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Nicht die Porno-Stars sind bedenklich, sondern das System ist es!

| Marc Hairapetian :: Jörg Schiffauer |
Regisseurin Ninja Thyberg und Hauptdarstellerin Sofia Kappel im Gespräch über „Pleasure“.

Eine junge Frau von nicht einmal zwanzig Jahren möchte sich ihren Traum vom Showbusiness erfüllen, verlässt ihre beschauliche Heimat und zieht nach Los Angeles. Die Geschichte von Linnéa (Sofia Kappel), die ihr Zuhause in der schwedischen Provinz hinter sich lässt, um im sonnigen Kalifornien ihr Glück zu machen, hört sich zunächst geradezu klischeehaft an. Doch die junge Dame zieht es nicht nach Hollywood, um als Schauspielerin Erfolg zu haben, sondern sie strebt eine Karriere als Darstellerin in Hardcore-Filmen an – Linnéa möchte unter ihrem Nom de Plume Bella Cherry ein großer Pornostar werden. Und sie geht dieses Ziel anfangs nicht viel anders an als bei einer konventionellen Laufbahn in der Unterhaltungsindustrie: Linnéa/Bella sucht sich einen Agenten, knüpft Kontakte und versucht, die Anzahl ihrer Follower auf diversen sozialen Medien in die Höhe zu treiben.

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Etablierte Kunstformen haben sich längst wiederholt auf unterschiedliche Art und Weise mit der Pornobranche und deren subkulturellen Eigenheiten auseinandergesetzt oder diese als Projektionsfläche benutzt. Das Spektrum reicht da von Paul Thomas Andersons Geniestreich Boogie Nights bis zur Erfolgsserie The Deuce. Und im Videoclip zu Metallicas „Turn the Page“ spielt Ginger Lynn, eine ikonische Hardcore-Darstellerin der achtziger Jahre, die Hauptrolle. Regisseurin Ninja Thyberg geht – und das ist sowohl ideologisch als auch dramaturgisch ein höchst kluger Schachzug – an die Sache mit weitgehend unvoreingenommem Blick heran. Sie stellt die Hardcore-Industrie und ihre Repräsentanten und Repräsentantinnen nicht von vornherein ins Schmuddeleck. So findet Bella unter ihren Kolleginnen echte Freundinnen ebenso wie Konkurrentinnen. Die diversen Akteure dieser Branche erweisen sich als nette Kerle oder ziemlich miese Typen – wie das in allen anderen Bereichen des Lebens eben auch sein könnte.

Die Stimmigkeit ihres Regiekonzepts unterstreicht Thyberg, dadurch, dass sie einen großen Teil der Rollen in Pleasure mit realen Vertretern der Hardcore-Szene besetzt hat. Mark Spiegler, einer der bekanntesten Agenten in diesem Geschäft, spielt sich etwa selbst und zeigt dabei ein erstaunliches Maß an Selbstreflexion, indem er sich als reichlich – vorsichtig formuliert – ambivalenten Charakter präsentiert.

Folgerichtig spart Pleasure auch die dunklen Seiten dieses Geschäfts nicht aus, mit denen Bella auch immer wieder konfrontiert wird. Doch Thybergs Inszenierung verweist darauf nicht mit dem moralinsauren Zeigefinger, die Fälle von Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch erscheinen vielmehr als Verweis auf universelle Bruchstellen, die sich in vielen gesellschaftlichen Ebenen finden lassen. Schlussendlich stellt sich auch für Linnéa/Bella in einer speziellen Subkultur jene Frage, die Filme wie North Dallas Forty (1979) am Beispiel Profisport Football oder Wall Street am Beispiel Finanzindustrie allgemeingültig formuliert haben: „Welchen Preis bist du bereit für den Erfolg zu bezahlen?“ (Jörg Schiffauer)

 


 

Interview mit Ninja Thyberg und Sofia Kappel

von Marc Hairapetian

 

