Pinocchio

Filmstart

Pinocchio

| Pamela Jahn |
Düster, schräg und zauberhaft: Guillermo del Toro verwandelt den Kinderbuchklassiker in seiner genialen Stop-Motion-Version in eine magische Parabel über den Tod und auf das Leben.

Guillermo del Toro kann nicht anders. Was der Regisseur auch anfasst, immer verwandeln sich seine Filme auf magische Weise in wundersame Gebilde jenseits von Zeit und Realität. Der Mexikaner hat eine Vorliebe für alles Monströse, Obskure, Fantastische. Sein Herz schlägt für die Außenseiter dieser und sämtlicher anderer Welten – und es schlägt wild. Filme wie Pans Labyrinth, The Devil’s Backbone und der mit dem Oscar ausgezeichnete The Shape of Water scheinen wie Seelenverwandte in einem fremden Paralleluniversum. Doch die Geschichte von Pinocchio, einer lebendigen Holzpuppe, deren Nase beim Lügen wächst, hatte es ihm besonders angetan: „Als ich als Kind Disneys Version von Pinocchio sah, war ich darauf fixiert“, erinnert sich del Toro mit einem kindlichen Strahlen im Gesicht. „Ich wollte danach nichts anderes mehr sehen. Ich habe das Buch und über die Jahre auch sämtliche Interpretationen der Geschichte gelesen, ganz gleich ob sie esoterisch oder historisch angehaucht waren. Aber mich hat immer gewundert, dass es bisher nie eine Stop-Motion-Verfilmung gab, denn das schwierigste Element in einem Pinocchio-Film ist für mich, dass die Puppe im gleichen Universum existiert wie die anderen Figuren, wie der Rest des Geschehens.“

Also machte sich del Toro, der seit 15 Jahren eine eigene Animationsfirma besitzt, an die Arbeit, allerdings nicht, ohne seinem Pinocchio einen eigenen, typisch widerständigen Flair zu verleihen. „Ich wollte eine Figur zum Leben erwecken, die den Ungehorsam feiert, anstatt den Gehorsam zu lernen, einen Pinocchio, der sich nicht in einen richtigen Jungen verwandeln muss, nur weil er sich am Ende fügt.“

Das Drehbuch, das in Zusammenarbeit mit Patrick McHale entstand, verlegt Carlo Collodis Kinderbuchvorlage von 1883 zudem ins Italien der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts, während der Herrschaft Mussolinis – und der Geist des Diktators ist stets präsent, während Pinocchio sich immer wieder mit dem aufkeimenden Faschismus konfrontiert sieht.

Doch bevor es soweit ist, kommt erst einmal Geppetto ins Spiel. Der alte Zimmermann hat seinen geliebten Sohn Carlo im Großen Krieg verloren. Eines Nachts, betrunken vor Kummer, schnitzt er eine baufällige Puppe, um sein verlorenes Kind zu ersetzen. Als ein blauer Geist erscheint und der hölzernen Kreatur Leben einhaucht, ist Geppetto zunächst entsetzt über den achtlos umher wirbelnden Kerl, der im Handumdrehen sein Haus auf den Kopf stellt. Und auch die kleine Gemeinde, in der er lebt, empört sich über die staksige Figur, die, wie sie glauben der Teufel gebracht hat – und Pinocchio versteht die Ablehnung nicht, die er von allen Seiten erfährt. „Alle mögen ihn“, sagt er einmal über den riesigen hölzernen Christus, der wie eine gequälte Marionette in der Dorfkirche hängt. „Er ist auch aus Holz. Warum mögen sie ihn und nicht mich?“

Dies ist nur eine von vielen Fragen, die del Toros Pinocchio ohne Scheu aufwirft. Während frühere Verfilmungen, von Disneys Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1940 bis zu Robert Zemeckis‘ jüngster, leider missglückter Live-Action-Version mit Tom Hanks als Geppetto, eine populistische Litanei von Moralbelehrungen in den Vordergrund gestellt haben, feiert del Toros Version die chaotische Natur seines Antihelden und nutzt seine Abenteuer, um die Beziehung von Leben und Tod mit gleichem Nachdruck zu untersuchen.

