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The Kindness of Strangers – kleine wunder unter fremden

The Kindness of Strangers | Interview

Märchenhaftes New York

| Pamela Jahn |
Zoe Kazan muss sich nicht auf das filmische Vermächtnis ihres berühmten Großvaters stützen. Sie kommt auch ganz gut allein zurecht. Ein Gespräch über Extremsituationen, Perspektivwechsel und warum ein Bild mehr wert ist als tausend Worte.

Es gibt Schauspielerinnen, die müssen sich nicht verbiegen. Die sind, wie sie sind, auf der Leinwand wie im Leben. Zoe Kazan, kaum Mitte dreißig und bereits seit Jahren als Darstellerin, Drehbuchautorin und Dramatikerin im Geschäft, ist eine von ihnen. Eine Frau, die sympathisch, klug und nachdenklich ist, die aber auch zynisch sein kann, zugleich stark und verletzlich wirkt, die Schneid hat und Humor und ein Herz, so groß und so mitfühlend, dass es ihr manchmal selbst zu viel wird. Eine Traumfrau beinahe, wie sie sie in Ruby Sparks (2012), ihrem ersten verfilmten Drehbuch, entworfen und auch gleich selbst gespielt hat. Die Tatsache, dass der junge Autor, der sich in der romantischen Tragikomödie in seine eigene Schöpfung verliebt, von Paul Dano verkörpert wird, mit dem Kazan im wahren Leben seit 2007 liiert ist, machte den Film damals nur noch reizvoller. Unlängst hat sich das Künstlerpaar zudem Richard Fords Roman „Wildlife“ angenommen, um daraus mit Jake Gyllenhaal und Carey Mulligan in den Hauptrollen ein so beeindruckendes wie bewegendes Drama zu formen, das anhand einer Kleinfamilie einen subtilen Blick auf die US-amerikanische Gesellschaft im Wandel der Zeiten wirft. Bei Wildlife trat Zoe Kazan bewusst einen Schritt zurück, blieb als Ko-Autorin im Hintergrund und ließ Paul Dano den wohlverdienten Erfolg seines Regiedebüts ganz allein auskosten.

Aber auch wenn Zoe Kazan selbst als Schauspielerin vor der Kamera oder auf der Bühne steht, schwingt bei ihr stets ein gesundes Gefühl von Demut und Bescheidenheit mit, das ihr Talent nur umso mehr zum Ausdruck bringt. Dabei hätte sie, die Enkelin von Hollywood-Regie-Legende Elia Kazan es auch ganz anders angehen können. Doch Kazan entschied sich für den klassischen Weg, arbeitete sich seit ihrem ersten kleinen Auftritt in The Savages (2007) mit jedem Film ein Stück weiter nach oben und ins Gedächtnis des Publikums, etwa als Geliebte von Leonardo DiCaprio in Revolutionary Road (2008) von Sam Mendes oder an der Seite von Meryl Streep in Nancy Meyers’ It’s Complicated (2009). Mit Ruby Sparks und The F Word (2013) rückte sie sich schließlich zentral ins Bild, bis der Triumph von The Big Sick (2017) ihrer Karriere als Schauspielerin noch einmal einen merklichen Ruck gab.

In Lone Scherfigs The Kindness of Strangers, der im Februar Dieter Kosslicks letzte Berlinale einleitete, spielt sie nun eine junge Mutter namens Clara, die in ihrer Not, sich und ihre beiden Söhne aus den Zwängen häuslicher Gewalt zu befreien, auf die Menschlichkeit ihrer Umgebung angewiesen ist. Es ist ein Film, der zeigt, wie Warmherzigkeit Leben retten kann und dass Zoe Kazan über ihr Komödien-Potenzial hinaus noch ganz andere Rollen in ihrem Repertoire hat – einfühlsam, ehrlich und emotional wie sie selbst. 

 


 

Miss Kazan, Sie kennen sich aus mit dem Drehbuchschreiben. Was hat Sie speziell an diesem Skript begeistert, dass Sie die Rolle übernehmen wollten?
Zoe Kazan:
Ich war unheimlich bewegt von der Situation, in der Clara gefangen ist. Und ich bewunderte ihren Mut und ihre Entscheidung, mit der der Film einsetzt, ihre Kinder und sich selbst aus den Fängen ihres Ehemanns zu befreien, ohne jegliche Unterstützung und ohne einen Plan, wie es weitergehen soll. Ich fand die Prämisse spannend, auf diese Weise die Geschichte und die Entwicklung der Figur zu starten. Und Clara hat mich neugierig gemacht. Darüber hinaus wollte ich unbedingt mit Lone Scherfig arbeiten. Ich bewundere ihre Arbeit seit über 15 Jahren und war gespannt darauf, wie es sein würde, mit ihr am Set zu sein.

