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Der er problemer mellem Birgitte Nyborg og Kasper (Pilou Asbæk) og Katrine (Birgitte Hjort Sørensen) efter et interview, der ikke gik som aftalt. Foto: Mike Kollöffel, DR.

TV-Serien

Doppelspitze

| Roman Scheiber |
Die Politikserie „Borgen“ hat neue Maßstäbe für europäisches Fernsehen gesetzt und die reale Politik Dänemarks beeinflusst.

Was hatte Österreich noch nie, Dänemark aber schon? Einen weiblichen Regierungschef. Was hat das kleinere Land Dänemark, was das größere Land Österreich wahrscheinlich noch lange nicht haben wird? Eine eigenproduzierte Dramaserie, in deren Zentrum ein weiblicher Regierungschef steht. Interessant daran ist überdies Reihenfolge und Überlappung, denn schon seit Oktober 2010 haben die Dänen Birgitte Nyborg als Premier, Helle Thorning-Schmidt kam erst ein Jahr später hinzu. Dann gab es zwei Jahre lang quasi eine Doppelspitze.

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Thorning-Schmidt ist Vorsitzende der Sozialdemokraten und Dänemarks derzeitige Premierministerin. Birgitte Nyborg heißt die Heldin von Borgen (2010–2013, dt.: „Burg“, benannt nach dem Spitznamen des Parlaments- und Regierungssitzes im Kopenhagener Schloss Christiansborg). Mit der von Adam Price erfundenen Serie bewies der Sender Danmarks Radio 1, dass dänische Kreative nicht nur das populäre Fach des Nordic Noir beherrschen, sondern auch jenen Bereich, der seit geraumer Zeit vor allem mit dem Begriff „Verdrossenheit“ assoziiert wird. Es brauchte Mut, um so eine Serie in Auftrag zu geben: In Borgen wird diskutiert, entworfen, über Zahlen gestritten und über sachpolitische Themen verhandelt, bis die zusammengesteckten Köpfe rauchen. Es wird taktiert, geschachert, wahlgekämpft, spin-gedoktert, ausgekontert und schmutzkampagnisiert, was das Zeug hält. Vor allem aber wird der Mensch als politisches Tier gezeigt, und der Politiker als Mensch. Und, das vielleicht Überraschendste daran, es wird tatsächlich Lust auf Politik gemacht.

Dass die Fiktion die Realität vorwegnehmen sollte, wie im Fall der ersten Kanzlerin, war die Sondervergütung dieses Multiparteiensystemporträts, von dem sogar dänische Politiker sagten, es sei überaus nah an der Realität gebastelt. Es sind beeindruckend viele Stimmen, die Birgitte Nyborg (Sidse Babett Knudsen) – eine Repräsentantin der politischen Mitte –, ihre Parteikollegen und ihre wechselnde Entourage im Lauf von 30 Episoden sammeln konnten: Halb Dänemark saß vor dem Fernsehgerät, wenn Frau Nyborg eine neue, ehrliche Politik proklamierte. Wenn sie Fehler zugab, hart zu sich selbst und ihren politischen Gegnern war und wenn sie zum Beispiel in dem fiktiven afrikanischen Land Kharun den Friedensprozess vorantrieb (lose angelehnt an die Teilung des Sudan, zwei der gewagtesten Folgen der Serie). Man hatte Nyborg längst lieb gewonnen, als sie mit ihrem verständnisvollen, jedoch beruflich unterforderten Mann in die Ehekrise schlitterte, als eines ihrer Kinder krank wurde und schließlich sie selbst.

Ebenso befriedigend wie die Bürgerbeteiligung an Borgen war der Respekt des Feuilletons im In- und Ausland, die Serie wurde mit Preisen überhäuft und in viele Länder verkauft. Das alles verwundert nicht, denn Borgen verzahnt virtuos Politik mit persönlichem Drama und erfüllt so ziemlich alle mehrheitsfähigen Wünsche, die man an eine solche Produktion richten kann: Sie blickt hinter verschlossene Türen und mediale Kulissen, macht die in den Medien oft verschleierte Verschränkung von Politik, Wirtschaft und den Medien selbst sichtbar. Sie zeigt die Volksvertreter als Menschen mit Bedürfnissen und Problemen – was aller Professionalität zum Trotz mitunter Einfluss auf die politische Performance hat. Das Denken, Entscheiden und Handeln der Gruppe um Nyborg dramatisiert Borgen in Kontexten, die zwischen naiv korrektem Gutglauben und „Dirty Campaigning“ eine Reihe moralischer Fragen aufwerfen und sich nicht in Ranküne um Partei-Hierarchien und Postenbesetzungen erschöpfen.

