Mit „Systemsprenger“, dem ebenso intensiven wie einfühlsamen Drama um ein verhaltensauffälliges Mädchen, gelingt Nora Fingscheidt ein durch und durch beeindruckendes Filmwunder.
Gerade noch haben sich die Betreuer und die von ihnen beaufsichtigten Kinder einer Wohngruppe vom Hof ins Innere des Hauses dieser Einrichtung zurückziehen können, als auch schon allerlei Spielzeug und Plastiksessel mit ungeheurer Wucht gegen die Tür geschleudert werden. „Keine Sorge, das ist Sicherheitsglas“, versichert einer der Erzieher seinem sichtlich schockierten Kollegen. Dessen Fassungslosigkeit wird gut nachvollziehbar, sobald man sich vergegenwärtigt, wer hinter diesem Aggressionsausbruch steht – ein kleines Mädchen von gerade einmal neun Jahren. Dabei erscheint Benni, die ihren Namen Bernadette so gar nicht leiden kann, zunächst wie ein ausgesprochen liebes Kind ihres Alters. Auf den ersten Blick ließe sich leicht das etwas klischeehafte Bild vom kleinen Engelchen zeichnen, wenn man das Mädchen mit den blonden Haaren und den großen blauen Augen sieht. Doch wehe, irgendetwas – und sei es auch noch so banal – verläuft nicht so wie sie sich das vorstellt; dann verwandelt sich Benni in Sekundenbruchteilen in eine tobende Furie, deren Wutausbrüche selbst Erwachsene in Angst versetzen können, und die dabei auch nicht davor zurückschreckt, sich und andere zu verletzen. Selbst ihre Mutter hat sich der Situation nicht mehr gewachsen gezeigt und die Tochter dem Jugendamt überantwortet.
Es mangelt keineswegs am Bemühen, dem Mädchen zu helfen. Doch sämtliche Versuche mit Pflegefamilien, betreuten Wohngruppen bis hin zu Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken zeigen keinen Erfolg. Es wird zusehends schwierig, überhaupt eine Einrichtung zu finden, die bereit ist, Benni dauerhaft aufzunehmen. Damit gehört sie zu jener Gruppe von Kindern und Jugendlichen, bei denen keine Maßnahmen mehr greifen und die im Behördenjargon deswegen „Systemsprenger“ genannt werden. Als sich unter all jenen mit dem Fall Befassten Rat- und Hoffnungslosigkeit breit zu machen beginnt, ergreift Micha (Albrecht Schuch) die Initiative und unterbreitet einen ebenso ungewöhnlichen wie gewagten Vorschlag. Der junge Sozialarbeiter, der ansonsten als Anti-Gewalttrainer für straffällige Jugendliche fungiert und erst unlängst von Bennis Betreuerin, Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide), als ihr Schulbegleiter engagiert wurde – wobei es schon ein Kunststück psychologischer Natur ist, Benni überhaupt einmal in den Klassenraum zu bringen –, möchte dem Mädchen zu jener Form von Erlebnispädagogik verhelfen, die bei seiner sonstigen Klientel positive Resonanz hervorruft. Drei Wochen Aufenthalt in der Natur, in einer abgelegenen Hütte ohne Strom, sollen Benni endlich die Chance geben, ein wenig zu Ruhe zu kommen. Erwartungsgemäß gestaltet sich die Annäherung als schwieriger Prozess, bei dem Rückschläge nicht ausbleiben, doch im Verlauf des Aufenthalts gelingt es Micha tatsächlich, einen Zugang zu Benni zu finden. Doch Micha erkennt, dass er allein dem Mädchen nicht dauerhaft emotionale Stabilität verschaffen kann …
Mit ihrem ersten langen Spielfilm ist der 1983 geborenen Regisseurin Nora Fingscheidt nicht nur ein großartiges Debüt gelungen, sondern überhaupt eine der beeindruckendsten Arbeiten, die man in den letzten Jahren zu sehen bekommen konnte.
Systemsprenger ist einer jener Ausnahmefilme, die den Zuschauer nicht mehr loslassen und sich noch lange nach dem Abspann im Gedächtnis fest eingebrannt haben. Dabei hält der Umgang mit einem Sujet, das man gemeinhin ein wenig verallgemeinernd als „schweren“ Stoff bezeichnen würde, durchaus Fallstricke bereit, was Dramaturgie und narrativen Duktus angeht. Doch Nora Fingscheidts Inszenierung findet stets die richtigen Antworten – Systemsprenger erweist sich als ungemein berührend, ohne jemals in aufgesetzte Sentimentalität abzudriften, empathisch, ohne billige Sympathiepunkte sammeln zu wollen, präzise analysierend, ohne ranzige Didaktik zu verbreiten, und hält dabei stets eine geschickte Balance zwischen authentischer Intensität und beobachtender Distanz.