Wie intensiv haben Sie sich vorab in die Rolle eingearbeitet? Haben Sie sich trotz Ihrer damaligen Schwangerschaft Empfindungen wie Kälte und Hunger ausgesetzt, um der Figur näher zu kommen?
Zoe Kazan: Das nicht, aber ich habe wie Clara im Film tatsächlich unter dem Piano geschlafen, weil wir die Szene in Kopenhagen gedreht haben und ich erst morgens total übermüdet ankam. Also habe ich mir das Piano gleich zu Nutzen gemacht und mich darunter gelegt. Aber davon abgesehen habe ich versucht, alle weiteren Extremsituationen und harten Lebensumstände, soweit es ging, zu vermeiden. Ich war während der Dreharbeiten bereits im zweiten Abschnitt meiner Schwangerschaft, das war anstrengend genug, vor allem wenn man bedenkt, dass wir hauptsächlich in Toronto im Schnee gedreht haben. Ich hatte bereits vor ein paar Jahren am Theater eine Figur gespielt, die sich aus häuslicher Gewalt befreit, und hatte mich damals schon sehr intensiv auf die Rolle vorbereitet. Darauf konnte ich jetzt erneut zurückgreifen. Zudem ist der Film ja auch kein Sozialdrama in dem ganz konkreten Sinn. Lone hat die Geschichte eher als eine Art moderne Fabel angelegt.

Haben Sie das auch in Hinblick darauf empfunden, wie Ihre Wahlheimat New York im Film dargestellt ist?
Zoe Kazan: Ja, ich denke, es ist eher eine Märchenversion von New York, jedenfalls fühlt es sich anders an, als die Stadt, in der ich lebe. Aber es ist Lones Vorstellung, und ich glaube, dass es ihr gelungen ist, auf ihre Weise ein paar Wahrheiten anzusprechen und offenzulegen, über die man sonst viel zu selten oder gar nicht nachdenkt, etwa, dass man nie weiß, was die Person neben einem gerade durchmacht. Ich finde diesen Gedanken sehr wichtig. Denn jeder von uns hat ein ganzes Meer in sich, das man von außen nicht sieht. Natürlich ist es immer einfach, mit der Einstellung durch die Welt zu gehen, dass man selbst humaner und menschlicher ist als die Leute um einen herum. Nur weiß man eben auch meistens nicht, was in den anderen Menschen vorgeht, allein deshalb ist diese Annahme von vornherein ungerechtfertigt.

Was macht eine Schwangerschaft mit einer Schauspielerin? Haben Sie den Dreh emotionaler empfunden als andere?
Zoe Kazan: Ganz ehrlich: Der größte Unterschied war, dass ich ständig müde war. Das Spielen war nicht das Problem, das war wie immer. Aber ich habe definitiv mehr Spinat gegessen als sonst und musste mich zwischen den Takes hinlegen.

Emotional hat Sie die intensive Beziehung zu Ihren beiden Söhnen im Film nicht belastet?
Zoe Kazan: Ich habe schon immer viel mit Kindern zu tun gehabt. Ich war in meiner Jugend Babysitter und Gruppenleiterin im Ferienlager. Ich liebe Kinder. Ich musste also nicht erst schwanger werden, um auch zu anderer Leute Kindern eine intensive Beziehung aufzubauen, die mir ans Herz geht.

Wie gut sind Sie darin, sich selbst und anderen Menschen zu vergeben, denn auch darum geht es ja im Film?
Zoe Kazan: Oh Gott, das weiß ich nicht. Das kann ich nicht sagen. Vergebung ist eine so mysteriöse, eine so mächtige Gewalt des Lebens, die sich nicht fassen lässt. Wahrscheinlich haben religiöse Menschen einen viel besseren Zugang zu dem, was der Begriff tatsächlich beinhaltet, als ich das in Worten ausdrücken kann. Mir fällt das jetzt auf Anhieb schwer.

