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KINOS IN DEUTSCHLAND

Der Untergang des Kommerzkinos als Chance

| Morticia Zschiesche |
Zur Lage der kommunalen Kinos, Kinematheken und Filmmuseen in Deutschland

„Für 860 Millionen Euro, soviel hat die Hamburger Elbphilharmonie gekostet, für 860 Millionen Euro könnten in allen deutschen Großstädten für zehn Jahre Kinematheken gebaut und betrieben werden – und zwar komfortabel!“ Lars Henrik Gass, Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, klingt bedächtig und doch haben seine Worte Sprengkraft. Als Gast auf dem 14. Bundeskongress der Kommunalen Kinos, der im Dezember in Hannover drei Tage lang unter dem Motto „Kino Heute. Cinema and beyond“ stattfand, machte Gass nüchtern die Rechnung auf, welch geringen Stellenwert das öffentlich geförderte Kino in Deutschland hat.

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Nachdem ab 1966 in Essen, Duisburg und Mannheim die ersten kommunalen Kinos gegründet worden waren, eröffnete Hilmar Hoffmann als Kulturdezernent in Frankfurt am Main 1971 das erste „Kommunale Kino“, das diese Bezeichnung im Namen trug und einer Kulturbehörde unterstellt war. Er handelte sich damit sogleich eine Klage der kommerziell betriebenen Kinos ein, die jedoch damals vom Gericht abgewiesen wurde. So gibt es sie nun seit über 50 Jahren in Deutschland: Öffentlich mehr schlecht als recht geförderte Kinosäle, in denen oft prekär bezahlte oder ehrenamtlich tätige Enthusiasten anspruchsvolle Filmkunst der Öffentlichkeit zugänglich machen, sich dabei dem Aktuellen wie dem Abseitigen widmen, anspruchsvolle Retrospektiven entwerfen, an Erstlingswerke heranführen, ungewöhnliche Neustarts wagen, große Filme auf DCP oder 3D zeigen, beliebte Klassiker auf 35mm feiern, Experimentelles auf 16mm projizieren oder rare Kellerfunde auf Super8 präsentieren. Der kleine David des kommunalen Kinos steht im Schatten des Multiplex-Goliaths und ist doch von so unschätzbarem Wert für die komplexe Welt der Film- und Kinokunst und ihr Erbe.

Starke Konkurrenz

„Andere Filme anders zeigen“ – genau hierfür setzt sich der Bundesverband kommunale Filmarbeit e.V. ein, in dem über 140 der nicht-gewerblichen Kinos, Kinematheken und Filmmuseen in Deutschland organisiert sind. Bundesweit standen 2017 laut Bundesförderanstalt FFA mehr als 500 nicht-gewerblichen Spielstätten knapp 1.200 kommerzielle Filmtheaterunternehmen gegenüber. Unter stark schwankenden und generell sinkenden Besucherzahlen leiden beide Kinoformen: 2018 kamen im ersten Halbjahr 15 Prozent weniger Zuschauer in die Säle als im Vorjahr. Das sind mal eben neun Millionen weniger Ticketverkäufe und entsprechend weniger Einnahmen für die ohnedies schon angeschlagenen Häuser. Fußball-WM, Hitzewelle, wenige interessante Filmstarts, starke TV-Serien und wachsende Streaming-Abonnenten – der Kinobesuch hat starke Konkurrenz und ist nicht mehr selbstverständlich.

„Der Rückgang ist nicht aufzuhalten. Aber der Untergang der kommerziellen Kinos ist unsere Chance.“ Lars Henrik Gass beschwört das Erbe von Hilmar Hoffmann – nicht ohne Motivation. Schließlich leitet er seit zwanzig Jahren das von Hoffmann gegründete Kurzfilmfestival in Oberhausen, bei dem 1975 der Bundesverband kommunale Filmarbeit gegründet wurde, welcher seitdem um die Belange des Kommunalen Kinos kämpft. Mehr als das Theater ist das Kino immer schon ein Ort gewesen, der für alle Schichten offen steht und über Filmgeschichte Gesellschaft verhandelt. „Aber ich fürchte, dass man heutzutage immer noch nicht begriffen hat, welch immense kulturelle Bedeutung das Kino hat“. Borjana Gakovic, medienpolitische Sprecherin des Bundesverbands, die durch das Kongressprogramm führt, stöhnt über die mangelnde Anerkennung und gibt sich gleichzeitig kämpferisch: „Kino wird in Deutschland immer noch oft ausschließlich als Industriezweig gedacht. Worum es uns aber geht, ist klarzumachen, dass Kino auch eine Kulturbranche ist. Wir versuchen klarzumachen, dass Kino immer schon eine Kunst war und ist.“

