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Über den Tellerrand

| Gunnar Landsgesell |

Ein Blick in die Welt im besten Sinn, auch wenn die Duisburger Filmwoche sich „Das Festival des deutschsprachigen Films“ nennt.

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Es gibt Filme auf Festivals, die stechen hervor, aus ästhetischen Gründen oder weil sie die Konventionen des Erzählens durchbrechen. Zwei solche Entdeckungen fanden sich auf der 39. Duisburger Filmwoche Anfang November. Procedere von Simon Quack wirft in knappen 44 Minuten die Frage der Differenz zwischen staatlicher Macht und den Bilderhülsen ihrer medialen Repräsentation auf. Quack hat eine Menge Filmmaterial von Fernsehsendern angekauft, um dieses auf Routinen, auf einen rituellen Charakter der Darstellung von Gerichtsverfahren zu prüfen. Auf welche Bilder greifen Reporter dabei zurück? Procedere besteht großteils aus montierten Serien professioneller Aufnahmen, wie sie die Nachrichten produzieren: Türklinken, die in Großaufnahme immer wieder gedrückt werden; Türen, die sich öffnen; Richter, zum Beispiel jene des deutschen Bundesgerichtshofs in Karlsruhe, die Quack wieder und wieder den Saal betreten lässt. Diese Bilder wirken seltsam leer und zugleich immer komischer. In der Ambiguität dieser Bilder liegt auch die irritierende Wirkung von Procedere. Einerseits sind Serien wie diese einfach komisch, das hat mit der Mechanik der Wiederholung zu tun. Andererseits wird einem hier so etwas wie die Banalität der Macht präsentiert. Die Roben, die Gesichter der Richter, ihr Auftreten, ja schon eine sich öffnende Tür, die immer Ein- und Ausschlüsse produziert, all das sind Verlängerungen, Riten und Formen einer Maschine, die ziemlich gut geölt wirkt. Dass Quacks Gerichtsszenen jedes mal damit enden, dass die TV-Reporter des Saales verwiesen werden, ist ein Index für eine Realität, die hinter den schal wirkenden Repräsentationen liegt. Simon Quack thematisiert das wie in einem Vexierbild. Erst am Ende seines Films fügt er eigene Aufnahmen hinzu, wenn er filmt, wie der Fernsehbeitrag zu Ende produziert wird. Das wirkt profan und verweist damit noch einmal auf spezifische Qualität der Bilder davor. Routinen einer Darstellung, mit denen Medien ungewollt – und wohl durch die gebotene Effizienz – den Blick auf das verwischen, worüber sie berichten.

Die zweite Duisburger Entdeckung erweitert solche Bedeutungsverschiebungen noch bis in den grundsätzlichen Zweifel, ob es überhaupt möglich ist, dass das, was jemand erzählen will, jemand anderer auch so versteht: Eine nutzlose Fiktion von Regisseur Cheong Kin Man überfordert seinen Zuseher ganz gezielt, wenn er mehrere Texte und Bilder parallel auf der Leinwand einblendet. Man muss sich entscheiden, welchen Pfaden man hier folgen will. Inhaltlich berichtet Eine nutzlose Fiktion auf sehr fragmentarische, fast beiläufige Weise vom Thema Exil. Cheong vertraut dabei weniger der Sprache (samt ihren Übersetzungsproblemen) als den Formen: Köpfe von Menschen, so eingeführt, als würden Protagonisten des Films vorgestellt, verlängern sich in eine nicht enden wollende Reihe. Unterlegt mit einem melancholischen Volkslied und dem globalistischen Stimmengewirr eines Bahnhofs beobachten wir narrative Auflösungsprozesse und warten vergeblich darauf, dass sich ein Zentrum in dieser Erzählung herausbildet. Cheong führt diese Obstruktion tief in den Film hinein, wenn er seinen eigenen Zweifel über die Aussagekräftigkeit seiner Bilder zur Triebfeder dieses Films macht. Ein Mosaik, das am Ende kein erkennbares Bild ergibt, zusammengehalten durch eine unerklärliche Poesie.

