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Pimedate Ööde

| Andreas Ungerböck |
Wenn es Spaß macht, in einer Jury zu sein, ist das ein eindrucksvoller Beweis dafür, dass das Kino lebt. Notizen zur prächtigen Auswahl asiatischer Filme beim 24. Black Nights Film Festival in Tallinn.

Die Lieblingsbeschäftigung aller Filmjournalistinnen und –journalisten bei Festivals ist bekanntlich nicht das Filmeschauen, sondern das permanente Jammern über die schlechten Filme, die schlechte Programmierung, die Warteschlangen, über zu kleine oder zu große Kinos, das Wetter, das Frühstück im Hotel und noch vieles mehr. Gut, zumindest die letzteren Dinge fallen bei der derzeit gängigen Praxis des Online-Schauens im Home Office weg, denn schauen kann man, wann man will und wo man will, und für das Frühstück ist man selber verantwortlich.

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Rein gar nichts zu jammern aber gab es dieser Tage beim renommierten Black Nights (Pimedate Ööde) Film Festival in der estnischen Hauptstadt Tallinn – seit Jahren bzw. seit Tiina Lokk dort Direktorin ist, einer der Geheimtipps unter den Festivalprofis. Die 24. Ausgabe (13. bis 29. November) fand, wie könnte es Corona-bedingt anders sein, als Hybrid statt, wobei die ausländischen Gäste vornehmlich zu Hause blieben. Das hat – siehe oben – durchaus seine Vorteile, vor allem, wenn man als Juror gefordert ist, 14 Filme binnen sieben Tagen anzuschauen, von denen eine erstaunlich große Anzahl zwei Stunden dauerte oder auch um einiges länger war.

Die Organisation NETPAC (Network for the Promotion of Asian and Asia-Pacific Cinema, www.netpacasia.org) entsendet Juries zu vielen Festivals weltweit, bei denen es eine namhafte Anzahl an asiatischen Filmen gibt, und Black Nights ist hier prominent vertreten, zumal Tiina Lokk selbst NETPAC-Mitglied ist. Ihre asiatische Auswahl, verstreut über die einzelnen Festival-Sektionen in Tallinn – Official Competition, First Features, Rebels with a Cause, Current Waves – lässt (nicht nur) Viennale-Besuchende neidvoll nach Nordosten schielen. Und das mit Recht: Alle 14 Filme, die für den NETPAC Award, der zwar bargeldlos ist, aber unter asiatischen Filmschaffenden hohes Prestige genießt, nominiert waren, zeichneten sich durch hohe Qualität, relevante Themen, eindrucksvolle Regie- und darstellerische Leistungen und hohen Unterhaltungswert aus, und das, obwohl große filmproduzierende Länder wie die Republik Korea, Indien, Thailand oder Hongkong gar nicht vertreten waren.

Gleich drei sehr unterschiedliche Filme wiesen stattliche Längen von 146 bis 158 Minuten auf, sie zählten zu den besten der Auswahl: An erster Stelle zu nennen ist die malaysisch-japanische Ko-Produktion Come & Go von Lim Kah Wai, der seit vielen Jahren in Osaka lebt. Als reichhaltiges Panoptikum schildert Lim die Erlebnisse asiatischer Menschen verschiedenster Herkunft (in Osaka ansässige ebenso wie Touristen) in kurzen, einander abwechselnden Episoden, die teilweise überlappen, teilweise aber auch nicht. Eine solche Anzahl an interessanten und bewegenden Stories in einen Film zu packen, dabei den Faden nicht zu verlieren und auch noch die Stadt als wesentliche Protagonistin einzubauen, das ist eine große Leistung des malaysischen Filmemachers, dessen bekanntester Film bisher Fly Me to Minami (2013) war.

Ähnlich stark (und lang) waren zwei chinesische Filme. Zhang Dalei beeindruckte schon mit seinem autobiografischen Debüt Summer Is Gone (2018), mit Stars Await Us bestätigt er nun den Erfolg seines Erstlings. In einer pittoresk verfallenden Stadt an der filmisch bisher unerschlossenen russisch-chinesischen Grenze siedelt er einen pointierten Genrefilm an, in dem die uralte Geschichte vom eben entlassenen Häftling, der sich auf die Suche nach der Frau, die er liebte, macht, in neuem Glanz erstrahlt. Mit einem unglaublichen Gespür für Schauplätze und für die eigenartige Stimmung in diesem gottverlassenen Winkel der Welt und getragen von einem großartigen Soundtrack voller sentimentaler russischer Schlager erweist sich Stars Await Us (benannt nach einem dieser Lieder) als wahres Kleinod, dem sicherlich und zu Recht eine große Festivalkarriere bevorsteht.