Prekäre Kopienlage

Um Kinokunst kulturpolitisch stärker zu fördern als bisher, ist politisches Umdenken nötig, und die Zeit dafür ist ziemlich knapp geworden, damit viele der Filme zukünftig nicht mehr nur „anders“, sondern überhaupt noch gezeigt werden können. Denn mit der rasanten und nahezu vollständigen Digitalisierung der Kinos verschwinden nicht nur nach und nach analoge Abspielstätten, um Produktionen im Sinne der Filmschaffenden authentisch vom Projektor aufzuführen, sondern auch die Möglichkeit, eine Vielzahl der noch nicht restaurierten Filme jemals zu sehen. „Vor allem die Kopienlage von Filmen, die von Frauen gemacht wurden, ist noch immer ziemlich schlecht“, sagt Gaby Babic von der Kinothek Asta Nielsen in Frankfurt am Main. Wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen aus den Kinematheken und Filmmuseen widmet sich Babic durch die Aufbereitung von Filmkopien jenen Werken, die sonst durch den Raster des offiziellen Filmkanons fallen. Anke Hahn von der Deutschen Kinemathek in Berlin konkretisiert die dramatische Lage: „Gerade die Kinemathek hat in den vergangenen Jahren prioritär Filme von Frauen digitalisiert. Diese werden aber häufig nicht nachgefragt, sondern immer wieder nur bekannte Filme wie Menschen am Sonntag. Zudem können noch einige Kinos 35mm-Filme spielen, aber 16mm-Projektionsmöglichkeiten kann man schon an einer Hand abzählen. Dabei sind gerade die Ränder der Filmgeschichte und auch viele Filme von Frauen auf 16mm gedreht, weil sie für unabhängige Produktionen günstiger waren. Doch haben diese Filme seltener Fürsprecher, weil sie unbekannter oder sperriger sind, und gelangen daher seltener in Digitalisierungsprojekte.“

Es klingt nach einem kaum zu lösenden Dilemma. Denn die zehn Millionen Euro, die die Archive des Kinematheksverbundes über zehn Jahre gestaffelt nach einem umstrittenen Gutachten der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC erhalten, reichen lediglich für eine selektive digitale Archivierung. Mindestens hundert Millionen Euro wären für umfassende Maßnahmen notwendig, die auch analoge Filmkunst mit einschließen. Unter der Überschrift „Digitalisierung allein ist keine Lösung“ wies bereits die Initiative „Filmerbe in Gefahr“ mit mehr als 5.500 Unterzeichnenden in einer Stellungnahme im Oktober darauf hin, dass mit der Schließung des letzten Filmkopierwerks beim Bundesarchiv in Berlin Ende 2018 die Sicherung des Filmerbes auf analogen Trägern ende. Und weitere Folgen sind absehbar, denn mit der Abschaffung der klassischen Film-Projektoren und Kopierwerke sterben derzeit ganze Berufszweige aus, wie zum Beispiel der des Filmvorführenden – ein Beruf, zu dem es wie bei vielen Kinoberufen keinen Ausbildungsgang gibt. Dies trotz des notwendigen Expertenwissens, das für den adäquaten Umgang mit Filmkunst notwendig ist. „Wir haben oft unsere 35mm-Kopien beschädigt zurückerhalten, so dass wir jetzt eigentlich nicht mehr verleihen können. Erhalt geht vor Benutzbarkeit“, ärgert sich Martin Aust vom Metropolis in Hamburg, denn viele seiner Filmschätze kann er deshalb über die Stadt hinaus nicht mehr präsentieren.