Düster und fantastisch, so wie es del Toro am liebsten hat, schreitet die Handlung voran, doch auch seine Version versprüht einen zauberhaften, frechen Charme. Seine herrlich unperfekte, buchstäblich angeschlagene Holzpuppe wird in der Originalversion von dem Newcomer Gregory Mann gesprochen, dessen Stimme trotzig, nachdenklich und liebenswert in einem Atemzug klingt. Ihm zur Seite steht eine Starbesetzung, zu der neben Christoph Waltz als Graf Volpe auch Kate Blanchett und Tilda Swinton gehören. Ewan McGregor verkörpert Sebastian, die Grille, dessen Aufgabe darin besteht, Pinocchio ein Gewissen einzuhauchen. Eigentlich will er nur seine Memoiren schreiben und wird doch immer wieder verhindert, abgelenkt oder zerquetscht.

Guillermo del Toro weiß um die Faszination der Geschichte und um den Spielraum, der ihm bei der Umsetzung bleibt. So ist Pinocchio auch ein Musical mit Gesangseinlagen, die vom Regisseur selbst, seinem Ko-Autor und dem Starkomponisten Alexandre Desplat geschrieben wurden. „Pinocchio ist eine der wenigen Figuren der Literatur, die man auf unendlich verschiedene Art und Weise interpretieren kann“, bekräftigt er. „Pinocchio lässt sich in den Weltraum katapultieren, als politische Metapher gebrauchen oder als soziale Satire inszenieren. Spielberg hat es in A.I. getan. James Cameron und Robert Rodriquez in Alita: Battle Angel. Ganz ähnlich verhält es mit Dracula, Sherlock Holmes oder Tarzan – sie alle sind Mythen, die sich universell einsetzen lassen.“ Und wie Spielberg ist auch del Toro vor allem von den Frankenstein-Elementen einer Geschichte angetan, in der Monster nicht das sind, was sie zu sein scheinen, und das Streben nach „Menschlichkeit“ als ein fehlerhaftes Unterfangen dargestellt wird, das eher durch erzählerische Poesie als durch physische Transformation gelöst werden muss.

Dass Pinocchio tatsächlich del Toros erster Animationsfilm ist, überrascht nicht zuletzt, weil der Regisseur seit je her eine große Leidenschaft für das Genre hat. Die Stop-Motion-Technik hüllt das Geschehen in eine lebendige, zweideutige Ästhetik, die eine visuell fesselnde Alternative zu anderen bekannten Verfilmungen bietet. Die suggestive Kraft des bewährten Stop-Motion-Verfahrens ist nicht leicht zu beschreiben, del Toro selbst erklärt es so: „Stop-Motion ist eine verlorene Kunst, seit es sie gibt. Und es ist nur eine sehr kleine, erlesene Gruppe völlig verrückter Menschen, die sie beherrschen. Die Verbindung zwischen der Puppe und dem, der sie zum Leben erweckt, ist so unglaublich schön und heilig, dass sie mich an die japanische Kunst des Bunraku erinnert, bei der ein in schwarz gekleideter Schauspieler eine Puppe vor sich hinstellt und sie mit seinen eigenen Gliedmaßen vor einem ebenfalls schwarzen Hintergrund manipuliert. Die Puppe ist nur durch die Kunst des Puppenspielers lebendig, und das kann man auch in unserem Film sehen.“

Die Bilder, die del Toro und sein Regie-Kollege Mark Gustafson dafür finden, sind einfach und klar, klassisch und farbenfroh. Trotzdem ist da von Anfang an ein leichtes Vibrieren unter der Oberfläche zu spüren, das eine große Sehnsucht und einen großen Schmerz verrät. Was del Toros Pinocchio letztlich aus der bestehenden Fülle an Filmadaptionen heraushebt ist das Fremde, die ungenierte Einzigartigkeit des Films – diese eigentümlich magische, morbide Sensibilität, die sich stets durch seine persönlichsten Werken zieht.