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Sommer 1968 Heisser_Sommer

Sommer 1968

Sex and the City

| Morticia Zschiesche |
Aus den Fugen geratene Lebens- und neue Liebesentwürfe: der ziemlich heiße Sommer 1968 und das deutsche Kino.

30 Grad in Rostock, Tornados in Pforzheim, Hagelunwetter in München – nicht nur die Wetterkapriolen im Sommer 1968 machten Deutschland hüben wie drüben zu schaffen. Auf dem Höhepunkt der internationalen politischen Arbeiter-, Bürger- und Studentenproteste waren mit den Frühjahrsunruhen auch die gesellschaftlichen Konstellationen aus den Fugen geraten. Aufbegehren gegen autoritäre Strukturen sowie das Experimentieren mit neuen Lebens- und Liebesentwürfen waren in West- und Ostdeutschland an jeder Ecke spürbar. Das Körperliche wurde zum Politikum erklärt, Sexualität war nicht mehr länger reine Privatsache. Der Begriff der „sexuellen Revolution“ machte die Runde und schlug sich auch für den Normalbürger unübersehbar in einer wachsenden Kommerzialisierung und Virtualisierung von Sexualität nieder (vgl. Pascal Eitler 2007). Die sogenannte „Sexwelle“ in den Medien erreichte nach 1967 ihren Höhepunkt: Nackte Körper zierten die Titel von großen Publikumsmagazinen, Sexshops eröffneten, Erotikromane boomten und Aufklärungsartikel fanden sich in regelmäßigen Kolumnen in den Zeitungen. Das freiheitliche Lebensgefühl machte auch vor dem Kino nicht halt, das doch gerade im Sommer darauf angewiesen war, mit zuschauerstarken Produktionen seine Besucher von den Strandstühlen in die Kinosessel zu locken. Die Filmemacher reagierten daher prompt in ihren Settings und Drehbüchern: Die Protest- wie auch die Sexbewegung hielten Einzug auf die Leinwand, wo plötzlich auffällig oft im leicht geschürzten Gewand der Sommerkomödie Harmlos-Populäres auf rebellische Gegenkultur traf und tradierte Ehemuster mit Polygamie und Gruppensex konfrontiert wurden.

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Mit FSK-Freigaben zwischen 0 und 18 Jahren avancierten manche der deutsch-deutschen Mainstream-Filme, die 1968 entweder zum Sommer gestartet wurden oder überwiegend auf Sommermotive setzten, überraschend zu wahren Publikumslieblingen und wurden später sogar zu Kultfilmen. Ost und West tanzten, sangen und schubberten sich schlüpfrig, satirisch, experimentell, dramatisch, frivol, aber auch manchmal erstaunlich altbacken und in der Inszenierung ganz ähnlich durch die Sommerschwüle. Gerade der erotische Film dieser Zeit ist besonders aufschlussreich, da sich hier noch althergebrachte Moralvorstellungen an antibürgerlichen Einstellungen facettenreich in Genres, Dialogen und Bildern abarbeiten und noch nicht die eindimensionale Darstellung von Freizügigkeit und Nacktheit wie in den siebziger Jahren im Vordergrund steht. Wenn man der These von Siegfried Kracauer folgen mag und kollektive Resonanz in filmischer Produktion und Rezeption als einen Gradmesser für die Befindlichkeit einer Nation anlegt, lassen die Sommerfilme 1968 erahnen, was vor einem halben Jahrhundert die deutschen Gemüter in ihren ganz privaten Lebens- und Liebesdingen bewegte.

