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Lars Eidinger

Sterben

Vater, Mutter, Kind

| Pamela Jahn |
In „Sterben“ setzt sich Matthias Glasner mit der Beziehung zu den eigenen Eltern auseinander. Lars Eidinger spielt sein Alter Ego – eine Paraderolle für den deutschen Schauspieler. Im Interview spricht er über seinen Zugang zu der Rolle, das Kindsein und darüber, warum die zweite Lebenshälfte vielleicht die bessere ist.

 

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Eine ganz (un)normale Familie: Da sitzt Tom (Lars Eidinger) nach der Beerdigung des Vaters mit seiner Mutter (Corinna Harfouch) am Kaffeetisch, isst Streuselkuchen – man redet so vor sich hin. Lissy erzählt, dass sie auch bald sterben wird: Vaginalkrebs, Diabetes, ihre Nieren versagen, da kommt einiges zusammen. Sie erklärt ihm mit trockener Stimme, wo sie das Sparbuch für die Beerdigungskosten aufbewahrt. Tom starrt sie verärgert an. Plötzlich will er wissen, was ihm schon lange auf der Seele brennt. Er fragt, was hinter der ungeheuren Kälte steckt, die sie ihm seit seiner Kindheit entgegenbringt. Daraus entwickelt sich ein schmerzhaft konfrontatives Gespräch zwischen Mutter und Sohn, das in seiner schonungslosen Ehrlichkeit kaum zu ertragen ist. Am Ende ist beiden klar, dass sie sich schon immer gehasst haben. Endlich ist es raus. Endlich ist alles gesagt.

Matthias Glasner hat in Sterben die persönliche Beziehung zu seiner eigenen Mutter verarbeitet. Der Film will keine Therapie sein, auch keine Abrechnung, vielmehr eine ehrliche Auseinandersetzung mit ihrer Person und mit der Realität. Eidinger spielt Glasners Alter Ego Tom als einen emotional zurückgezogenen Mann, der ganz in seiner Arbeit aufgeht. Er ist ein Dirigent eines Jugendorchesters, der für die Uraufführung der neuesten Komposition seines besten Freundes (Robert Gwisdeck) probt. Das Stück heißt so wie der Film, es ist eine Todespartitur.

Dazu kommt, dass Tom quasi Vater geworden ist: Seine schwangere Ex-Freundin hat ihn gebeten, ihr bei der Geburt und der Erziehung des Kindes beizustehen, weil sie vom eigentlichen Erzeuger nicht sonderlich viel hält. Von seiner Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) sieht Tom nicht viel. Die stolpert von einer Minikatastrophe in die nächste und verliert sich zunehmend im Alkoholrausch, als ihre Affäre mit einem Zahnarzt aus der Praxis, in der sie arbeitet, in die falsche Richtung läuft.

Die Krise ist in Sterben stets omnipräsent. In einzelnen Kapiteln, die sich jeweils auf ein Familienmitglied konzentrieren, inszeniert Glasner die Geschichte eines Verfalls, mit oszillierender Radikalität. Es ist eine ungeheuerliche Familiensaga, die er kühn und wild und absurd komisch erzählt. Am Ende bleibt man verstört und auch ein bisschen fassungslos zurück.

Eidinger saugt diese Rolle, wie alles, was er anpackt, komplett in sich auf. Sein Tom ist so schwer auf einen Nenner zu bringen, wie der 1976 geborene gebürtige Berliner Multikünstler selbst. Die Begegnung mit dem Tod auf allen Ebenen ist ihm weder neu, noch macht sie ihm Angst. Aus seinem Dirigenten spricht eine gebrochene Künstlerseele, die Euphorie und Schmerz, Schaffenskraft und Schöpfungsgeist, Abscheu und Mitgefühl in sich vereint.

 


Interview

Herr Eidinger, wann haben Sie das letzte Mal mit Ihrer Mutter telefoniert?
Lars Eidinger: Das verrate ich Ihnen nicht.

Hat die Arbeit an Matthias Glasners Film Ihre Sichtweise auf Ihr Verhältnis zu den eigenen Eltern verändert?
Nein, ich denke sowieso sehr viel über die Beziehung zwischen mir und meinen Eltern nach. Dazu brauche ich keine Filme. Ich habe mich in dem Fall ganz konkret auf die Geschichte von Matthias Glasner konzentriert. Natürlich spekuliert der Film darauf, dass es zu jeder Biografie Parallelen gibt. Aber genau deshalb finde ich es extrem mutig vom ihm als Regisseur, sich dermaßen zu öffnen. Das fängt damit an, dass es auf dem Filmplakat heißt: „Hans-Uwe Bauer als mein Vater“. Dass er die Distanz zwischen sich und dem Werk komplett auflöst, hat mir sehr imponiert. Und mich hat dieser Ansatz interessiert, dass jemand sagt: Ich verfilme mein Leben. Dass ein Mensch wie er sich zu erkennen gibt, sich zur Disposition stellt. Daran wollte ich gerne beteiligt sein, weil ich mich dann auch mit mir selber beschäftigen kann.

