ray Filmmagazin » Interview » Penélope Cruz
L-immensita

Penélope Cruz | Interview

Mamma Roma

| Pamela Jahn |
Ob als Vollblut-Spanierin oder auf Italienisch, Penélope Cruz ist immer eine Wucht: In Emanuele Crialeses „L’Immensità“ ist sie erneut in einer großen Mutterrolle zu sehen.

Mit dem Mutterdasein kennt sie sich aus. Nicht nur ihren Lieblingsregisseur Pedro Almodóvar hat die spanische Oscar-Preisträgerin mehr als einmal inspiriert, sie für Figuren zu besetzen, die sie als alleinerziehende Frau oder Herz einer Familie zeigen. Penélope Cruz, die privat zwei Kinder mit ihrem Ehemann und Schauspielerkollegen Javier Bardem großzieht, hat daraus fast ein eigenes Genre für sich geschaffen. Erst vor zwei Jahren war sie für ihren Auftritt in Almodóvars Madres paralelas (Parallele Mütter) über zwei Frauen, die ungeplant schwanger werden, wieder bei den Academy Awards nominiert. In Venedig, wo der Film seine Weltpremiere feierte, hatte sie wenige Monate zuvor den Darstellerpreis erhalten.

Werbung

Auch Emanuele Crialeses L’Immensità ging im vergangenen Jahr bei den Filmfestspielen am Lido ins Rennen um den Goldenen Löwen. Der Film handelt von einer Familie im Rom der siebziger Jahre. Cruz spielt Clara, die in ihrer Ehe unglücklich ist, aber aus Liebe zu ihren Kindern bei ihrem gewalttätigen Mann bleibt und daran zerbricht. Es ist eine Rolle wie für Cruz gemacht, und vielleicht eine der glamourösesten Nebenfiguren, die sie je gespielt hat. Denn im Zentrum steht Luana Giuliani als Teenagerin Adriana, Claras älteste Tochter, die sich lieber „Andrea“ nennt und eine zarte Romanze mit einem Roma-Mädchen aus der Nachbarschaft beginnt.

 

Frau Cruz, wer ist Clara für Sie?
Penélope Cruz:
Für mich ist sie viele Mütter, viele Frauen in einer Person. Und sie befindet sich an einem Punkt im Leben, an dem ihr alles passieren könnte: Sie könnte innerhalb 24 Stunden tot sein oder die Chance auf eine glückliche Zukunft haben. Aber sie wird von ihrem Mann unterdrückt, sie lebt in Angst. Langeweile und Depression bestimmen ihren Alltag. Sie hat keine Hoffnung, keinen Plan B. Und das kann sie auch in den Augen ihrer Tochter Adriana sehen, die sich genauso fühlt, obwohl sie erst zwölf oder dreizehn Jahre alt ist. Beide sind gefangen. Beide fühlen sich wie in einem Käfig. Das verbindet sie. Aber es gibt viele Dinge, die sie einander nicht sagen können, die sich nicht in Worte fassen lassen. Der einzige Ausweg, die einzige Möglichkeit, sich der Realität zu entziehen, ist das Fernsehen. Filme, Musik und Tanz halten sie zusammen. Gemeinsam flüchten sie sich in eine andere Welt, indem sie sich vorstellen, dass sie diese Figuren im Fernsehen sind.

Der Film spielt im Rom der siebziger Jahre. Sie selbst sind 1974 geboren. Hatten Sie als Kind eine ähnlich enge Beziehung zu Musik und Fernsehen?
Penélope Cruz: Ja, ich war unsterblich in Adriano Celentano verliebt. Und ich war besessen von Raffaella Carrà. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen als Kind war es, mit meiner Großmutter in den Park zu gehen und die Musiknummern zu performen, die ich am Tag zuvor im Fernsehen gesehen hatte. Das ist ein Aspekt, der mich an diesem Film sehr berührt hat: Die Idee von Fernsehen als Fluchtmöglichkeit. Damit konnte ich mich identifizieren. Auch ich habe in meiner Kindheit sehr viel Zeit vor dem Bildschirm verbracht, weil es in unserer Nachbarschaft kein Kino gab. Ich liebte die Varieté-Shows am Samstagmorgen, in denen viele der Künstler auftraten, die ich damals bewunderte. Ich versuchte, alle Lieder auswendig zu lernen und, als ich sie draufhatte, zwang ich meine ganze Familie dazu, sich stundenlang meinen Auftritt anzusehen. Das war über die Jahre hinweg eine Qual für sie – für mich war es das Schönste überhaupt. Ich fühlte mich in dem Moment wie ein Star. Und dank des Fernsehers und des Betamax-Geräts, das mein Vater ein paar Jahre später kaufte, konnte ich davon träumen, Schauspielerin zu werden.

Das klingt fast so, als wäre das Fernsehen Ihre Schauspielschule gewesen?
Penélope Cruz: Ja, ich habe so viel gelernt. Und das Tolle daran war, dass das, was ich im Fernsehen sah, auch immer mit Musik zu tun hatte, die ich schon als kleines Mädchen liebte. Ich habe achtzehn Jahre lang klassisches Ballett getanzt. Die Musik war also immer sehr präsent in meinem Leben. Und der Rhythmus des Fernsehens war meine Ausbildung. Erst als ich den Anruf für das Casting zu Jamon Jamon und Belle Époque bekam, bin ich von zu Hause weggegangen.

