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Packende Romanadaptionen und Kammerspiele, schwache Satiren

| Kirsten Liese |
Das Toronto Filmfestival 2019

Nichts wird beim Filmfestival Toronto größer geschrieben als der Glamour Hollywoods. Auch wenn es keinen internationalen Wettbewerb ausrichtet wie die europäischen A-Festivals in Cannes, Venedig, Berlin oder San Sebastian, so kommen hier doch zahlreiche starbesetzte Produktionen zur Weltpremiere. Und weil sich das Festival in diesem Jahr besonders für die Unterstützung von Frauen vor und hinter der Kamera stark machte, waren die besonders zahlreich versammelt: Meryl Streep, Scarlett Johansson, Nicole Kidman, Susan Sarandon, Kristen Stewart, Natalie Portman oder Jennifer Lopez präsentierten sich auf dem Roten Teppich. Wenn sich mit diesem Staraufgebot, zu dem unter den Männern Tom Hanks, Matt Damon, Christian Bale oder auch Anthony Hopkins zählten, auch noch hohe Qualitätsansprüche verbinden, ist das freilich umso schöner.

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Nicht alle diese Stars präsentierten sich in Weltpremieren, viele Filme liefen kurz zuvor auch schon in Venedig, auch einige Produktionen aus Cannes, Locarno und Berlin spielte das Festival nach, so dass auch das Autorenkino nicht zu kurz kam. Aber zurück zum Hollywood-Kino. Das zeigte sich besonders stark im Hinblick auf Romanadaptionen und Biopics.

Besonders berührte die Adaption Der Distelfink (The Goldfinch) nach dem mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten gleichnamigen Roman von Donna Tartt. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, dessen Leben schicksalhaft aus der Bahn geworfen wird, als er als Kind seine Mutter in einem Museum bei einem Bombenanschlag verliert. Ein Sterbender, dem er kurz nach dem Anschlag begegnet, ermuntert ihn, das Gemälde eines holländischen Altmeisters, jenen titelgebenden „Distelfink“ an sich zu nehmen. Es bringt ihn einer Zukunft entgegen, die er unter anderen Umständen vielleicht nie entdeckt hätte. Aber dieser Theo ist auch ein Verlorener, der aus einer reichen Pflegefamilie, die ihn nach der Tragödie aufnimmt, wieder herausgerissen wird: Sein Vater, ein Alkoholiker, den er seit der Trennung von der Mutter lange nicht gesehen hatte, holt ihn zu sich. Wie sich herausstellt, will er dem Sohn zur Gründung einer neuen zweifelhaften Existenz das Geld abnehmen, das seine geschiedene Frau dem Jungen hinterlassen hat, kommt bei einem Unfall aber auch noch ums Leben, als Theo es ihm nicht beschaffen kann. Wichtige Nebenfiguren, Episoden und Handlungsstränge führt Regisseur John Crowley kunstvoll verschachtelt und ungemein spannend zusammen. Zur Filmkunst wird dieses Drama mit Nicole Kidman als fürsorglicher Pflegemutter dank Bildern, die wie lebendig gewordene Gemälde anmuten, in denen man sich verlieren könnte. Das zertrümmerte Museum nach dem Terroranschlag erinnert an eine surreale Mondlandschaft.

Großes Gefühlskino bescherte zudem Blackbird, das starbesetzte amerikanische Remake von Bille Augusts dänischem Sterbehilfe-Drama Silent Heart. Dank exquisitem Ensemble, zu dem neben Susan Sarandon in der zentralen Rolle der an ALS erkrankten Lily, Kate Winslet und Maria Wasikowska als ihre Töchter Jennifer und Anna zählen, gelingt Roger Michell ein bewegendes Kammerspiel, das dem Original in nichts nachsteht. Ein Wochenende hat Lily ihre Familie um sich versammelt, um vor ihrem selbstbestimmten Tod Abschied zu nehmen und im Kreise ihrer Lieben alles zu tun, was ihr Freude macht: Weihnachten feiern, gut essen, spazieren gehen, kiffen und entspannen. Doch brechen bei der Zusammenkunft starke Konflikte auf, die zuvor nie zur Sprache kamen. Erstmals erfährt Lily, dass Anna, ihre jüngere Tochter, die nur in ihrer Beziehung mit ihrer lesbischen Lebensgefährtin Chris etwas Halt gefunden hat, einmal kurz vor dem Selbstmord stand und psychiatrischer Betreuung bedurfte. Die ältere Tochter will Lilys Entschluss zum selbstbestimmten Sterben plötzlich nicht mehr akzeptieren, als sie schockiert herausfindet, dass ihr Vater, der ihre Mutter als Arzt mit einem giftigen Cocktail erlösen soll, in einer Liebesbeziehung mit der langjährigen Hausfreundin steht. In ihrer vielleicht stärksten Szene erklärt Lily, dass sie sich diese Liebesbeziehung gewünscht hat, damit die Menschen, die ihr soviel bedeuten, in ihrem Schmerz nach ihrem Tod nicht alleine sind. Susan Sarandon bringt für solche Momente die entsprechende Größe mit, wirkt authentisch und rührt mit ihrer Tapferkeit stark an.

