Vor hundert Jahren sank die Titanic. Zum 3D-Neustart von James Camerons Kassenschlager: ein historischer Abriss über die Mythisierung eines Ereignisses, von dem es kein Bild gibt, in Filmbildern.
Als Modellkatastrophe des 20. Jahrhunderts gilt der Untergang der Titanic. Erinnert wird sie heute vor allem durch einen Film, die melodramatische Hollywood-Adaption von James Cameron von 1997 (Titanic – Being James Cameron), in Farbe und Cinemascope. Wie in der Oper ist der Verlauf bekannt, ebenso der Ausgang. In der Folge der Meldung von jener beispiellosen Havarie, durch die das gänzlich Unangenommene, jenseits unserer GAU-Vorstellung, Einzug hielt, sind seit hundert Jahren Bilder für ein Ereignis produziert worden, von dem es selbst keine Abbildungen gab, nur Erinnerungen Überlebender. Und stets von neuem belebte sich die Einfühlung des Betrachters. „Ein Zeitalter geht zu Ende“, stand über Zeitungsartikeln – „Die Menschheit hat ihre Unschuld verloren“, oder auch: „Hochmut kommt vor dem Fall!“
„Die Titanic ist keine Arche Noah des Bösen, aber eine Arche Noah der Selbstüberschätzung der Ingenieursmacht“, so Alexander Kluge, dessen Geschichte „Eine zweite Titanic“ (2006) vom Brand eines Opernhauses in Smyrna erzählt. Den neuzeitlichen Kränkungen des Menschen wurde die Erfahrung von Ohnmacht und Nichtigkeit hinzugesetzt gegenüber dem Erhabenen, einer Dimension mithin von Überwältigung, die uns schaudern lässt – Überwältigungskino.
„Die Titanic ist eine Metapher für die Unvermeidlichkeit des Todes“, lautete das Credo des Regisseurs James Cameron. „Wir alle befinden uns auf der Titanic.“ Die grandiosen Metaphern eines Dichters, der sich in Anlehnung an Dantes „Göttliche Komödie“ in die Jungfernfahrt jenes Luxusliners hineinver-setzte, sind früher da, gegenüber dem Oscar-Abräumer Titanic (1997) der Twentieth Century Fox bilden sie eine Avantgarde: „Das Zwischendeck / versteht kein Englisch, kein Deutsch, nur eins / braucht ihm kein Mensch zu erklären: / daß die Erste Klasse zuerst drankommt, / daß es nie genug Milch und nie genug Schuhe / und nie genug Rettungsboote für alle gibt.“ (Hans Magnus Enzensberger, „Der Untergang der Titanic“. Eine Komödie. Zweiter Gesang; 1978).
Massive Mythisierung
Um von der Aktualitätenneugier zu profitieren, ehe das Thema „ausgereizt“ war, wurden in Folge der Nachricht von der Havarie des größten Ozeanriesen seiner Zeit zunächst Lichtbild-Diapositive unter dem Titel „Der Untergang der Titanic“, mit „wahrheitsgetreuen Wiedergaben“ in Originalzeichnungen von Marinemalern projiziert. Bereits im Mai 1912 wurde das Publikum des Seeunglücks mancherorts aufgerufen, den Choral „Näher mein Gott zu Dir“ anzustimmen, wie es in dem britischen Titanic-Film A Night to Remember (1958, Regie: Roy Ward Baker) von der Menge der zurückgebliebenen Passagiere, das unabwendbare Schicksal vor Augen, als ein letztes, gemeinsames Gebet auf der bugabwärts schrägliegenden Titanic gesungen wird, so dass sich das Publikum, durch jenen Hymnus integriert, als Teil einer Gemeinschaft von Überlebenden fühlen durfte. Heute wissen wir, dass die Kapelle Ragtime spielte; von ihren Booten aus konnten es die Geretteten hören.