HAARSCHARF AN DER ZENSUR VORBEI
Nach damaligen Zuschauerzahlen und in heutigen Umfragen noch immer mit hoher Quote gewählt, gilt der DEFA-Musikfilm Heißer Sommer mit der eingängigen Beat-Schlager-Musik von Gerd und Thomas Natschinski als einer der beliebtesten Filme der DDR. Er feierte im Juni 1968 seine Premiere und gehörte zu den raren DDR-Filmmusicals, mit denen vor allem Regisseur Joachim Hasler mit seinem Star Franz Schöbel das Ost-Publikum vor den Großbild-Leinwänden zum Mitsingen und die DDR-Kritiker zum Kopfschütteln brachte – immer haarscharf vorbei an der staatlichen Zensur. Zusammen mit Haslers Reise ins Ehebett (1966) und Nicht schummeln, Liebling (1972) sowie Eine Hochzeitsnacht im Regen (1966) von Horst Seemann entstand hier ein ganz eigenes, wenn auch kurzlebiges Genre bei der DEFA. „Zum Heulen“, verurteilte die Filmkritikerin Renate Holland-Moritz im DDR-Satiremagazin „Eulenspiegel“ diesen Versuch des Genrefilms (vgl. „film-dienst“ Sonderheft 10/2006). Und doch ist dieser Versuch bemerkenswert, weil es davor einfach nicht gelungen war, den zeitgenössischen Publikumsgeschmack mit staatlich verordnetem Ost-Lipsi statt West-Twist zu treffen. Aber dann entdeckte die DDR plötzlich ihren ganz eigenen (Jugend-)Musikfilm. Heißer Sommer gilt nicht umsonst als eine Art „East Side Story“ in Anspielung auf den ursprünglichen Namen des gefeierten Musicals von Leonard Bernstein, 1961 verfilmt als West Side Story, wo ebenfalls zwei rivalisierende Gruppen im Vordergrund stehen. In Heißer Sommer mit Frank Schöbel und Chris Doerk in den Hauptrollen treffen elf junge Frauen aus Leipzig und zehn junge Männer aus Karl-Marx-Stadt an der Ostsee aufeinander. Lange hält es sie dort nicht in getrennten Betten. Das Bäumchen-wechsle-dich-Spiel, mit viel nackter Haut, knapper Badekleidung und naiv-charmanten Tanz-Choreografien inszeniert, spricht wenig von der für traute Zweisamkeit notwendigen Ehe und schwört vielmehr auf den sozialistisch motivierten Gemeinschaftssinn ein, bei dem viel Platz für das Ausprobieren neuer Partnerschaften und dem – allerdings recht harmlosen – Auflehnen gegen erwachsene Autorität bleibt. Von Monogamie bei den Frauen ist hier nicht mehr die Rede. Die Aktivste unter ihnen wird zwar am Ende kollektiv abgestraft, kann aber schließlich doch ihre eigene Männer-Wahl treffen. Das westliche Pendant, ebenso an realen Schauplätzen gedreht und mit viel Musik, Gruppentanz und Liebesnächten gespickt, findet sich in der zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Musikkomödie Quartett im Bett von Ulrich Schamoni aus dem gleichen Jahr. Ebenso wie der Auftakt von Heißer Sommer beginnt Quartett im Bett in der Großstadt, hier über den Dächern von Berlin. In dessen Straßen und Hinterhöfen treffen die vier Blödelbarden Insterburg & Co. auf die vier international gebuchten Sängerinnen der Jacob Sisters und führen das touristische Abziehbild von West-Berlin ad absurdum. In der Wohnkommune der Musiker um Karl Dall und Ingo Insterburg teilt man sich seine WG-„Mäuschen“, die den Männern in überhöhter Darstellung wie Dienstmägde unterwürfig das Essen und den Sex servieren, musiziert auf der Flucht vor dem Gerichtsvollzieher auf Mülltonnen und frönt der Kreuzberger Gossenpoetik, während die Fotoshootings der künstlich blondierten Jacob-Schwestern wirken, als hätte man die Welt der Spießbürgerlichkeit samt ihrer Pudel und ausgestopfter Jagdtrophäen vierfach geklont. „Es wird ziemlich heiß hier“, stöhnt ein Insterburger, bevor sich am Ende die beiden gegensätzlichen Quartetts nach einem Bühnenauftritt in der Kongresshalle backstage zu einem Achtergelage im Bett vereinen. Derart frivole Szenen, Reime wie „Klatsch, klatsch Schenkelchen, Opa wünscht sich Enkelchen“ und ebenso viel nackte Haut waren dann auch für eine Altersfreigabe ab 18 verantwortlich. Für die komödiantische Leistung erhielt der Film 1969 den Ernst-Lubitsch-Preis. Vielweiberei-Songs wie „Ich liebte ein Mädchen …“ bleiben treffende Zeitdokumente der männlich dominierten 68er Westberliner Bohème.