Zwei Ihrer eigenen Drehbücher sind bereits verfilmt worden. Hat sich dadurch Ihre persönliche Perspektive auf Ihre Arbeit als Schauspielerin verändert?
Zoe Kazan: Wahrscheinlich schon. Ich denke, es hat dazu geführt, dass ich anders über meine Arbeit nachdenke. Es hat mich definitiv zu der Überlegung gebracht, warum ich Schauspielerin sein möchte, zumal man sich damit immer in die Hände anderer begibt. Und man kann extrem viel arbeiten und in eine Rolle investieren, ohne jegliche Kontrolle über den Film zu haben, der am Ende rauskommt. Ich muss dazu sagen, dass ich eher jemand bin, der gerne das Gefühl hat, das Projekt immer und zu jeder Zeit im Entstehungsprozess in Reichweite zu haben. Das heißt, irgendwann habe ich mich tatsächlich gefragt, ob ich vielleicht nur noch schreiben und das Schauspielern an den Nagel hängen sollte. Aber die Wahrheit ist, dass ich mich unheimlich gerne in den Körper und die Seele einer anderen Figur hineinversetze. Es scheint mir zutiefst am Herzen zu liegen, denn ich kann es nicht lassen. Ich sehe es irgendwie als einen Akt radikaler Empathie für die Welt. Und es hilft mir, als jemand, der sehr porös ist, mit etwas mehr als nur mir selbst durchs Leben zu gehen.

Mit einem Großvater wie Elia Kazan und aus einer Familie stammend, die so sehr im Filmgeschäft verwurzelt ist wie Ihre, hätten Sie da überhaupt eine Wahl gehabt, beruflich eine andere Richtung einzuschlagen?
Zoe Kazan: Ja und nein. Ich denke, ich war schon immer eine sehr kreative Person. Und ich habe mich schon immer viel und gerne mitgeteilt. Ich habe Geschichten erzählt, bevor ich schreiben konnte. Damals habe ich aus Aufklebern kleine Storyboards gebastelt und sie kommentiert. Meine Eltern mussten die Geschichten dann für mich aufschreiben. Aber natürlich hatte ich auch Eltern, die sich dafür interessiert und die mein Interesse aktiv gefördert haben. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich denke, dass es sicherlich entscheidender für meinen Werdegang war, wie ich aufgewachsen bin, als die Tatsache, dass meinem familiären Hintergrund ein gewisses filmisches Erbe eingeschrieben ist.

Wann haben Sie denn als Kind verstanden, was dieses Erbe bedeutet?
Zoe Kazan: Nicht, bis ich ein Teenager war. Eines Tages wurde ich in der Schule von einem Lehrer gefragt, ob ich mit dem Elia Kazan verwandt sei. Ich dachte zuerst noch, was für eine merkwürdige Frage. Dann bin ich nach Hause und habe meine Eltern gefragt. Ich wusste zwar schon immer, dass mein Großvater als Person sehr beeindruckend und imponierend war. Er war definitiv jemand, der den Raum mit seiner Aura aufhellte und die Kräfteverhältnisse veränderte, sobald er eintrat. Und ich wusste natürlich auch, was meine Eltern von Beruf machten, dass sie beide Drehbuchautoren waren. Aber im Hinblick auf den Einfluss meines Großvaters auf die Filmgeschichte und seine Stellung darin, davon hatte ich keine Ahnung, bis ich von außen darauf angesprochen wurde.

Haben Sie nie mit ihm darüber gesprochen?
Zoe Kazan: Es schien einfach nicht wichtig, wissen Sie. Haben Sie als Kind mit Ihren Großeltern über deren Beruf gesprochen? Es kam mir einfach nicht in den Sinn, aber ich denke nicht, dass das so ungewöhnlich ist. Und ich denke, es fiel auch meinen Eltern nicht schwer, diesen ganzen Überbau von mir fernzuhalten. Ich bin ihnen sogar sehr dankbar dafür, dass sie es getan haben.