Überhaupt ließ sich in Toronto mit Freuden konstatieren, dass das anglo-amerikanische Kino derzeit zahlreiche dankbare Rollen und niveauvolle Drehbücher für treffliche Schauspielerinnen hergibt. Dazu zählt beispielsweise auch Seberg, das Porträt der von Kristen Stewart verkörperten Ikone der Nouvelle Vague (Außer Atem). Der Film von Andrew Benedict maßt sich nicht an, das gesamte Leben der Schauspielerin abzubilden, unternimmt noch nicht einmal über Rückblenden kurze Ausflüge in Sebergs Jugend, ihren Aufstieg oder ihre künstlerische Arbeit in Frankreich und Hollywood. Vielmehr konzentriert er sich auf einen überschaubaren Lebensabschnitt, die letzten Jahre der streitbaren Nonkonformistin, die die Black Panther Bewegung unterstützte und eine Affäre mit einem schwarzafrikanischen Aktivisten hatte. Seine Spannung gewinnt sich dieser Film aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: der von Seberg und der des FBI, das sie überwacht und zermürbt, bis die Künstlerin schließlich in schwere Depressionen verfällt.

Mein persönlicher Favorit war Hope Gap, ein bewegendes, minimalistisches britisches Kammerspiel von William Nicholsen um ein Paar, dessen Ehe nach 29 Jahren in die Brüche geht. Das klingt zunächst nicht sonderlich spektakulär. Unter Hunderten von Geschichten um untreue Ehemänner, die ihre Frau für eine Andere sitzen lassen, ist diese aber doch eine besondere. Denn Nicholsen bedient einmal nicht das Klischee eines testosterongesteuerten Patriarchen, der seinen zweiten oder dritten Frühling mit einer wesentlich jüngeren Frau erleben will und am Ende womöglich reuevoll zur Gattin zurückehrt. Vielmehr verkörpert der großartige Bill Nighy diesen Edward als einen introvertierten, allemal sensiblen Mann, der schon viel zu lange unter dem Gefühl gelitten hat, seine dominante, ihn permanent mit ihren unerfüllten Bedürfnissen drangsalierenden Frau nicht glücklich machen zu können. Schweren Herzens und mit Schuldgefühlen flüchtet er in die Beziehung zu einer anderen, Gleichaltrigen, der Mutter eines Schülers. Annette Benning, immer eine starke Persönlichkeit auf der Leinwand, ist Grace, die Ehefrau, die durch ihr selbstbewusstes Auftreten und ihr Insistieren auf ihren kommunikativen Ansprüchen einerseits sehr selbstbewusst und emanzipiert erscheint, dann aber zusehends unsouveräner agiert, indem sie die Trennung nicht akzeptieren will. Obwohl Benning zweifellos schon mit ihrem Wesen eine anfangs sympathische, zutiefst verletzte, starke Frau hinstellt, bleibt ihre Figur ambivalent. Mehr und mehr wird sie – so wie sie auch versucht, den Sohn gegen den Vater aufzuwiegeln – zu einer penetranten Nervensäge, die nicht loslassen kann und mit aller Macht und Berufung auf erzkonservative katholische Überzeugungen ihren Mann um jeden Preis zurückgewinnen will. Die vor allem in Zeiten von #MeToo gängige Rollenverteilung gute Frau, böser Mann, ist in diesem Kammerspiel, das mit den umwerfenden schauspielerischen Leistungen ein bisschen an den preisgekrönten Film 45 Years erinnert, einmal außer Kraft gesetzt, und davon profitiert es sehr.

Weniger überzeugend unter den in Toronto gezeigten Weltpremieren wirkten dagegen trotz Starbesetzung zwei Politsatiren: Laundromat mit Meryl Streep, in Toronto ausgezeichnet mit dem Ehrenpreis Actor Award, nimmt Steuerhinterziehung und Korruption in den USA am Beispiel der Panama Papers aufs Korn, dies aber leider flach und mit einem Humor für schlichte Gemüter. Ebenso klischeereich und simpel mokiert sich die Komödie JoJo Rabbit in der Scarlett Johansson eine Mutter im Widerstand spielt, über Adolf Hitler und die Nazis. Schon erstaunlich, dass das Publikum just diese Klamotte mit dem begehrten Audience Award auszeichnete, die nicht annährend an die Meisterschaft von Chaplins großartiger Hitler-Satire Der große Diktator heranreicht.