NICHT FUMMELN, SCHÄTZCHEN
Mit unvergesslichen Reimen und Dialogen überzeugte auch May Spils als Autorenfilmerin mit Werner Enke als (Selbst-)Darsteller, beide Teil der Neuen Münchner Gruppe um Klaus Lemke und Rudolf Thome. 1970 erhielten sie für Nicht fummeln, Liebling ebenfalls den Ernst-Lubitsch-Preis. Für den Vorgängerfilm – gleichzeitig ihr filmisches Debüt – Zur Sache, Schätzchen wurde beim Bundesfilmpreis 1968 sogar die neue Kategorie „Dialoge“ geschaffen, in der die Produktion das Filmband in Gold gewann. Werner Enke reüssierte dort außerdem in der Kategorie „Bester Nachwuchsdarsteller“. Im Film lockte er als Müßiggänger Martin zusammen mit „Schätzchen“ Uschi Glas über 6,5 Millionen Zuschauer in die Kinos, wofür das Werk mit der Goldenen Leinwand ausgezeichnet wurde. Zur Sache, Schätzchen gilt damit als kommerziell erfolgreichste Produktion des Neuen Deutschen Films. Die weibliche Regie ist dabei besonders hervorzuheben, weil ein derartiger Erfolg den 26 ausschließlich männlichen Filmschaffenden und Unterzeichnern des Oberhausener Manifests von 1962 bis dato noch nicht gelungen war. Die hohe Anzahl an verkauften Kinokarten für den Film wundert nicht sonderlich, erinnern sich doch noch heute ältere Besucher daran, wie sie – noch ohne DVD und Internet ausgestattet – zahlreiche Kinobesuche absolvieren mussten, um ihre Stullen lässig wie Werner Enke mit den Worten „Ich hätte gern ein Wurstbrot, wo die Wurst so richtig überlappt“ bei ihrem Metzger bestellen oder andere markige Sprüche reißen zu können. Der zeitlose Sprachwitz des Films schaffte es direkt vom lebenspartnerlichen Spils/Enke-Bett, die bis heute ein Paar sind, ins Drehbuch. Und ihr oft genanntes Leitmotto „Das wird böse enden“ blieb wie in Dauerschleife im kollektiven Gedächtnis der Deutschen haften.

Zur Sache, Schätzchen spielt an einem Sommertag, dem 15. Juni, in München-Schwabing. Es ist der Geburtstag des 26-jährigen Gelegenheitstexters und Arbeitsverweigerers Martin, der mit Daumenkinos in der Schublade als Bürgerschreck mit situationistischen Einlagen, aber auch genauer Beobachtungsgabe, seine Umgebung provoziert. Wie in den bereits zitierten Sommerfilmen funktioniert auch seine Paarbeziehung mit Anita (Inge Marschall), die sich verloben möchte, nicht besonders gut. Stattdessen versucht er, die unkonventionelle reiche Bürgerstochter Barbara (Uschi Glas) für sich zu gewinnen, ohne sich jedoch aus seiner Lethargie befreien zu müssen. Martin befindet sich dabei in der guten Gesellschaft älterer und jüngster Verweigerer der Filmgeschichte. Auch Oh Boy von Jan-Ole Gerster (2012) und Feu Follet von Louis Malle (1963) handeln von einem einzigen Tag in der Großstadt und begleiten einen – im wahrsten Sinn des Wortes – „gesellschaftlichen Versager“ dabei, wie er sich mit schlaffer Körperhaltung gängigen Lebensmodellen entzieht. Und ebenso wie diese beiden Filme demontiert Zur Sache, Schätzchen mühelos und unterhaltsam das Gut-Bürgertum, das mit seinen Grapschern, Voyeuren, Dieben und zweifelhaften Autoritäten zu keinerlei Vorbild mehr taugt. Die Schüsse auf Martin durch die überforderte Polizei am Ende zitieren die während der Dreharbeiten gefallenen realen Schüsse auf Benno Ohnesorg. Und doch waren sie ursprünglich im Drehbuch als eine Reminiszenz an Godards À bout de souffle (1960) gedacht, bei der Martin wie die Figur Jean-Paul Belmondos antiheldenhaft sterben sollte. Die Drehbuchänderung zeigt, wie nah die dargestellten Konflikte an der Realität in Westdeutschland waren.

