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Evil Does Not Exist | Interview

„Mindestens genauso unterhaltsam wie Tiktok.“

| Dieter Oßwald |
Hamaguchi Ryūsuke über das Böse, langsames Kino und das ökologische Bewusstsein in Japan nach der Katastrophe von Fukushima.

 

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Herr Hamaguchi, was hat es mit dem Titel Ihres neuen Films auf sich? Das „NOT“ ist am Filmplakat in Rot gehalten, „EVIL DOES EXIST“ in Blau. Gibt es das Böse oder nicht?
Hamaguchi Ryūsuke: Die Antwort lautet ja und nein, es gibt beide Varianten. In der Natur existiert das Böse eigentlich nicht. Wenn aber ein Mensch eine Entscheidung trifft, dann lässt sich beurteilen, ob das böse ist oder auch nicht. In der menschlichen Gesellschaft ist für mich das Böse durchaus vorhanden.

Ihre Bilder wirken meditativ, wie entsteht das visuelle Konzept? Gibt es Storyboards oder lassen Sie sich spontan inspirieren?
Hamaguchi Ryūsuke: Bei Evil Does Not Exist gab es beide Vorgehensweisen. Ich verwende kein richtiges Storyboard, aber ich bereite natürlich die Szenen vor. In diesen Film habe ich ein bisschen mehr Vorbereitung hineingesteckt, als das in den vergangenen Werken der Fall war. Mein Kameramann und ich überlegten an den jeweiligen Schauplätzen vorab, wie die Aufnahmen aussehen könnten, und erst danach folgte das Drehbuch. Etwa die Hälfte des Films ist auf diese Weise entwickelt worden.

 

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„Filmmusik ist Betrug“, sagte Luis Buñuel einst. Was sagen Sie dazu, nachdem der Soundtrack so entscheidend bei Ihnen ist?
Hamaguchi Ryūsuke: Ich bin mir nicht so ganz sicher, was Buñuel damit sagen wollte. Es heißt ja oft, dass Musik die Details im Bild tötet. Das heißt, es werden symbolische Aspekte im Bild durch die Filmmusik betont. Diesen Effekt möchte auch ich vermeiden. Wenn das Bildmaterial an sich schon hervorragend ist, braucht es keine Musikuntermalung. Durch die Verbindung von beidem kann man allerdings eine Art ironische Nuance oder etwas Ungewöhnliches schaffen. Dadurch lassen sich neue Emotionen beim Zuschauer erzeugen.

Kann solch ein ruhiger Film in unseren hektischen TikTok-Zeiten das Publikum erreichen?
Hamaguchi Ryūsuke: Wenn ich ehrlich bin, habe ich gar nicht das Gefühl, dass meine Filme langsam sind. Sagen wir es mal so: Die Story geht nicht unbedingt voran. Vielleicht wird das von manchen als langsam empfunden. Das ist aber nicht ganz damit gleichzusetzen, dass im Film nichts passiert. Wenn man etwas beobachten kann, erkennt man auch, dass etwas passiert. Unter diesem Aspekt sind meine Filme mindestens genauso unterhaltsam wie TikTok.

Die Freundlichkeit im Umgang der Umweltaktivisten ist für europäische Zuschauer ungewöhnlich. Entspricht das der japanischen Normalität?
Hamaguchi Ryūsuke: Dieses Treffen ist damals tatsächlich so ruhig abgelaufen, wie man mir erzählte. Es gab diesen undurchdachten Plan, der den Einheimischen vorgestellt wurde. Die Teilnehmer sind nicht besonders umweltbewusst oder Öko-Aktivisten, sondern sie leben einfach an diesem Ort und möchten ihre Lebensumgebung beschützen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind Menschen dort hingezogen und haben sich etwas aufgebaut. Und in der aktuellen Situation versuchen sie, harmonisch miteinander zu diskutieren und zu sprechen. In der realen Geschichte gab es keine größeren Reibereien.

Wie groß ist das Umweltbewusstsein in Japan? Hat sich durch Fukushima in dieser Hinsicht etwas verändert?
Hamaguchi Ryūsuke: Ökologische Themen werden in Japan nicht sehr intensiv besprochen und debattiert. Bei den Klimazielen gibt es lediglich Appelle an die Unternehmen, daran zu arbeiten. Die erste Priorität gilt immer dem wirtschaftlichen Erfolg, Umweltschutz ist da nur eine Nebensache. Nach Fukushima gab es teilweise Bewegungen gegen Atomenergie, mittlerweile ist es allerdings so, dass die Regierung neue Atomkraftwerke plant. Wogegen man nur wenige Gegenstimmen aus der Bevölkerung hört. Das ökologische Bewusstsein in Japan ist allgemein sehr gering.

Welche Reaktionen haben Sie auf den Film bislang erlebt?
Hamaguchi Ryūsuke: Der Film ist in Japan noch nicht regulär in den Kinos angelaufen, sondern startet erst Ende April. Bei den Vorab-Premieren kamen viele Zuschauer mit einem Fragezeichen im Gesicht aus den Kinosälen und wunderten sich, was sie da gerade eigentlich gesehen hatten.

Ist das die ideale Reaktion, die Sie sich für den Film wünschen?
Hamaguchi Ryūsuke: Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich gar keine Erwartungen daran, wie die Zuschauer reagieren. Ich verstehe, dass es für das Publikum den Effekt gibt, dass ihm ganz große Fragen zugeworfen werden. Ich selbst bin ein großer Filmfan, der mit viel Freude ins Kino geht. Es wäre schön, wenn ich den Zuschauern mit meinem Film ebenfalls eine Freude bereiten könnte.

Haben Sie selbst filmische Vorbilder?
Hamaguchi Ryūsuke: Ein ganz großes Vorbild für mich ist John Cassavetes. Außerdem der Spanier Víctor Erice, der Portugiese Manoel de Oliveira, oder auch Wim Wenders.

Wie hat Ihnen „Perfect Days“ von Wenders gefallen? Kann ein Europäer dem japanischen Lebensgefühl gerecht werden?
Hamaguchi Ryūsuke: Mit der Abbildung von lediglich einer Person lässt sich nicht eine ganze Gesellschaft abbilden. Es geht vielmehr um die Details dieser einen Figur. Das ist Wim Wenders sehr gut gelungen. Und darum geht es in seinem Film.

Wie empfinden Sie es, dass es Wim Wenders ist, dessen Film von Japan für den Oscar nominiert wurde?
Hamaguchi Ryūsuke: Es ist doch letztlich egal, welcher Film nominiert wird. Darüber mache ich mir jedenfalls keine großen Gedanken. Ich habe sehr viel Respekt vor Wim Wenders und freue mich einfach, dass ein japanischer Titel in Cannes Preise gewann und für den Oscar nominiert wurde. Es ist einfach eine große Ehre, dass das so gekommen ist.