Harte Arbeitsbedingungen

Es ist eine eingeschworene Gemeinschaft von etwa hundert Cineasten, die sich hier in Hannover versammelt hat und die weiß, wovon sie spricht. Man kennt sich oftmals seit Jahrzehnten, wie beispielsweise Inka Gürtler, die nach dreißig Jahren (ihr Mann Alfred Meyer sogar nach vierzig Jahren) an der Spitze der Kinemathek Karlsruhe dem „Nachwuchs“ Platz gemacht hat, auch wenn dieser Nachwuchs mittlerweile schwer zu rekrutieren ist. Denn die Arbeitsbedingungen sind hart, learning by doing ist an der Tagesordnung und das Wissen ums „Kinomachen“ verschwindet stückweise mit jedem Ausscheiden von Personen. Fast konspirativ wirkt es daher, wenn sich die Gruppen in Workshops über die derzeitigen Herausforderungen austauschen, ein anspruchsvolles Programm zur Aufführung kommen zu lassen, welches Filmkunst abbildet, rechtlich abgesichert, über den Verleih lieferbar, dabei auch noch bezahlbar ist und zugleich möglichst im Originalformat in analogen oder digitalen Kopien unversehrt das Kino erreicht. Schließlich verdienen die öffentlichen Kinos mit ihren geringen Ticketpreisen wenig Geld, öffentliche Zuschüsse reichen für das Nötigste, und aufgrund der oftmals geringen personellen Ausstattung bleibt wenig Zeit für aufwändige Recherche und Auswahl aus der Flut von Filmen, die durch die Digitalisierung zur Verfügung steht. Sonderveranstaltungen mit Einführungen, Gästen und Filmgesprächen, die in den jüngsten Jahren immer mehr zu einem Muss geworden sind, ohne dass es finanziellen Ausgleich für den Aufwand gibt, besetzen alle Kapazitäten.

Allein die Annahme, die Kinos könnten einfach in einem weltweiten Katalog die gewünschten Filme für eine Reihe bestellen, ist falsch: Es existieren keine Komplettverzeichnisse oder gar feste Preise. „Die Recherche nach den Verleihrechten ist gerade bei internationalen Titeln oder Klassikern oft eine langwierige Sache. Der Anruf bei Kollegen hilft da so manches Mal“, beschreibt Gunter Pietschmann vom Karlstorkino in Heidelberg die detektivische Arbeit, die hinter den Kinoprogrammen steckt und manchmal einem Bazar gleicht, auf dem die Verleihkosten individuell verhandelt werden müssen. Das Ansehen der kommunalen Kinos bei den Verleihfirmen – und da sind sich die Anwesenden einig – ist zum Teil so gering, dass Filme nur über gute persönliche Beziehungen zu bekommen sind. Geradezu paradox mutet es da an, wenn auch die Filmkopien, die mit öffentlichen Geldern restauriert wurden, trotzdem noch hohe Verleihkosten für ebenfalls öffentlich geförderte Kinos bedeuten, wie beispielsweise bei der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, der DEFA-Stiftung oder bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern.

Es wird Zeit

Ist Hilmar Hoffmanns Erbe des kommunalen Kinos also gescheitert? Lars Henrik Gass blickt trotz allem zuversichtlich in die Zukunft und setzt neben der notwendigen politischen Akzeptanz der Kinokultur und der geregelten Musealisierung des Kinos auf eigenständige Kino-Kulturbauten in den Städten, um Filmkunst adäquat zu (re-)präsentieren: „Wie kann man das mediengeschichtliche Wissen über Kino in bestimmte Standards übersetzen, die höchsten ökologischen Standards entsprechen und in einer seriellen Bauweise umgesetzt werden können, aber trotzdem skalierbar, modifizierbar bleiben?“ gibt er zu Recht als Frage mit auf den Weg. Denn viele der kommunalen Kinos bleiben für die breite Bevölkerung nahezu unsichtbar und ohne eigene Identität. Sie sind ein Appendix in Kultur- und Veranstaltungshäusern wie dem Künstlerhaus in Hannover oder dem Karlstorbahnhof in Heidelberg, Teile von Volkshochschulen wie in Leverkusen oder Aachen, angedockt an Museen wie in Berlin, Frankfurt oder München oder aus der Hausbesetzerbewegung hervorgegangen wie das Kino im Sprengel in Hannover mit Wohnzimmercharme, aber ohne repräsentative Kraft.

Bleibt zu hoffen, dass der Kongress mit dazu beiträgt, Kinokultur endlich auch auf Bundesebene sichtbar zu machen. Wenn das Kieler Kino in der Pumpe Ziel rechtradikaler Bombendrohungen wird, nur weil es den – übrigens recht kritischen – Dokumentarfilm Wildes Herzüber den Sänger Jan „Monchi“ Gorkow der Punkband Feine Sahne Fischfilet zeigt, dann wird es Zeit zu handeln. Dann wird es Zeit, sich auf kulturpolitischer Ebene zu demokratischen und filmkünstlerischen Werten zu bekennen. Zeit, den Kommunalen Kinos, Kinematheken und Filmmuseen im wahrsten Sinn des Wortes mehr Raum zuzugestehen.