawks entnommen.

Schicksal

Man durfte also gespannt sein, zu welchem Abschluss Kaurismäki diese sich anbahnende Trilogie der Hoffnung und des Glücks führen würde. Überraschenderweise setzt er seine eingeschlagene Erzählrichtung aber nicht fort, sondern besinnt sich in vielerlei Hinsicht wieder auf Werte und Formen seiner frühen Filme. Nicht im epischen Ausbau versucht er sich in Lichter der Vorstadt, sondern in der Optimierung des kleinen Formats. Seine mit unerreicht trockenem Humor gewürzten Dialoge sind wieder aufs Wesentlichste verknappt, seine Comic-ähnlichen, aber nie „un“realistischen Bildentwürfe wieder merkbar entschlackt. Verflogen sind jene emphatisch inszenierten Glücksmomente, die Ilona, Lauri oder dem Mann ohne Vergangenheit ab und an ein verhaltenes Lächeln ins Gesicht zauberten. Ein depressiver Schauer, eine Drangsal von unbestimmter Größe ist in seinen märchenhaften Realismus zurückgekehrt. Wie Das Mädchen aus der Streichholzfabrik (1990) ist Lichter der Vorstadt als unerbittliche, sich abwärts drehende Schicksalsspirale angelegt. Als die von der eigenen Alarmanlagenfirma träumende „Witzfigur“ Koiskinen auf die wahren Gründe hinter der Anbandelung seiner angebeteten Mirja stößt, geht alles ziemlich schnell: Er wird als Tatverdächtiger im Juwelenraub verhaftet, um seinen Job gebracht und schließlich, wortlos von ihm hingenommen, ins Gefängnis gesteckt. Auf die Erklärungsversuche Mirjas reagiert er mit einem achselzuckenden „No“: Trotziger Fatalismus ist alles, wozu Koiskinen noch fähig ist.

Als Gesellschaftskritiker hat es Kaurismäki heute freilich mit einem anderen Finnland zu tun als in den 1980er Jahren, vor allem mit einem Helsinki, aus dessen Stadtbild die schmuddeligen, bisweilen „realsozialistischen“ Charme verströmenden Bars und Speisesäle, überlebenswichtige Rückzugsoasen für fast alle Kaurismäki-Helden und von ihrem Regisseur stets mit unverwechselbar atmosphärischem Gespür in Szene gesetzt, weitgehend verschwunden sind. Der nordische Romantiker rückt ein Stadtviertel ins Zentrum, das von Glashochburgen des New-Economy-Zeitalters geprägt ist, eine unterkühlte, unbewohnte Büro- und Kaufhauslandschaft, in der sein an erheiternden Accessoires und anderen Absurditäten der Sixties und Seventies überreiches Kino-Universum besonders befremdlich erscheint. In einer hochtechnologisierten Welt (der Job des Tellerwäschers sieht heute anders aus als früher) hat eine Kaurismäki-Figur kaum noch Platz.Koiskinen bewohnt zuerst ein Kellerloch, später nur noch ein Zimmereck im Männerwohnheim. Er wirkt wie ein Überbleibsel, genauso wie sein schmucker Kleinwagen, mit dem er Mirja zum Konzert der Rockabilly-Fraktion Melrose chauffiert. Für Rock‘n‘Roll hat Kaurismäki (nicht nur als Filmemacher) immer Zeit. Wo der finnische Tango seinen Protagonisten tief aus der Seele spricht, stärkt ihnen verwegener Gitarrenrock den Rücken. Das ist – wenn auch ein wenig verhaltener als sonst – in diesem
Film nicht anders. Auf ihren Vorschlag, ihm das Tanzen beizubringen, entgegnet Koiskinen mit aufflackernder Selbstsicherheit: „I know how to rock‘n‘roll.“

Liebe

Wie wohl jeder Kaurismäki-Film auch, ist Lichter der Vorstadt ein Bekenntnis, zu den Menschen wie zum Kino: Der Titel, ein Tribut an sozialromantische Vorbilder wie Marcel Carné oder René Clair, die behutsam kontrastierten Farbtöne einmal mehr eine minimalistische Anverwandlung der formalen Pracht von Douglas Sirks zeitlosen Melodramen. Die Figur des Koiskinen trägt feine Züge eines Chaplin und dessen um befreiende Sozialisation ringenden Tramps, seine vermeintliche Herzensdame Mirja den unnahbaren und gefühlskalten Blick so mancher verführerischen Femme Fatale des Film Noir (obwohl: Staub saugen für ihren Boss muss auch sie). Aber auch wenn hier im Zitat abermals eine ungebrochen cinephile Aufrichtigkeit liegt, reicht Lichter der Vorstadt nicht ganz an die Klasse seiner Vorläufer heran. Das liegt zum einen daran, dass sich Kaurismäkis Kommentierung der wirtschaftsliberalen Auswüchse, in Der Mann ohne Vergangenheit noch überaus vielschichtig versinnbildlicht, zu sehr auf die (etwas redundante) Darstellung des städtebaulichen Wandels beschränkt, und zum anderen an einer Stiländerung: In das von Kaurismäki bislang so souverän gehandhabte deadpan acting, in die sparsame, ausdrucksverdichtende Gestik und Mimik seiner Schauspieler, hat sich eine seltsame, kaum zu erwartende Ausdruckslosigkeit gemischt – ob das teils auf seine (relativ) neuen Ensemblemitglieder Hyytiänen/Heiskanen/Järvenhelmi zurückzuführen ist, sei dahin gestellt.

Auf jeden Fall scheint Kaurismäki in seinem Hang zur grotesken Vereinfachung am Zenit angekommen zu sein. Lichter der Vorstadt ist ein bemerkenswerter Film, eine anrührende Passionskomödie, die in ihrer Hoffnungsbotschaft letztlich auch in Kontinuität zu den ersten beiden Teilen der „neuen“ Verlierer-Trilogie steht. In einem von bressonesker Kraft geleiteten, unvergesslichen Finale wird dem geschundenen Nachtwächter plötzlich die Liebe zuteil. Dafür genügt ein einziges Bild: Das Bild einer Hand, die rettend in die seine gleitet. Der Niedergang des Einsamen ist gestoppt: Licht in der Vorstadt.