LYRISCHE LEICHTIGKEIT, EXPLIZITE EROTIK
Doch auch die DEFA hatte ihre ganz eigenen Gammler. Müßiggang und antiautoritäres Verhalten lassen an die Filme des renommierten Dokumentarfilmers Jürgen Böttcher denken. Seine poetische Kurz-Doku Barfuß und ohne Hut (1965), die Jugendliche bei ihrem Urlaub am Ostsee-Strand von Prerow beim Singen, Tanzen und Sonnen mit ihren Vorstellungen von ihrem zukünftigen Leben einfängt, wirkt fast wie eine dokumentarische Vorlage zu Heißer Sommer. Böttchers einziger Spielfilm Jahrgang 45 schaffte es nach Rücknahme des Rohschnitts 1966 wegen aussichtsloser Freigabe erst 1990 zur Premiere. Auch er begleitet mit Al (Rolf Römer) einen Protagonisten, der weder in seiner Paarbeziehung noch im Beruf funktionieren will und lieber in den Tag hineinlebt, und provozierte damit die staatlichen Kontrollstellen im Ministerium, die Al als „asozial“ und den Film als „gegen die sozialistische Gesellschaft gerichtet“ abwerteten (vgl. Jahrbuch der DEFA-Stiftung 2001). Und doch reflektieren Böttchers Filme, die ästhetisch in Schwarzweiß fotografiert und mit lyrischer Leichtigkeit erzählt sind, Jugend in der DDR und gebrochene Einstellungen zur Gesellschaft genau so, wie es westliche Produktionen auf der anderen Seite der Mauer zur gleichen Zeit taten. So poetisch die einen Sommerfrische und Freiheitsgedanken in Szene setzten, so explizit erotisch wird es in Sachen Liebe bei einem anderen Teil der nicht weniger beliebten Filme des Jahres. Mit Oswalt Kolle: Das Wunder der Liebe von Franz Josef Gottlieb und Oswalt Kolle: Das Wunder der Liebe II – Sexuelle Partnerschaft von Alexis Neve brach 1968 eine Welle der Aufklärungsfilme los, die ebenfalls ein Millionenpublikum fand. Bereits der Überraschungserfolg Helga – Vom Werden des menschlichen Lebens von Erich F. Bender, der 1967 im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in die Kinos kam, verpackte Akt, Schwangerschaft und Geburt in zum Teil explizite Bilder. Es ging um gesellschaftliche Aufklärung, die auch das Ziel des Journalisten Oswalt Kolle war. Mit seinen auflagenstarken Büchern, Artikeln für die Massenblätter sowie insgesamt acht Dokumentationen zwischen 1968 und 1972 zum Thema gilt der „Aufklärer der Nation“ als Motor der Befreiungs- und Sexwelle. „Jetzt liegt in jedem deutschen Ehebett ein Dritter: Oswalt Kolle“, zitiert Kolle seinen „Bild“-Kollegen Franz Josef Wagner larmoyant in einem Interview. Seine beiden Wunder der Liebe-Dokus knüpften als Publikumslieblinge nahtlos an den Helga-Erfolg an. Anfangs brauchten seine Filme noch eine medizinisch motivierte Klammer in Gestalt von Sexualforschern und Psychologen, die zu Wort kamen, damit danach zensurfrei über Flauten im Ehebett berichtet werden konnte. Über zehn Minuten arbeiten sich in der Exposition des ersten Teils drei männliche Kapazitäten zum „faire l‘amour“ im Film ab („Geigen muss man spielen können!“). Auch in diesem Film kommt danach Bewegung in die traditionelle Zweier-Beziehung. Offenherzig werden die erotischen Phantasien der unbefriedigten Ehefrau in Szene gesetzt, und die Männer sprechen plötzlich über ihre Gefühle. Überhaupt wird mehr geredet als geliebt in diesen ersten Aufklärungsfilmen. Schon wenige Monate später im September 1968 folgte Oswalt Kolle: Das Wunder der Liebe II – Sexuelle Partnerschaft. Ein Teil wurde in Farbe gedreht, und die erotischen Anbahnungen wurden eindeutiger. Der „summer of love“ schwingt hier bereits deutlich mit, wenn Monika (Petra Perry) und Michael (Michael Maien) nackt am Strand so tun, als wären