Bereits im Juli 1912 kam eine erste dramatisierte Filmversion des Ereignisses aus Amerika, Saved from the Titanic (deutscher Titel: „Was die Titanic sie lehrte“) auf den europäischen Markt, ein zehnminütiger One-Reeler, dessen Protagonistin, die Schauspielerin Dorothy Gibson, tatsächlich das Titanic-Unglück überlebt hatte. Der heute allerdings verschollene Film schildert die katastrophalen Ereignisse im Rückblick, einschließlich dokumentarischer Originalaufnahmen des Schiffes und einer nachgestellten Eisberg-Kollision. Womöglich hat James Cameron in Anlehnung hieran seine Titanic-Fassung mit einer quasi-authentischen Rahmenhandlung ausgestattet, um die Geschichte an die Gegenwart des Films anzudocken. Das zweite Kapitel der Titanic-Mythisierung begann nicht zufällig Anfang der achtziger Jahre in der Phase mehrerer Expeditionen auf der Suche nach dem Titanic-Wrack. Die Bergung von Objekten aus Meeres- und Zeitentiefe legte der massiven Mythisierung des Themas durch Cameron gewissermaßen den roten Teppich aus.
Es wird gewesen sein
17 Tage nach dem Untergang der Titanic ordnete das britische Handelsministerium eine Untersuchung an, die bis zum 3. Juli dauerte; sie führte zu Maßnahmen für die verbesserte Sicherheit auf See, welche A Night to Remember 1958 in seinem Nachspann auflistet – mit dem Tenor, die Opfer seien nicht umsonst gewesen, eine befremdliche Wendung. Die Protokolle von den Zeugenbefragungen füllten tausende Seiten, Romanciers, Dramatiker und Filmszenaristen wiesen ausdrücklich auf die Verwendung dieser Quellen hin. Jener differenzierten und plausiblen Titanic-Version aus England lag das maßgebliche Buch selben Titels (1955) von Walter Lord zugrunde, das einem der weltbesten Autoren von Spionageromanen, Eric Ambler, als Vorlage für sein Drehbuch diente.
Zwei Monate nach dem Untergang waren die Dreharbeiten zu einem Film bereits beendet, von dem die Berliner Continental-Kunstfilm sich eine Extrarendite aus Aktualitätsvorsprung einer Art ersten Dokudramas zum Thema versprach. In Aussicht gestellt wurde die ganze Katastrophe, einschließlich Zusammenstoß sowie dramatischer Szenen an Bord. Den im Juli 1912 fertiggestellten Film Titanic – In Nacht und Eis (Regie: Mime Misu) annoncierte man als „Seedrama in drei Akten. Lebenswahr gestellt nach authentischen Berichten“. Bereits angesichts dieses frühen Medienereignisses folgten die Fakten der Fiktion. Als die Überlebenden im Hafen anlangten, war die letzte telegrafisch übermittelte Nachricht von Bord der Titanic – „Sinking by the head. Have cleared boats and filled them with women and children“ – schon zu Geschichten dramatisiert worden – , der Mythos verankert, das Personal ausgewählt, die Handlungsträger waren konzipiert, Optionen der Dramatisierung ausgelotet. Und immer fand eine Betrachtung vom Ende der Geschichte her statt, was den Handelnden das Kainszeichen verlieh, ob sie leben oder sterben würden, und so zu einer paradoxen Erzählung nach Art einer vergangenen Zukunft führte – „es wird gewesen sein“. Hier ein Zwischentitel des zweiten Akts zu den Bordfunkern, die in jeder Titanic-Version exponiert sind: „4. Bild: Dienst in der Station für drahtlose Telegraphie. Der zweite Telegraphist, welcher gerettet wurde, bei der Arbeit. 5. Bild. Der erste Telegraphist, welcher sich aufopferte und heldenhaft mit dem Schiff unterging, lässt sich Bericht erstatten.“
Spekulation rücksichtsloser plutokraten
Zum ersten Schub filmischer Titanic-Adaptionen ist noch die britische Produktion Atlantic (1929) zu zählen, ein erster hundertprozentiger deutscher Sprechfilm (Regie: E.A. Dupont), der auch in englischer und französischer Sprachversion hergestellt wurde. Die Schwerpunkthandlung im Salon kreist um einen von Fritz Kortner gespielten, an den Rollstuhl gebundenen Schriftsteller, in einer Nebenrolle Willi Forst als ein humorig-waschlappiger Wiener Poldi. Als er sein Schicksal erfährt, singt er, sich selbst begleitend, „‘s wird schöne Maderln geb’n, und mir wer’n nimmer leb’n“, bis er schluchzend abbricht – die ergreifend unterspielte Szene gilt mit Recht als Durchbruch seiner Filmkarriere.