Ninja, du hast schon 2013 einen Kurzfilm mit dem Titel „Pleasure“ gedreht. Hattest du also schon lange den Gedanken, einen Film über die Porno-Industrie zu drehen, und was ist so faszinierend für dich an diesem Thema?
Ninja Thyberg: Ich weiß nicht, ob ich das Wort “fasziniert“ wählen würde, aber ich bin an dem Thema seit 20 Jahren interessiert. Insofern ist Pleasure tatsächlich ein Langzeit-Projekt. Ich habe dabei aus verschiedenen Blickwinkel daran gearbeitet. Nach dem ersten Sehen eines Pornos, der rein auf die Befriedigung der männlichen Triebe abzielte und die der Frauen außen vor ließ, wurde ich mit 16 eine wütende Anti-Porn-Aktivistin, natürlich ohne jemanden aus dieser Industrie zu kennen. Später hatte ich dann viel Kontakt mit der feministischen Bewegung ehemaliger Porno-Darstellerinnen. Ich schrieb auch einen Essay über das Thema. Als ich Regisseurin wurde, war mir klar, dass ich mich auch filmisch damit auseinandersetzen wollte. Beim Kurzfilm, der nicht die gleichen Charaktere und nicht die gleiche Story hat, stand mir nur sehr wenig Geld zur Verfügung. Ich entschied mich, tiefer in diese Welt einzutauchen, die mich eigentlich vorher abgestoßen hatte. So verschaffte ich mir ein Jahr nach dem Pleasure-Kurzfilm Zugang zu echten Porno-Sets, was nicht so schwierig war, wie ich dachte. Vorher hatte ich nur Dokumentationen gesehen und Bücher darüber gelesen. Mir war aber wichtig, eine realistische Innenansicht der Porno-Industrie zu geben, denn sie nur von außen zu verurteilen, erschien mir zu billig. Deshalb also ein zweiter, viel aufwändigerer Film namens Pleasure entstanden.

Du hast viele Leute aus dem Porno-Business eingesetzt. Waren die mit deinem Film am Ende zufrieden?
NT: Nicht alle waren glücklich damit. Es waren aber eher die Männer verärgert, als die Frauen, weil ich mit Sofia Kappel in der Rolle der Linnéa aus weiblicher Sicht an das Thema herangegangen bin. Dabei hatten alle selbstverständlich zuvor das Drehbuch gelesen. Zum Teil verstehe ich ihre Irritation, denn es ging mir nicht darum, was wir zeigen, sondern wie wir es tun. Das war anders, als was sie im Kopf hatten. Ich feiere nicht nur ihr Business, zeige auch die Schattenseiten und die sexuelle und seelische Ausbeutung der Mädchen. Für sie ist es aber ihr Beruf, den sie instinktiv gegen jede Einmischung von außen verteidigen wollen.

In der neuen Version von „Pleasure“ wirkt auch Mark Spiegler als er selbst mit. Er sieht wie ein freundlicher Hobbit aus. Man mag gar nicht glauben, dass er der einflussreichste Schauspielerinnen-Agent der US-Porno-Industrie ist. War es schwer, ihn für das Projekt zu gewinnen?
NT: Ich habe ihn sehr früh kennengelernt. Er fasste erstaunlich schnell Vertrauen zu mir, auch, wenn er sich nicht sicher war, ob ich seine Industrie nun attackieren oder verteidigen würde. Andere waren sich darüber wie bereits geschildert gar nicht so sehr bewusst, ließen sich vielleicht auch auf Eitelkeit auf “Pleasure“ ein. Von Anfang an habe ich Mark Spiegler gesagt, er soll sich selbst spielen, weil ich keinen anderen Schauspieler für ihn finden könnte. Das hat ihm natürlich geschmeichelt.

