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Fellwechselzeit

Lust an innovativen Erzählformen

| Kirsten Liese |
Das 41. Max Ophüls-Filmfestival in Saarbrücken

An einem Ort, an dem die Zeit seit Jahrzehnten stillsteht, inmitten von uralten Möbeln, Kleidern und Metzger-Werkzeugen ihres Großvaters, wächst die kleine Stephanie auf. Ihre Mutter liegt meist wie eine Kranke im Bett neben alten Puppen, liest grausame Märchen vor und lässt nicht zu, dass Stephanie Freundinnen ins Haus bringt. Der Vater verletzt die Tochter verbal, wenn sie ihn bei den Hausaufgaben etwas fragt. Die Hamburger Filmemacherin Sabrina Merten präsentierte mit Fellwechselzeit auf dem 41. Saarbrücker Max Ophüls-Festival eine außergewöhnliche Studie um das Martyrium eines Mädchens zwischen Vernachlässigung und Überforderung weltfremder Eltern. Eine stringente Handlung hat dieser Film, der seine Spannung ganz allein aus der unheimlichen Atmosphäre gewinnt, nicht. Umso bemerkenswerter erscheint es, wie sich die einzelnen beunruhigenden Tableaus, vielsagenden Blicke und unheimlichen Momentaufnahmen im Kopf zu einer gruseligen Geschichte zusammenfügen. Dass so ein großartiger Film, der den Wettbewerb haushoch überragte, bei der Preisverleihung leer ausging, erlebte man in Saarbrücken leider nicht zum ersten Mal.

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Aber die Lust am Innovativen, die sich in mehreren Produktionen dieses Jahrgangs ausdrückte, spiegelte sich auch im Festival selbst: In einer ehemaligen, leerstehenden C&A-Filiale als neuem geräumigem Festivalzentrum konnten sich Fachbesucher akkreditieren und Filmschaffenden begegnen.

Sensibel, originell und glaubwürdig beschäftigten sich die jungen Nachwuchsfilmer vordringlich mit Problemen und Lebenswelten Heranwachsender. In Lovecut (Fritz-Raff Drehbuchpreis), einer Koproduktion der Schweiz mit Österreich, suchen beispielsweise sechs Jugendliche im Internet nach Liebe und Sex in Wien. Ihrer Einsamkeit entkommen sie allerdings nicht. Insbesondere für einen Rollstuhlfahrer, der eine virtuelle Beziehung führt, gehen mit dem Wunsch seiner Freundin nach einem echten Treffen große Überwindungsängste einher, da er ihr bislang seine Behinderung verschwiegen hat. Bemerkenswert erscheint die Intimität und Verletzbarkeit, die das jugendliche Laienensemble vor der Kamera zulässt.

Während die meisten Beiträge bestürzend die Entfremdung und Beziehungslosigkeit zwischen Jugendlichen und ihren Eltern ins Visier nehmen, verirrte sich mit der Tragikomödie Irgendwann ist auch mal gut (Preis für die beste Darstellerin: Maresi Riegner) eine besonders anrührende Geschichte in den Wettbewerb, in der ein vereinsamter Mann verzweifelt um seine Eltern kämpft, die sich zusammen das Leben nehmen wollen. Sein alter Vater leidet an Parkinson, seine Mutter kann sich nach 50 glücklichen Ehejahren nicht vorstellen, ohne ihren Mann weiterzuleben, aber Karsten (großartig: Fabian Hinrichs), ausgerechnet Bestatter von Beruf, hängt an seinen Eltern als den einzigen Menschen, die ihm nahestehen. Regisseur Christian Werner bringt für alle seine Figuren viel Empathie in die Erzählung ein und verzichtet auf moralische Belehrungen und Schuldzuweisungen. Ein erfrischend schwarzer Humor tut der Erzählung gut, der tiefgehende Beitrag zum selbstbewussten Sterben hätte andernfalls schwer verdaulich ausfallen können.

Eine spannende futuristische Vision von einer Gesellschaft, in der aus Sicherheitsgründen keine öffentlichen Veranstaltungen vor Publikum mehr staatfinden dürfen, kombiniert mit starken Anleihen an die biblische Geschichte von Kain und Abel präsentierte Lisa Charlotte-Friederich aus Heidelberg in ihrem Debütfilm Live. Eine Psychologin, die Überlebende von Terroranschlägen betreut und ihr Bruder, ein Trompeter, verwirklichen in dieser fantasievollen Geschichte mit Hilfe zweier Hacker den riskanten Plan eines Live-Konzerts mit fatalen Folgen.

Den Preis für die beste Regie gewann verdient Johanna Moder, die in ihrem psychologisch scharfsichtigen Ensemblefilm Waren einmal Revoluzzer mit lakonischem Humor zwei Paaren Ende dreißig unter die Lupe nimmt, die einem alten russischen Freund in Not helfen, aber aus der Sache schnell wieder herauskommen wollen, als sich ihr Vorhaben schwieriger anlässt als gedacht. Denn Pawel kommt nicht alleine aus Russland, sondern mit Frau und Kind. Stück für Stück entlarvt der Film die individuellen egoistischen Motive, die sich Helene, Jakob und Volker nicht eingestehen wollen, aber auch die Gründe, warum Tina als einzige den Russen ihre Fürsorge anbietet. Allerdings erweisen sich die Gäste auch nicht gerade als pflegleicht, breiten sich aus, erwarten mit größter Selbstverständlichkeit, auf längere Zeit bei den Freunden zu wohnen und versorgt zu werden, laden sich Gäste ein und bringen das Leben der Paare in Unordnung.

Den Max Ophüls-Preis für den besten Film ging überraschend an Neubau, eine langsame eigenwillige Studie um das Leben in der Provinz, Familie und Verantwortung, dem Wunsch nach Veränderung und den daraus resultierenden Konflikten.

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