Warum, glauben Sie, hat er sich dafür entschieden?
Ich denke, Matthias macht das in erster Linie für sich. Das heißt, es geht nicht darum, dem Film ein besonderes Prädikat aufzudrücken. Es ist klar, was ihn beschäftigt, und das will er mit anderen teilen. So fühlte es sich auch während der Dreharbeiten an. Als wenn man in einem Tagebuch von jemand anderem liest.

Manche Szenen sind derart skurril und abwegig, dass man sich gar nicht vorstellen kann, dass sie so passiert sind.
Ja, zum Beispiel, dass seine Mutter ihn sein Leben lang mit Handschlag begrüßt hat. Das muss man sich mal vorstellen.

Kannten Sie sich vor dieser Zusammenarbeit?
Nein, nicht persönlich.

War das von Vorteil für die Rolle, die Sie spielen?
Interessante Frage. Ich glaube, darüber hat Matthias viel mehr nachgedacht, weil er als Regisseur das natürlich steuern kann. Ich merke immer wieder, wie sehr man als Schauspieler in der Abhängigkeit zu Filmschaffenden steht, in der Hoffnung, dass man in deren Fantasie vorkommt. Da habe ich gar keinen Einfluss drauf. Und dann ist es jedes Mal wie ein Wunder, wenn plötzlich jemand wie er anruft und sagt: „Ich mache einen Film über mein Leben und ich wollteÅdich fragen, ob du die Hauptrolle spielst.“

Im ersten Moment hätte man wahrscheinlich an Jürgen Vogel gedacht. Die beiden haben in der Vergangenheit ja sehr viel miteinander gedreht.
Genau. Das Wort „Partner“, das auch in unserem Film öfter fällt, entstammt beispielsweise dieser Freundschaft, die beiden nennen sich gegenseitig so. Und ich weiß von Matthias, wie traurig oder enttäuscht Jürgen war, dass er diesmal nicht mitspielt. Vielleicht ist das auch ein bisschen die Antwort auf Ihre Frage. Ich glaube, das wäre Matthias zu nah gewesen. Wahrscheinlich war es gut, jemanden zu nehmen, den man noch nicht kennt.

Was für ein Typ ist Ihre Figur, dieser Tom, ein Dirigent?
Das ist immer schwer zu beantworten. In Hamlet heißt es zum Beispiel, einen anderen Menschen wirklich zu kennen, hieße, sich selbst zu kennen. Ich will mich damit jetzt gar nicht rauswinden. Aber ich merke immer, wie schnell man Figuren einschränkt oder limitiert, indem man ihnen gewisse Attribute zuschreibt. Das Faszinierende ist doch, dass der Mensch ambivalent ist. Lilith Stangenberg, die Toms Schwester Ellen spielt, bringt das an einer Stelle ganz schön auf den Punkt, wenn sie sagt: „Ich bin von allem das Gegenteil, ich bin das Gegenteil vom Gegenteil.“ Das heißt, man ist immer beides. Und für mich kulminiert das in so einer Szene, wie wenn ich da sitze in dem Gespräch mit der Mutter und sage: „Ich bin kalt, ich bin so kalt wie du“, und dabei rinnen mir heiße Tränen über das Gesicht. In dem Moment bekommt man eine Ahnung davon, wie komplex der Mensch in seinem Wesen ist.

Gleiches lässt sich über den Ton des Films sagen: Einerseits ist er von einer erschreckenden Ehrlichkeit geprägt, andererseits extrem unterhaltsam.
Als ich das Drehbuch bekommen habe, stand auf dem Cover: „Sterben, auch eine Komödie“. Und das passt zu dem, was Matthias mir schon vorab bei unserer ersten Begegnung erzählt hatte. Damals meinte er, dass er Schauspieler mit „funny bones“ suchen würde. Ich finde, das erklärt, warum dieser Film sich so schwer greifen lässt. Dieses ganze Kapitel über Ellen, was sich regelrecht in die Groteske steigert, passiert auf Ansage. In dem Moment, wo Tom während der Probe sinngemäß zu seinem Orchester sagt, ab jetzt sei nichts mehr fein ziseliert mit einem Stiletto, sondern ab jetzt sei es ein Kettensägenmassaker, bricht alles auf. An der Stelle beginnt der Versuch, in beide Richtungen auszuschlagen, um dann im besten Fall auf diesem schmalen Grat zu landen, der dazwischen liegt.