Sofia, „Pleasure“ ist dein erster Film als Schauspielerin. Haben dich die echten Porno-Darsteller und -Darstellerinnen, die mitwirken, unterstützt?
Sofia Kappel: Es war wirklich das erste Mal, dass ich vor der Kamera stand. Ich hatte vorher überhaupt keine schauspielerischen Erfahrungen. Die Leute aus dem Porno-Business haben mir – wie auch Ninja – ungemein geholfen. Um meine Figur glaubhaft zu verkörpern, war es mir wichtig, viel mit den Frauen aus dem Bereich zu sprechen. Sie nahmen mir die Angst. Es ist einfach ihre Arbeit und deshalb total normal für sie, die ganze Zeit nackt am Set herumzulaufen. Sie haben mich wohl alle als „kleine Schwester“ gesehen, und ich bin ihnen dankbar für ihre Unterstützung. Auch die Jungs hinter der Kamera waren hilfreich. Es ist ihr Job, die Mädchen bei der Arbeit gut aussehen zu lassen. Sie positionieren dich so, dass du bei der „Live Action“ immer vorteilhaft aussiehst. Das war mir vorher nicht bewusst. Insofern lernte ich also von ihnen einiges. Wie im „seriösen“ Filmbereich sind auch im Porn-Biz immer noch zu wenig Frauen im Regie- oder Kamera-Fach tätig.

Im Allgemeinen sind die skandinavischen Länder traditionell sehr offen, was den Konsum von Pornos angeht. Hast du den gleichen kritischen Blick auf diese Industrie wie deine Regisseurin?
SK: Ich denke nicht in Schwarzweiß-Kategorien. Es gibt ein großes Spektrum innerhalb der Porno-Industrie. Ich traf so manche Darsteller oder Darstellerinnen, die sind sehr glücklich über ihren Job. Sie gehen ans Set, fühlen sich durch die Gesundheits-Test sicher und haben jede Menge Power, aber da gibt es auch eine sehr dunkle Seite. Ich bin sehr kritisch, aber mehr in der Art, dass ich es merkwürdig finde, wie viele Jungs, aber auch Mädchen meines Alters Pornos konsumieren, um sich dadurch anturnen lassen. Nicht die Porno-Stars sind bedenklich, sondern das System ist es!

Ninja, wie hast du Sofia gefunden?
NT: Das war gar nicht einfach. Ehrlich muss ich zugeben, dass ich selbst keine klare Vorstellung hatte, wie meine Protagonistin aussehen sollte. Über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren gab es in ganz Schweden – noch vor Corona – Auditions. Ich verschickte zusätzlich im ganzen Land Charakterbeschreibungen und dachte schon, dass ich nie eine geeignete Darstellerin finden würde, bis ich im Bekanntenkreis auf Sofia, die tatsächlich noch nie vor der Kamera gestanden hatte, aufmerksam gemacht wurde. Sie ist ein Naturtalent und mit ihrer Sensibilität, aber auch gleichzeitig toughen Art wirklich perfekt für die Rolle. Als wir uns kennenlernten, war sie noch 19. Wir drehten wenige Monate vor Ausbruch der Pandemie, und es war mir klar, das Pleasure ihr Leben verändern würde. Deshalb fühle ich mich als ältere Freundin für sie verantwortlich.

Sofia, einige Szenen sind sehr hart, zum Beispiel, wenn zwei Männer dich für einen Sadomaso-Film stundenlang vergewaltigen, was man in Ausschnitten sieht und was du dann aufgelöst deinen Agenten erzählst, um ihn im Anschluss zu feuern. Musstest du hier physisch wie psychisch Schmerzgrenzen überschreiten?
SK: Ich würde nicht sagen, dass die Vergewaltigung die härteste Szene war, die wir drehten. Es war alles durchchoreografiert und so inszeniert, dass es gewalttätiger aussah, als es war. Wir drehten immer nur kurze Takes. Am Set waren nicht nur Ninja und Kamerafrau Sophie Winqvist, sondern auch Revika Anne Reustle, die Darstellerin der Joy, die eine meiner besten Freundinnen ist. Jedem im Raum war erlaubt „Cut!“ zu rufen. Deshalb habe ich mich sicher gefühlt.