Great Happiness von Wang Yiao hat einen ähnlich optimistischen Titel, der aber ironisch zu verstehen ist. In seinem ersten langen Spielfilm entwirft Wang das von Skepsis geprägte Bild einer Generation, die mit dem schrankenlosen Kapitalismus neuester chinesischer Prägung aufgewachsen ist. Nicht nur, dass die „alten Werte“ nichts mehr zählen, das allein wäre nicht so schlimm, aber es sind keine neuen in Sicht, nur Konsum, Hedonismus, Besitz und Macht. „Wir haben nichts von der Welt gesehen, aber wir beschäftigen uns ständig mit Geld“, sagt eine der jungen Protagonistinnen treffend. Angesiedelt ist das Ganze in Xining, der Hauptstadt der Provinz Qinghai, an der Grenze zu Tibet. Ein wahnwitziger Bauboom hat die Provinz mittlerweile in ein Niemandsland eilig hingeklotzter Wolkenkratzeransammlungen verwandelt, in denen kaum jemand wohnt, mit denen aber wild spekuliert wird. „Die Krähen fühlen sich hier wohl, zwischen den Hochhäusern ist es schön warm“, heißt es einmal. Dass Protz und Prunk die Leere im Leben nicht übertünchen können, liegt auf der Hand. Wang Yiao findet dafür beeindruckende Bilder und streut zum Schluss noch ein überraschendes, gelungenes Genre-Element ein. Ein großartiges Debüt.

Um den Aufeinanderprall zwischen den sogenannten „alten Werten“ und der Gegenwart geht es auch in dem kasachischen Film Ulbolsyn von Adilkhan Yerzhanov, der letztlich mit dem NETPAC-Preis für den besten asiatischen Film ausgezeichnet wurde. Die Titelfigur ist eine resolute junge Frau, die längst aus der tiefsten Provinz nach Almaty gezogen ist und dort ein „freies“ Leben westlichen Zuschnitts führt. Sie kehrt zurück in ihr Heimatdorf, um ihre 16-jährige Schwester zu holen. Diese steht kurz davor, an einen viel älteren Mann verheiratet zu werden, der ein, nun ja, sehr traditionelles Frauenbild pflegt. Doch Ulbolsyn stößt nicht nur bei den Männern des Dorfes, darunter mehreren unfassbar faulen und feigen Polizisten, auf großen Widerstand. Im zähen Ringen um das Mädchen entwickelt sich eine fast schon groteske Komödie mit ernsten Untertönen – eine sehr ungewöhnliche Mischung, mit deren Hilfe Yerzhanov dem brisanten Thema beikommt, ohne jemandem die „Schuld“ an den verqueren Verhältnissen zuzuweisen. Hauptdarstellerin Assel Sadvakassova, die den Film auch mitproduziert hat, liefert eine grandiose Performance zwischen komischer Verzweiflung und rabiatem Durchsetzungsvermögen.

Allein, dass zehn der 14 Filme in der lang dauernden Jury-Diskussion (mit Zakir Hossain Raju, einem Professor für Filmwissenschaft aus Bangladesh, und dem Filmemacher Kan Lumé aus Singapore) mehr oder weniger für den Preis in Erwägung gezogen wurden, zeigt die hohe Qualitätsdichte der gezeigten Arbeiten. Unbedingt noch zu erwähnen sind der iranische Debütfilm The Enemies von Ali Derakhshandeh, der kirgisische Film The Road to Eden von Dastan Zhapar Uulu und Bakyt Mukul, der aufrüttelnde syrische Film The Translator von Rana Kazkaz und Anas Khalaf sowie Bedridden aus der Mongolei von Byamba Sakhya. Sie alle werden hoffentlich international die Aufmerksamkeit bekommen, die ihnen zusteht.

 

Die wichtigsten Preise:
Bester Film, Großer Preis der Jury: Fear (Regie: Ivaylo Hristov, Bulgarien)
Beste Regie: Nisan Dağ für When I’m Done Dying (Türkei/Deutschland/USA)
Beste Kamera: Noé Bach für Beasts (Regie: Naël Marandin, Frankreich)
Bestes Drehbuch: Leonardo António für Submission (auch Regie, Portugal)
Beste Schauspielerin: Marie Leuenberger in Caged Birds (Regie: Oliver Rihs, Schweiz/Deutschland)
Bester Schauspieler: Ulrich Thomsen in Erna at War (Regie: Henrik Ruben Genz, Dänemark/Estland/Belgien)
Bester Erstlingsfilm: Great Happiness (Regie: Wang Yiao, China)
Bester baltischer Film: The Last Ones (Regie: Veiko Õunpuu, Estland)
FIPRESCI-Preis (Internat. Filmkritik): Sententia (Regie: Dmitry Rudakov, Russland)
NETPAC-Preis (bester asiatischer Film): Ulbolsyn (Regie: Adilkhan Yerzhanov, Kasachstan/Frankreich)

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