Das Zustandekommen dieses Wunders von einem Film ist zu einem nicht geringen Teil Helena Zengel geschuldet, der mit der Darstellung Bennis eine schlichtweg atemberaubende Leistung gelingt. Zengel, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten gleich alt wie die von ihr gespielte Protagonistin, verkörpert die höchst unterschiedlichen Stimmungslagen Bennis mit einer Intensität, die tief unter die Haut – und mitten ins Herz – geht. Nora Fingscheidts kluge Inszenierung bereitet für diese darstellerische Tour de force – wobei das gesamte Ensemble mit erfrischender Authentizität zu agieren versteht – die kongeniale Plattform, denn gleich den Menschen in Bennis Umfeld wird auch der Zuschauer geradezu schlagartig mit den extremen Facetten der Persönlichkeit des Mädchens konfrontiert. Unmittelbar vor dem eingangs erwähnten Wutausbruch bekommt man in der ersten Sequenz von Systemsprenger Benni bei einer ihrer Untersuchungen in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses zu Gesicht. Blass und erschöpft liegt das kleine Mädchen da, mit Dutzenden Elektroden, die an ihren Kopf befestigt sind; ein durch und durch erbarmungswürdiger Anblick. Und wie Micha während des Aufenthalts in der Waldhütte, lernt man auch jene Seite Bennis kennen, die sich so gar nicht mit ihren unkontrollierten Wutausbrüchen in Einklang bringen lässt. Da zeigt sich ein intelligentes, aufgewecktes, zutiefst empfindsames Mädchen, das sich für die Welt um sie interessiert und sich einfach wie ein Kind dieses Alters, das ihren kleinen Stoffdrachen überall hin mitnimmt, verhält. Doch Micha erkennt auch, dass jenes Maß Zuwendung und Aufmerksamkeit, nach der sich Benni im Grunde sehnt, über das hinaus geht, was selbst ein höchst engagierter Sozialarbeiter, wie er einer ist, leisten kann. Eine Zuwendung, die umso notwendiger in Bennis gewohntem Umfeld erscheint, wo schon Nichtigkeiten, wie sie im Rahmen sozialer Kontakte zum Alltag gehören, jene Aggressionsschübe auslösen können, die wie eine unkontrollierbare Naturgewalt erscheinen. Auf der Bildebene findet Nora Fingscheidt dabei mit einer hektisch agierenden, sich ständig in Bewegung findenden Kamera eine Entsprechung, um jenen Orkan, der in Bennis Kopf zu toben beginnt, gleichsam sichtbar zu machen.
Man erfährt nur andeutungsweise, dass Bennis Mangel an Impulskontrolle zu einem Teil in einem frühkindlichen Gewalttrauma begründet liegen dürfte. Dass dies eher vage bleibt, ist jedoch dramaturgisch ebenfalls höchst stimmig, denn um Schuldzuweisungen geht es in Systemsprenger nicht. Vielmehr wird neben dem Drama auf individueller Ebene nach und nach deutlich, dass hier ein Systemversagen – und damit kommt die gesamtgesellschaftliche Perspektive ins Spiel – konzediert werden muss.
Dass nahezu alle Beteiligten guten Willens sind, macht die Sache nur noch bedrückender: Die behandelnde Ärztin (Melanie Straub) weiß keinen anderen Ausweg mehr, als dem Mädchen Medikamente zu verschreiben, die eigentlich für erwachsene Schizophrenie-Patienten vorgesehen sind; Bennis Mutter ist mit der Situation heillos überfordert, ihre Hilflosigkeit mündet in einem Mangel an Empathie gegenüber ihrer Tochter, der einen schaudern lässt; und die Mitarbeiterin des Jugendamts sieht sich mit einer Situation konfrontiert, über der in ihrer Absurdität „Catch-22“ als große Überschrift zu prangen scheint: Um einen Platz in einer Traumatherapie zu finden, die an Wurzeln von Bennis Problemen gehen könnte, müsste sie in einem geregelten Umfeld einer Pflegefamilie oder einer Wohngruppe zur Ruhe kommen. Ein solches Umfeld würde sich aber nur finden, wenn eine solche Therapie erste Erfolge gezeigt hätte … Auch wenn niemand es so direkt auszusprechen wagt, beschleicht Micha das bedrückende Gefühl, dass dieser therapeutische Ausflug vielleicht so etwas wie Bennis letzte Chance ist, um nicht schlussendlich dauerhaft in der Psychiatrie – wofür das Mädchen noch zu jung ist – verwahrt zu werden.
Systemsprenger erweist sich als brillante, wunderbare Arbeit, die jedoch als fiktionale, filmische Erzählung vor einem präzise recherchierten, realen Hintergrund über das individuelle Drama hinauszureichen versteht und Fragen darüber aufwirft, wie eine Gesellschaft mit Menschen, die nicht in vorherrschende, normierte Systeme zu passen scheinen, umgeht. Oder auch mit solchen, denen das Leben von Anfang an ganz, ganz schlechte Karten zugeteilt hat. Die Konfrontation mit diesen Fragen erweist sich dabei als ebenso schmerzlicher wie zutiefst notwendiger Prozess. Einfache Antworten oder Patentlösungen kann es naturgemäß dabei nicht geben, doch Systemsprenger findet auch dafür mittels der finalen Sequenzen eine gemäße Entsprechung.