Die beiden Arbeiten waren Teil jener 26 Filme, die in diesem Jahr im Wettbewerb um den 3Sat-Preis und den arte-Preis standen. Den 3Sat-Preis erhielt Nikolaus Geyrhalters Über die Jahre, das Porträt einer Textilfabrik im Waldviertel. Spannend an diesem Projekt ist, dass es nicht, wie ursprünglich geplant, die letzten Tage einer Fabrik zeigt und mit deren Schließung auch von einem sterbenden Gewerbe in Europa erzählt, sondern dass die Filmemacher sich entschlossen, den arbeitslos gewordenen Menschen weiter zu folgen. Daraus entwickelte sich ein über zehn Jahre dauernder Erzählbogen, der statt der Arbeiter nun die Menschen und ihre Biografien ins Zentrum stellt. Geyrhalter tut das auf respektvolle Weise, Über die Jahre gerät nie in einen Modus des Ausstellens und Vorführens. Wenn Geyrhalter mit der Schließung der Anderlfabrik bei Schrems plötzlich die gewohnte Bildsprache der Tableaus beendet, die Kamera in die Hand nimmt und mit den ehemaligen Arbeitern ohne jede Distinktion zu sprechen beginnt, dann ist das auch ein besonderer Moment im Schaffen des Filmemachers. Hier wird ein zutiefst humanistischer Ansatz spürbar, der Film öffnet sich nach den eng gesetzten Kadragen der Fabrikräumen nicht nur der Landschaft, sondern auch den Menschen, die diese bevölkern. Den arte-Preis erhielt ein ganz anders gelagerter Film. Zaplyv – Der Schwimmer der russischen Regisseurin Kristina Paustian rollt das Porträt eines Mannes auf, der in der Sowjetunion als Wissenschaftler in Ungnade gefallen war und begann, als esoterisch verbrämter Guru eine Gefolgschaft um sich zu scharen. Der Film geht einen schmalen Weg zwischen der Affirmation und Subversion des Protagonisten, greift immer wieder pathetisch-selbstverliebte Inszenierungen auf. Am Ende bleibt die Frage, was genau die Wirkungsmacht dieses Mannes ausmacht.

Die meisten der Filme in Duisburg fanden ihre Schauplätze außerhalb von Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ein Blick in andere Welten, wie ihn insbesondere Dokumentarfilme versprechen. Und von einer gewissen Relevanz besonders dort, wo Blicke sich begegnen. Etwa im Eröffnungsfilm, Arlette – Mut ist ein Muskel, in dem Regisseur Florian Hoffmann einem 15-jährigen Mädchen aus der Zentralafrikanischen Republik in eine deutsche Klinik folgt, wo ihr von Rebellen zerschossenes und steifes Knie nach neun Jahren operiert wird. Eine wuchtige Begegnung, wenn das Dorf mit seinen Hütten und Sandböden, wo ein Sud aus Blättern die einzige Medizin ist, nun mit der High-Tech-Versorgung der Berliner Charité kontrastiert wird. Welten liegen zwischen diesen Lebenswelten, und das Staunen über deren Gegensätzlichkeit, die den bedeutenden Subtext des Films bilden, wird ganz sanft in einen politischen Kommentar gewandelt. Und noch ein anderer Film, der nicht schlecht zur Ruhrpott-Metropole Duisburg passt, zehrt von seiner ungewöhnlichen Begegnung: Thomas Hirschhorn – Gramsci Monument zeigt den um Provokationen nicht verlegenen Schweizer Künstler als crazy artist, der in der Bronx in New York eines der ökonomisch ärmsten Viertel der USA auserkoren hat, um dort eine temporäre begehbare Skulptur zu errichten. Dabei scheint der marxistische italienische Philosoph eher das Vehikel für Hirschhorn zu sein, die durchwegs afro-amerikanischen Männern in seine Ordnung einzubinden. Regisseur Angelo A. Lüdin legt einiges an Friktionen frei, wenn man sieht, wie Hirschhorn vor der versammelten Mannschaft täglich schwadroniert oder auch veritable Wutausbrüche bekommt, während die Männer, die Köpfe in den Händen versunken, darauf warten, bis die Ansprache zu Ende ist. Ein Hauch von neokolonialen Verhältnissen macht sich breit, wenn einige der Männer erzählen, dass das hier ihr erster bezahlter Job ist, während Hirschhorn eine Diskussion über Privilegien vom Zaun bricht. Ein diskutabler Film, der vielleicht auch vor dem Hintergrund der rigiden Kontrolle des Künstlers zustande kam. Hirschhorn ist so etwas wie ein Anti-Schlingensief, der weder an einem produktiven Chaos interessiert ist noch am prozessualen seines Werks, sondern detailgetreu auf der Umsetzung seiner Pläne besteht. In Duisburg gibt es aber jedes Jahr genug Platz, um Filme wie diese zu diskutieren. Das versammelte Publikum wechselt nach jeder Vorführung vom Kinosaal in einen eigenen Saal, um dort mit Moderator und Filmemachern in einen Dialog zu treten.