Realität des Scheiterns

Wer nach US-amerikanischen Vorbildern von Borgen sucht, wird nicht in House of Cards (seit 2013) fündig, denn Kevin Spaceys Frank Underwood (pokert derzeit in der dritten Season auf Sky) ist der Gottseibeiuns jedes demokratisch denkenden Bürgers und manipuliert, die „vierte Wand“ durchbrechend, sogar direkt das Publikum. Schon eher ist Nyborgs humanistischer Impetus mit jenem von Jed Bartlet zu vergleichen (Martin Sheen gab den US-Präsidenten in The West Wing, 1999–2006, schändlicherweise nie im deutschsprachigen Free-TV); Geena Davis wurde indes als Präsidentin nach nur einer Season abgewählt (Commander in Chief, 2005–2006).

Der Einfluss serieller US-Erzählweisen auf Borgen ist unübersehbar. Man konnte nicht davon ausgehen, dass die Dänen sich massenhaft an ihre Fernsehgeräte fesseln lassen, weil sie plötzlich eine unbezähmbare Leidenschaft für politische Lehrstücke entwickeln würden. Daher sind die ausgezeichnet recherchierten Zusammenhänge von Migrations-, Umwelt- Sozial-, Finanz- und Wirtschaftspolitik hier stets Hintergrundfolie geschickt konstruierter, kleinerer und größerer Dramen, die sich um die Hauptfiguren abspielen. Stellvertretend für dutzende teils toll gespielte Charaktere: Katrine Fønsmark (Birgitte Hjort Sørensen) und Kasper Juul (Pilou Asbæk) führen eine On-off-Beziehung und tauschen im Verlauf der Serie ihre Rollen als TV-Journalist bzw. als Pressesprecher und Medienberater. Dieser unkomplizierte Dreh an der Schnittstelle von Politik und Medien macht das Ausloten heikler Informationsflüsse gleichsam zum narrativen Kinderspiel. Dass allerdings Kaspers traumatische Backstory in Rückblenden nahezu gänzlich auserzählt wird, ist – neben zuweilen allzu „staatstragend“ anmutenden Gestaltungskonventionen – einer der wenigen Vorwürfe, die man Borgen machen kann.

Das hohe Niveau der Serie bleibt nahezu über die gesamte Laufzeit konstant, von der aufwändig inszenierten Pilotfolge des renommierten, ehemaligen „Dogma-95“-Regisseurs Søren Kragh-Jacobsen bis zum Finale der dritten Staffel, die u.a. das moderne Politikfernsehen in den Fokus rückt. Da entspinnt sich ein vergnüglicher Machtkampf zwischen dem erfahrenen Nachrichtenchef des Senders TV1 und einem quotengeilen Yuppie-Programmdirektor. Letzterer hat nicht nur einen „Kreativraum“, der wie ein Kinderzimmer aussieht, sondern will die ganze Informationsabteilung am Liebsten in eine Showbühne verwandeln.

Borgen ist ein weiterer Beweis, dass episch erzähltes Fernsehen nicht nur im Bereich der Popkultur zum Gegenwartsdeuter avanciert ist. Debatten um Massentierhaltung oder ein allgemeines Prostitutionsverbot seien nach Borgen in der dänischen Politik weitergeführt worden, sagte Produzentin Camilla Hammerich gegenüber „SZ.de“: „Wir haben erlebt, dass wir in gewisser Weise mit dem echten politischen Leben im Wettstreit lagen.“ Im Januar 2014 erreichten die Parallelen zwischen Fakt und Fiktion einen frappanten Höhepunkt. Da hatte die begeisterte Borgen-Seherin Helle Thorning-Schmidt nämlich ein Déjà-vu der seltsameren Art. Die Premierministerin musste erleben, wie ihre Mitte-links-Minderheitsregierung an einem Streit um den staatlichen Energiekonzern zerbrach. Und musste feststellen: So real kann Fiktion gar nicht sein, dass sie eine Regierungschefin auf die Realität des Scheiterns vorbereiten könnte.