Adriana ist ein Mädchen, das sich als Junge identifiziert. Wie haben Sie sich als Teenager in Ihrem eigenen Körper gefühlt?
Penélope Cruz: Ich hatte großes Glück mit der Art und Weise, wie ich aufgewachsen bin. Meine Eltern waren sehr jung, als ich geboren wurde, und sie waren sehr aufgeschlossen. Bei uns daheim wurde immer offen über alles geredet. Geheimnisse oder Tabuthemen gab es nicht. Ich habe schon sehr früh gelernt, die Bedürfnisse anderer Menschen zu respektieren, zu akzeptieren und zu verstehen. Aber natürlich weiß ich, dass das keine Selbstverständlichkeit ist. Es hätte auch anders sein können. Viele Menschen in unserem Umfeld, in unserem Land, waren damals nicht so aufgeschlossen wie meine Eltern. Ich kann also auch verstehen, wie sich Adriana fühlt, die sich nicht nur mit ihrem Geschlecht abfinden muss, sondern zudem unter der Belastung einer katholischen italienischen Erziehung leidet. Und Clara fühlt sich in Rom, in ihrer Ehe, ihrer Haut genauso fremd. Nur im jeweils anderen können sie Verständnis für das enorme Bedürfnis nach Freiheit finden, das sie beide empfinden. Und wenn sie diese Freiheit nicht erreichen, werden sie irgendwann resignieren. Sie werden innerlich sterben.

Für viele Frauen hat sich die Situation bis heute nicht sehr verändert.
Penélope Cruz: Das ist ein weiterer Grund, warum ich den Film unbedingt machen wollte. Ich kenne einige dieser Frauen persönlich, und ich habe wirklich erschreckende Geschichten gehört. Man kann sich Filme wie L’Immensità nicht ansehen und denken: Zum Glück sind die Dinge im Jahr 2023 anders. Sie sind es nicht. Viele Frauen leben immer noch gefangen in ihren eigenen vier Wänden. Und wie viele Mütter müssen diesen häuslichen Terror tagtäglich vor ihren eigenen Kindern verbergen? Wie viele müssen eine Überlebensstrategie finden, weil sie in ihrer Ehe mit einem gewalttätigen Ehemann gefangen sind? Das hat sich bis heute nicht geändert. Und wenn sie endlich den Mut fassen, Schutz und Hilfe zu suchen, dann passiert oftmals immer noch nichts. Sie bekommen in den meisten Fällen keine wirkliche Unterstützung.

Warum ist es Ihrer Meinung nach so schwierig für Männer, die Gefühle von Frauen zu verstehen?
Penélope Cruz: Ich glaube nicht, dass man das so sagen kann, denn das wäre eine Verallgemeinerung. Und ich glaube nicht, dass Männer die Gefühle von Frauen grundsätzlich nicht verstehen. Jeder Mensch ist anders. Es hilft dem Feminismus nicht, allgemeine Annahmen zu treffen, denn das führt nur zu einer weiteren Spaltung der Geschlechter. Ich halte es für wichtiger, dass Kinder heutzutage so offen wie möglich erzogen werden, und dass sie alle gleich behandelt werden. Ich persönlich zähle sowohl Frauen und Männer zu meinen engsten Freunden. Und ich entscheide, wem ich was erzähle. Ich habe einen wunderbaren Partner, mit dem ich über alles reden kann. Auch Pedro Almodóvar ist einer meiner engsten Vertrauten. Er versteht mich und alle Frauen besser als jeder andere.

Die Geschichte, die Emanuele Crialese im Film erzählt, ist von seiner eigener Kindheit inspiriert. Was hat er Ihnen über seine Mutter erzählt?
Penélope Cruz: Wir haben nicht viel über sie gesprochen. Er hat mir ein paar Bilder gezeigt, die mir sehr geholfen haben. Bilder von seiner Mutter, aber auch von anderen Frauen. Frauen mit bipolarer Störung, zum Beispiel. Wir wollten uns nicht nur auf den autobiografischen Aspekt konzentrieren. Bei Clara wurde keine psychische Erkrankung diagnostiziert, und selbst wenn, hätte man es damals verschwiegen. Aber die Möglichkeit besteht natürlich. Andererseits stelle ich mir immer vor, dass diese Frau so voller Leben ist. Vielleicht wäre sie viel stabiler und glücklicher, wenn man sie einfach aus diesem toxischen Umfeld befreien und zu anderen Menschen bringen würde, die sie nicht unterdrücken. Eine eindeutige Antwort gibt es nicht.

Was muss Ihrer Meinung nach getan werden, um die Rechte von Frauen zu stärken und zu schützen?
Penélope Cruz: Ich möchte mich ungern zu politischen Fragen äußern. Aber ich glaube, wir müssen nicht das Rad neu erfinden. Wenn wir alle die Welt so sehen würden wie Emanuele oder Pedro, wäre uns schon sehr geholfen. Es geht um Respekt, es geht um Anerkennung, es ist wichtig, dass wir nicht wegschauen, wie es einige der Figuren im Film tun. Dann wären wir schon einen großen Schritt weiter.