Haben Sie gezögert, die Rolle anzunehmen?
Da gibt es auch zwei Antworten. Erstmal wollte ich das unbedingt machen, völlig im Unwissen darüber, wer noch mitspielen würde, einfach weil ich die Geschichte zwingend fand und weil ich Lust auf die Figur hatte. Dann war es aber so, dass ich mich mit Matthias Glasner zum Spaziergang um den Lietzensee verabredet hatte, um über den Film zu sprechen – und ich habe es vergessen. Das war eigentlich der Moment, in dem ich so gut wie umbesetzt war. Und ich bin fest der Meinung, dass einem so etwas nicht zufällig passiert. Es hat einen Grund dafür gegeben, etwas in mir, was sich verweigert hat. Vielleicht waren es zu große Bedenken, ob ich der Rolle wirklich gerecht werden könnte. Wenn man zum Beispiel eine historische Figur spielt, ist es auch immer eine Riesenverantwortung, weil man sich der Person gegenüber in der Pflicht fühlt. Aber wenn man jemanden verkörpert, der sogar anwesend ist, der noch dazu der Regisseur ist, dann ist der Druck noch einmal ungleich höher, weil man eigentlich die ganze Zeit nur damit verbringt, diesem Bild, das er von sich selbst entwerfen will, gerecht zu werden.

Sie haben bereits eine Schlüsselszene im Film angesprochen. Darin sitzen Sie mit Corinna Harfouch, die Toms Mutter spielt, nach der Beerdigung des Vaters gemeinsam am Tisch und trinken Kaffee, während das Gespräch ganz langsam ins Bodenlose eskaliert. Wie muss man sich die Dreharbeiten vorstellen?
Die Szene dauert 24 Minuten, ohne Unterbrechung. Was man im Film sieht, ist der erste Take. Wir haben direkt gespielt, ohne Probe. Danach kam Matthias auf uns zu, hat Corinna in den Arm genommen und sich mit dem Rücken zu mir gestellt. Ich dachte, okay, was habe ich jetzt falsch gemacht? Aber dann ist mir bewusst geworden, dass es gar nicht um mich geht, sondern um die Perspektive. Matthias hat in dem Moment eben nicht an sich gedacht, sondern an seine Mutter, und er hat es abgeglichen mit dem, was Corinna gespielt hat. Alles andere war für ihn völlig zweitrangig.

Glauben Sie, dass der traditionelle Familienbegriff heute längst überbewertet ist?
Ja, ich glaube, dass es gewisse Setzungen gibt, die eigentlich dazu führen, dass wir uns voneinander distanzieren. Sätze wie: „Du sollst deine Eltern ehren“ oder „Eltern lieben ihre Kinder bedingungslos“. Ich glaube, dass überholte Prinzipien wie diese einen manchmal davon abhalten, in die Auseinandersetzung zu gehen. Das andere ist, dass ich kurz irritiert war, als es hieß, der Film würde bei der diesjährigen Berlinale im Wettbewerb laufen.

Warum das?
Ich wunderte mich, dass in diesen hochpolitischen Zeiten ausgerechnet ein Film über eine Familie ausgewählt wurde. Aber im Nachhinein erscheint es mir jedoch mindestens genauso sinnfällig, wie Die Verdammten von Visconti zu zeigen, wo der ganze Nationalsozialismus an einer Familie abgebildet wird. Vielleicht ist diese Unterhaltung zwischen Tom und seiner Mutter auch deswegen so interessant, weil sie genau diesen Generationenkonflikt beschreibt: Warum sind wir die, die wir sind? Und wie viel hat das mit unserer Geschichte und mit unserer Familie zu tun, mit der Art, wie wir aufwachsen, wie wir erzogen sind, wie wir erziehen? Tom ist ja selbst Kind und Vater zugleich – und insofern, wenn man die Familie als die kleinste Zelle von Gesellschaft versteht, hat der Film natürlich schon eine wahnsinnig politische Relevanz.

Matthias Glasner hat gesagt: Künstler sind Kinder. Würden Sie dem zustimmen?
Ich weiß nicht. Ich liebe Kinder. Ich sehne mich oft nach dem Kindsein zurück, oder bin auf der Suche nach dem inneren Kind. Aber ich finde, man kann es auch verklären. Neulich habe ich einen alten Freund getroffen, der Maler ist und der meinte, auf die zweite Lebenshälfte komme es an. Das fand ich interessant, weil man immer allzu leicht verführt ist, nostalgisch zu werden und zu denken, nach der Hälfte des Lebens kommt nicht mehr viel. Dabei ist es eher so zu verstehen, dass darin der Anfang von etwas Neuem liegt. Ich bin zum Beispiel total froh um das Bewusstsein, das ich erlangt habe. Mittlerweile, wenn ich mein Tagebuch lese aus einer Zeit,Åin derÅich 19 oder 20 war, schaue ich wirklich fremd auf diese Person. Es ist ein Trugschluss zu glauben, man wäre der Gleiche geblieben. Ich bin heute ein ganz anderer Mensch, und das würde ich eigentlich nicht mehr eintauschen wollen gegen das Kindsein. Ich beziehe sozusagen mein ganzes Selbstverständnis als Künstler aus diesem Bewusstsein, das ich erlangt habe. Ich wäre als Kind nicht der Künstler, der ich bin.