Sie sagten eingangs, Sie wollten schon lange einmal mit Lone Scherfig zusammenarbeiten. Was hat Sie an ihr als Regisseurin und Autorin am meisten beeindruckt?
Zoe Kazan: Ich mag die Kombination aus Humor und Gefühl in ihrer Arbeit. Sie schafft es, diesen delikaten Ton zu treffen, der es einem erlaubt, über eine Figur zu lachen und gleichzeitig zutiefst mit ihr verbunden zu sein. Dafür muss man seine Figuren sehr lieben, und ich glaube, das tut sie. Und zwar in der gleichen Art und Weise, wie man auch ein Mitglied in der Familie auslachen würde, eben weil man die Person so gut kennt und so sehr liebt. Dadurch erlaubt sie es im Grunde indirekt auch uns selbst, als Zuschauer, über unsere eigenen Schwächen zu schmunzeln. Und ich finde, dass ihren Filmen eine enorme Emotionalität und Sensibilität eingeschrieben ist, die sich quasi komplett unbeschützt offenbart und überhaupt nicht ironisch gemeint ist. Und das weiß ich sehr zu schätzen, weil ich beispielsweise in der Hinsicht ganz anders gestrickt bin. Ich bin viel zynischer. Aber es gehört eine Menge Mut dazu, sich so verletzlich und offen zu zeigen. Das imponiert mir wirklich sehr.

Wieso denken Sie, sind Sie so viel zynischer?
Zoe Kazan: Na ja, ich glaube einfach, ich habe über die Jahre gelernt, mich zu schützen. Wie gesagt, ich bin von Natur aus eigentlich eine sehr durchlässige Person. Als Kind habe ich immer sofort geweint, wenn ich gesehen habe, wie jemand anderes verletzt wird. Es hat bei mir etwas von realer Verbundenheit, wie ich mit anderen Leuten mitfühle. Und das macht es mir nicht einfach, durch die Welt zu gehen, in der wir leben. Ich musste mir also eine Art Schutzmantel zulegen, um mir nicht immer ständig alles zu sehr zu Herzen zu nehmen.

Was haben Sie im Laufe Ihrer Karriere bisher über das Drehbuchschreiben gelernt?
Zoe Kazan: Ach du meine Güte, da gibt es so viel. Ich habe ein ganzes Stück im Schneideraum gelernt, als wir Wildlife gemacht haben. Wir, das heißt, mein Partner Paul Dano und ich. Ich dachte, wir hatten bereits die spärlichste Skriptversion geschrieben, die möglich ist, aber beim Schneiden hat sich herausgestellt, dass es noch viel mehr gab, das man streichen und trotzdem dieselbe Geschichte erzählen konnte. Ein Bild ist tausend Wörter wert, hat man mir immer wieder gesagt. Und es ist wirklich so. Man braucht so viele Informationen, um eine Seite im Skript auf die Leinwand zu bringen. Aber ist sie erst einmal gefilmt, wird vieles überflüssig, was auf dem Papier steht. Es ist gewissermaßen ein Tanz zwischen den Wörtern im Drehbuch, dem Bild auf der Leinwand und dem Dialog zwischen den Figuren. Das ist mir bei der Arbeit an dem Film deutlicher klar geworden als je zuvor. Und ich habe über die Jahre gelernt, meiner Nase zu folgen. Ich habe viele Sachen geschrieben, die niemals die Leinwand oder eine Bühne erblicken werden. Aber sie haben mich zum nächsten Projekt, zur nächsten Geschichte, zur nächsten Stufe geführt. Keine Arbeit ist vertane Arbeit. Und damit meine ich tatsächlich hunderte und tausende Wörter auf meiner Speicherplatte im Computer, aus denen niemals irgendetwas werden wird und die sich doch in etwas anderes umwandeln, wenn Sie verstehen, was ich meine. Nehmen Sie beispielsweise das letzte Theaterstück, das ich geschrieben habe. Die Idee dazu hatte ich vor sieben Jahren. Damals habe ich nur einen Absatz aufgeschrieben, um an der Idee festzuhalten. Und es hat eben diese sieben Jahre gebraucht. Diese Art der Dauer und des Prozesses, wie die Dinge entstehen und wachsen, finde ich unheimlich spannend.

Paul Dano hat bei „Wildlife“ erstmals auch Regie geführt. Haben Sie ähnliche Ambitionen?
Zoe Kazan: Ja, ich würde auch gerne Regie führen, aber ich weiß noch nicht, wann oder wie oder was. Aber ganz im Ernst, ich habe mich im Schneideraum so wohl gefühlt. Da würde ich gerne wieder hin.

Gibt es Pläne zwischen Ihnen, die Zusammenarbeit vor und hinter der Kamera fortzusetzen?
Zoe Kazan: Im Moment planen wir nichts. Wir haben den einen Film ja gerade erst in die Welt hinausgetragen, und außerdem haben wir ein Kind bekommen.

Also eigentlich zwei Babies auf einmal.
Zoe Kazan: Genau. Das reicht erst einmal.