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Torino Filmfestival

Torino Filmfestival

Politik, Privates und Jazz

| Michael Ranze |
Von 23. November bis 1. Dezember gab es beim Torino Filmfestival wieder allerlei Feinheiten zu sehen.

Zu den kleinen Juwelen im europäischen Festival-Kalender gehört zweifellos das Filmfestival in Turin, eine Stadt, die man fälschlicherweise nur mit FIAT und Fußball verbindet. In Turin geht es vor allem um die Entdeckung junger Regisseure, um das unabhängige Kino, das sich abseits der ausgetretenen Pfade bewegt. Doch da ist noch mehr: Das Festival wirft auch immer einen Blick zurück, in diesem Jahr mit einer Powell/Pressburger- und einer Jean-Eustache-Retro, der italienische Regisseur Pupi Avati, bekannt für Filme wie Eine Geschichte von Männern und Frauen, war Schirmherr einer kleinen Reihe mit filmischen Jazz-Biografien, „Unforgettables“ überschrieben. Neben Bird und The Benny Goodman Story war auch Avatis eigener Film Bix über Bix Beiderbecke (1902–1931) zu sehen, dem wohl bedeutendsten weißen Trompeter des frühen Jazz. Und über allem schwebte der Geist von Rita Hayworth (sie wäre im Oktober 100 Jahre alt geworden), die einen auf Plakaten und Programmen fröhlich entgegen sprang. Und so wanderte man bei Regen durch die Arkaden der Via Roma und der Via Po, um trocken von Kino zu Kino zu gelangen, oder saß bei Sonnenschein auf der Piazza Vittorio Veneto, um sich zwischen den Filmen mit einem Espresso wachzuhalten. Selbstverständlich mit Mütze und Schal, denn Ende November ist es auch in Italien verdammt kalt.

Eröffnet wurde das Festival mit The Front Runner, dem neuen Film von Jason Reitman. Der Film verfolgt das Schicksal eines Mannes, der Geschichte hätte schreiben können: Gary Hart, Spitzenkandidat der Demokraten bei der Präsidentschaftswahl 1988 und aufgrund seiner Intelligenz und Eloquenz großer Hoffnungsträger junger Wähler. Doch ein Sex-Skandal brachte ihn zu Fall – Hart war gezwungen zurückzutreten, der kürzlich verstorbene George Bush wurde statt seiner Präsident. Reitman verfolgt den Wahlkampf im Stil eines Robert Altman (Tanner 88) und eines Franklin Schaffner (The Best Man). Er beobachtet Mitarbeiter, Journalisten, Unterstützer, Gegner, Familienmitglieder und vereint die unterschiedlichen Schnappschüsse zu einem stimmigen Ganzen. Interessant: Zum ersten Mal verschmolzen Boulevardjournalismus und politische Berichterstattung, mit verheerenden Folgen, die auch die Brücke zu heute schlagen: Solch ein integrer und moralischer Mann wie Hart sitzt heute eben nicht im Weißen Haus.

Im Wettbewerb, schlicht „Torino 36“ überschrieben, liefe einige Filme, die man schon von anderen Festivals oder dem Kinoalltag kannte, etwa 53 Wars der polnischen Regisseurin Ewa Bukowska, der seine Uraufführung in Karlovy Vary erlebte, Paul Danos Wildlife (der den Wettbewerb gewann) oder der packende Telefon-Thriller The Guilty, der den Publikumspreis erhielt. Als bester männlicher Hauptdarsteller wurde Rainer Bock ausgezeichnet, der in Atlas, dem Regiedebüt von David Nawrath, den altgewordenen, einsamen Möbelpacker Walter spielt, dessen Arbeitgeber sich auf Zwangsräumungen spezialisiert hat. Allerdings arbeitet sein Chef mit skrupellosen Armeniern zusammen, die Häuser brutal „entmieten“ und dann teuer weiter verkaufen. Als sich ein junger Mann weigert, mit Frau und Kind auszuziehen, erkennt Walter in ihm seinen vor Jahren zurück gewiesenen Sohn. Walter muss handeln, will er eine Katastrophe verhindern. Bock erinnert mit seiner schweigsamen Verschlossenheit an die einsamen Helden des Film noir und des Kinos von Jean-Pierre Melville. Fast schon phlegmatisch nimmt er sein Schicksal an, um dann, in einem kurzen Aufbäumen, sich und seinem Sohn noch ein zweite Chance zu geben.

Mit dem Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik wurde Pity (Oiktos) des griechischen Regisseurs Babis Makridis ausgezeichnet. Ein erfolgreicher Anwalt nimmt erst irritiert, dann erwartungsvoll das Mitleid entgegnen, dass ihm Nachbarn, Verwandte und Kollegen entgegenbringen, weil seine schwer verunglückte Frau noch immer im Koma liegt. Doch kaum ist die Gattin aus dem Koma erwacht, bleibt das Mitgefühl aus, die freundliche Nachbarin bringt keine Kuchen mehr zum Frühstück. Der Familienvater muss sich etwas einfallen lassen, will er weiter die Zuwendung seiner Mitmenschen einklagen. Die strenge Stilisierung erinnert an die Filme von Lanthimos. Doch belehrende Schrifttafeln über Schmerz und Mitleid sowie redundante Wiederholungen machen diesen Film zu einer anstrengenden Kinoerfahrung.

In anderen Sektionen waren die neuen Filme von Peter Strickland und Ben Wheatley zu sehen. Strickland widmete sich in In Fabric wieder seinem Lieblingsthema, dem Fetischismus. Ein rotes Kleid, gekauft in einer luxuriösen Boutique, hat für jede Frau, die es sich überstreift, unübersehbare und unangenehme Folgen. Strickland, in Turin 2014 mit Duke of Burgundy vertreten, nimmt Anleihen beim italienischen Giallo und beim Horrorfilm. Skurril, elegant, ironisch, teuflisch und irgendwie anders. Wheatley hingegen seziert mit Happy New Year, Colin Burstead bei einer Silvesterfeier in einem schicken Herrenhaus auf dem Land die brüchigen Beziehungen einer Familie. Anschuldigungen, Beleidigungen, Geständnisse, Rachegelüste und deren Erwiderung tragen sich auf kleinem Raum innerhalb kurzer Zeit zu. Das geht in dieser Konsequenz nur mit einem tollen Cast, von Charles Dance über Sam Riley bis Alexandra Maria Lara.

Der Sonntag nach der Preisverleihung stand ganz im Zeichen von Bernardo Bertolucci, der während des Festivals verstarb. NovecentoIl Conformista und Stealing Beauty liefen hinter einander. Auch das gehört zur Stärke des Festivals von Turin: Es gedenkt des italienischen Meisters auf denkbar einfache Weise, indem es seine Filme zeigt. Addio, Bernardo!

http://www.torinofilmfest.org/