Als einziger deutscher Beitrag kam – neben zahlreichen Koproduktionen mit deutschen Schauspielern- nur Ina Weisses Drama Das Vorspiel zur Weltpremiere in Toronto. Es ist nach Der Klavierspieler vom Gar du Nord und Prélude ein weiterer Film, in dem eine allzu strenge, garstige Musikpädagogin ihre Schüler gnadenlos malträtiert. Mag das auch ein Zufall sein, so fragt man sich doch, warum sich das Kino gerade an solch einer Figur festbeißt. Dass Weisses Film sich gleichwohl von den genannten Produktionen positiv stark abhebt, verdankt er der grandiosen Hauptdarstellerin: Nach längerer Abwesenheit kehrt Nina Hoss auf die Leinwand zurück. Mit ihrem nuanciert-minimalistischem Spiel weckt sie Interesse an ihrer Figur, Anna, eine zerrissene Geigenlehrerin um die 40.
Gegen den Rat von Kollegen (darunter Sophie Rois als eine weitere höchst unangenehme Lehrerin) nimmt sie am Konservatorium ein junges Talent unter ihre Fittiche. Aber damit werden die Probleme, die sie in ihrem Leben ohnehin schon hat, noch schlimmer: Den eigenen Sohn, der bei einer Kollegin Geigenunterricht hat und zunehmend eifersüchtiger auf den neuen Schüler wird, vernachlässigt sie. Als dann der Schüler, in den sie Hoffnungen gesteckt hat, sie mit seinen Fortschritten nicht zufrieden stellt, wird aus der anfänglich geduldigen Pädagogin eine fiese, die mit ihren Methoden Grenzen überschreitet.
Ina Weisse erzählt ihre Geschichte mit Leerstellen, die mal unheimlich anmuten, mal aber auch beliebig. So gibt zum Beispiel Hanns Zischler Hoss’ Filmvater als eine Figur mit sadistischen Anflügen. Und dann gibt es noch einen Cellisten, der Anna für sein Streichquartett engagiert. Mit ihm hat die Geigerin auch ein Verhältnis, aber wozu sie dieses neben ihrer doch recht harmonisch wirkenden Ehe mit einem Geigenbauer braucht, erschließt sich nicht.

Mit der französisch-deutschen Koproduktion My Zoe zeigte Toronto einen Film, der große moralische Fragen diskutiert. July Delpy führt Regie und spielt eine Mutter, die hilflos ansehen muss, wie ihre sechsjährige Tochter einen Hirntod erleidet. Von Beruf Genforscherin, entschließt sie sich in ihrer Verzweiflung, ihre Tochter klonen zu lassen und begibt sich dazu nach Russland. Daniel Brühl, eine erfahrene Kapazität auf dem Gebiet, soll ihr dabei helfen, lehnt das erst aus ethischen Gründen und im Hinblick auf eine geringe Aussicht kategorisch ab, macht es dann aber doch. Der Film bringt alle Aspekte ein, die dagegen sprechen, und weckt doch – ganz fokussiert auf die spezielle Situation der Mutter- Verständnis für ihre Entscheidung.

Ein weiteres packendes, wenngleich auch schwer verdauliches Drama bescherte Toronto schließlich das ebenfalls in Weltpremiere zu erlebende jüngste Werk des Österreichers Karl Markovics: Nobadi erzählt von der Begegnung zwischen einem über 90-jährigen ehemaligen SS-Mann (Heinrich Trixner) und einem afghanischen Flüchtling (Borhan Hassan Zadeh), der ihm seine Dienste anbietet. Obwohl der geizige Alte, Heinrich Senft, dem verletzten, humpelnden Mann viel zu wenig Geld anbietet, lässt der sich darauf ein und gräbt im Schweiße seines Angesichts mit Spitzhacke ein großes Loch im Schrebergarten seines Auftraggebers, in dem dessen verstorbener Hund begraben werden soll. Als er fertig ist und der Alte sein Geld nicht findet, beschuldigt er den Migranten noch des Diebstahls und nötigt ihn, sich bis auf die Unterhose nackt auszuziehen, bis ihm einfällt, wo er sein Geld versteckt hat. Als Senft den Migranten wenig später an einer Bushaltestelle wiederfindet, kann der vor Schmerzen nicht mehr laufen. Senft will einen Notarzt holen, aber aus Angst, abgeschoben zu werden, verweigert der Illegale jegliche ärztliche Behandlung. Unerwartet weckt er gleichwohl das Mitgefühl des alten schroffen Geizkragens, der, einst Sanitäter in einem Konzentrationslager, allerlei Versuche unternimmt, dem Schwerverwundeten zu helfen. Bitterböse, grotesk und abgründig: untypisch für Markovics, aber eine geschätzte Spielart des österreichischen Kinos.

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