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The-Northman

Filmstart

The Northman

| Marc Hairapetian |
Eine Welt ohne Mitleid

„Ich werde dich rächen, Vater! Ich werde dich retten, Mutter! Ich werde dich töten, Fjölnir“, schwört anno 895 der zehnjährige Amleth auf der Flucht. 30 Jahre später bietet sich für ihn (jetzt dargestellt von Alexander Skarsgård) endlich die Chance dafür. Wer aufgrund der inhaltlichen Zusammenfassung von The Northman ein typisches Hollywood-Charles-Bronson-Action-Rache-Epos à la Death Wish (1974) erwartet, hat die Rechnung ohne Regisseur Robert Eggers gemacht. Sein Film ist noch blutiger, liefert aber vermutlich die detailgetreueste Version der Wikinger-Ära ab, die je das Licht der Kinoleinwand erblickt hat.

Zusammen mit Ko-Drehbuchautor Sjón Sigurdsson orientiert sich der US-amerikanische Filmemacher an einer von dem dänischen Historiker Saxo Grammaticus (* um 1160; † nach 1216) überlieferten altenglischen Sage. Dieser lag schon William Shakespeares Tragödie Hamlet (1601/1602) zu Grunde. Bei Eggers scheitert Amleth (sic!) allerdings nicht am „Sein oder Nichtsein“ bzw. „denken oder handeln“. Im Gegenteil: Er ist ein hochgepumpter Modellathlet, wie aus einem heutigen Fitnessstudio entsprungen, der kein Pardon kennt und auch in Kauf nimmt, das unschuldige Frauen und Kinder bei seinem gnadenlosen Rachefeldzug bei lebendigem Leib verbrennen.The Northman ist also nichts für zarte Gemüter.

Die Mischung aus Historien-Epos und Psycho-Thriller ist im Wortsinn bildgewaltig. Dabei setzt Eggers auf bewährte Stab-Mitglieder wie Kameramann Jarin Blaschke und Cutterin Louise Ford, mit denen er schon The Witch: A New-England Folktale (2015) und The Lighthouse (2019) gemacht hat. Zugunsten von akribisch geplanten, langen Einstellungen verzichtet er zum Glück auf den Einsatz von nervigen Handkameras. Deshalb hat der Zuschauer den Eindruck, immer die ganze Szenerie im Blick zu haben.

Allerdings ist nicht alles handwerklich gelungen: So ist der vor sich dahinschleppende Soundtrack von Robin Carolan und Sebastian Gainsborough genauso schwer erträglich wie die an Grausamkeit kaum zu überbietenden Blutbäder. Dafür bietet die an Originalschauplätzen in Irland, Nordirland und Island gedrehte 95 Millionen Dollar teure Produktion ein internationales Staraufgebot der Sonderklasse: Ethan Hawke überzeugt in seiner ersten Altersrolle als weiser Wikinger-König Aurvandil, der sich von allein in die Totenwelt verabschieden und die Macht seinem Sohn Amleth übertragen will. Doch Fjölnir (Claes Bang), der Halbbruder des Herrschers, kommt dem zuvor. Er tötet den König, um selbst den Thron an sich zu reißen. Der junge Prinz kann fliehen, muss aber noch mitansehen, wie sein Onkel Königin Gudrún (Nicole Kidman), Amleths Mutter, gefangen nimmt. Diese hat am Ende, bei dem – ohne jetzt zu spoilern – einiges anders kommt, als man vielleicht denkt, die eindringlichste Monolog-Szene ihrer gesamten Karriere. Sie adelt durch ihr feines Spiel das martialische Treiben. In Nebenrollen überzeugen Willem Dafoe in der Rolle des Hofnarren Heimir und Anya Taylor-Joy als slawische Sklavin Olga vom Birkenwald, in die sich, wie sollte es anders sein, Skarsgårds Amleth verliebt. Dafür ist Sängerin Björk mit dem Part der blinden Seherin etwas überfordert.

The Northman bietet Spannung wie einst Richard Fleischers The Vikings (1958), ist aber auch eine spirituelle Reise mit der cineastischen Zeitmaschine in eine düstere Vergangenheit ohne Mitleid, in etwa wie Nicolas Winding Refns Walhalla Rising (2009) oder David Lowerys The Green Knight (2021).