Erst während des Zweiten Weltkriegs wird der Katastrophenstoff unter dem Titel Titanic (1943) wieder aufgegriffen von der Ufa, sein Regisseur Herbert Selpin gegen Ende der Dreharbeiten wahrscheinlich von seinem Szenaristen wegen abfälliger Bemerkungen über die Wehrmacht denunziert, von Goebbels ins Propagandaministerium einbestellt, inhaftiert und am Folgetag in seiner Zelle tot aufgefunden. Selpins Titanic-Version ist ein antibritischer Film mit der quasi antikapitalistischen Botschaft, dass allein die Spekulation rücksichtsloser Plutokraten – durch das Erreichen des Geschwindigkeitsrekords mit der Titanic die Aktienwerte der White-Star-Linie in die Höhe zu treiben – für den Tod tausender Menschen verantwortlich sei. Dennoch wird Titanic während der NS-Zeit im Reich verboten, angeblich, weil dem deutschen Publikum in den Härten des Krieges ein solcher Katastrophenfilm nicht zuzumuten sei. Freigegeben war der Film dagegen in den okkupierten Gebieten. Der erste Offizier der Titanic ist ein Deutscher, die Verkörperung von unkorrumpierbarer Pflichterfüllung und Gewissenhaftigkeit, der einzige Warner. Als die Katastrophe losbricht, kommt es zwischen ihm und einer rätselhaften extravaganten Baltin (Sybille Schmitz) zu einer Annäherung; nachdem sie erfahren hat, dass man ihre Besitztümer in Russland konfisziert habe, kämpft sie an seiner Seite um die Rettung von Frauen und Kindern.
Soziale Grenzüberschreitung
In der Vorführung von Schicksalsschlägen der Reichen, gegen die man trotz materiellen Wohlstands machtlos ist, manifestiert sich eine Art ausgleichende Gerechtigkeit. Kein Wunder, dass in allen Spielfilmen um die Titanic, einer wie eine Schichttorte angelegten sozialen Arche Noah, in der noch im Untergehen auf strikteste Trennung der Passagierklassen geachtet wird, die Handlung primär in den Festsälen und Salons der ersten Klasse stattfindet, mit kleinen Exkursen in die unteren Regionen. Nur wer von den armen Auswanderern aus dem Bauch des Schiffes sich aus Überlebenstrieb an dieser Schranke durchzusetzen vermag, hat die Chance auf einen Platz im Boot. Das Volk armer Auswanderer, mal gut gelaunt, mal grob, mal „tümlich“, tanzt in der unteren Etage nach einer „Zigeunerkapelle“.
Zwischen Luxusklasse und Zwischendeck lässt James Cameron die Liebenden Kate und Jack zusammentreffen. Einen unverkennbaren Einfluss auf Camerons Titanic besitzt der Vorläufer von 1953 (Regie: Jean Negulesco), für dessen Drehbuch Charles Brackett, der österreichische Emigrant Walter Reisch und Richard Breen den Oscar bekamen. Hier bestimmen die Eheprobleme der First-Class-Passagiere Sturges – gespielt von Barbara Stanwyck und Clifton Webb – die Haupthandlung; erst angesichts der Katastrophe versöhnt sich das Paar. Doch in der Liebelei zwischen der anfangs blasierten Tochter Annette und einem bodenständigen Studenten ist die soziale Grenzüberschreitung, die Camerons Film thematisieren wird, bereits angelegt.
Der größte Teil der Filmhandlung von Titanic (1953) spielt vor der Eisberg-Kollision. Die aufkommende Panik, in allen Versionen der Test auf den wahren Charakter, zeigt in allen Fassungen erstaunliche Persönlichkeitsveränderungen. Cameron hat seinen Film nicht mit dem Untergang enden lassen, dem Titanic-Standardmotiv aus dem ikonischen Kanon, wie sich das Heck des Schiffsrumpfs zuletzt aufstellt, ehe es mitsamt den zurückgebliebenen Passagieren vor den Augen der Überlebenden in den Rettungsbooten steil in die Tiefe jagt, er hat den Abschied des Liebespaares in den eisigen Fluten als Trennung ins Bild gesetzt, gleich einer ewigen kosmischen Vermählung, die Kate traurig und glücklich zurücklässt.