ray Filmmagazin » Themen » Versuchsanordnung
Kinds-of-Kindness

Kinds of Kindness

Versuchsanordnung

| Pamela Jahn |
Yorgos Lanthimos nutzt die Gunst der Stunde – und Emma Stone zieht mit. Nach dem grandiosen Erfolg von „Poor Things“ legt der griechische Regisseur mit „Kinds of Kindness“ gleich ein neues Werk vor. Kann das gut gehen?

Der Erfolg hängt noch in der Luft: Vier Oscars, ein Goldener Löwe und über einhundert Auszeichnungen insgesamt, dazu klingelnde Kinokassen und fast durchweg positive Kritiken. Was will man mehr? Aber kaum ist der Hype um Poor Things abgeebbt, hat Yorgos Lanthimos nun bereits seinen nächsten Film abgedreht. Kinds of Kindness ist parallel zum Vorgänger entstanden. Der 1973 in Athen geborene Regisseur wollte die lange Postproduktionsphase seines feministischen Frankenstein-Märchens sinnvoll nutzen und rief kurzentschlossen seinen langjährigen Ko-Drehbuchautor Efthymis Filippou an. Gemeinsam machten sie sich an die Arbeit, es dauerte nicht lang, bis das Skript stand. Daraufhin trommelte Lanthimos eine kleine Crew und seine liebsten Schauspieler zusammen, das war’s. Kein ehrgeiziges Epos, keine historischen Extravaganzen, keine fantastischen Designs. So einfach kann Filmemachen sein, wenn man wenig Druck von außen verspürt. Wenn man, wie der geniale Grieche, in Hollywood ganz oben angekommen ist.

Werbung
Episoden-Struktur

Entstanden ist ein verschachteltes Triptychon, drei Filmchen in einem, mit denselben Darstellern, der gleichen verqueren Dynamik, dem gleichen Anspruch an Verstörung und Absurdität. Drei Geschichten, in denen es um Kontrollmechanismen, Macht und Egoismus, Verblendung und Verzweiflung geht. Das Ensemble ist erstklassig: Emma Stone, Jesse Plemons, Willem Dafoe, Hong Chau, Joe Alwyn, Margaret Qualley, Hunter Schafer und Mamoudou Athie. Nur die Namen der Protagonisten und Protagonistinnen, und wie die Figuren im Einzelnen zueinanderstehen, variieren.

 

Den vollständigen Artikel lesen Sie in unserer Printausgabe 07+08/24

 

In der ersten Episode mit dem Titel „Der Tod von R.M.F.“ verkörpert Plemons einen Geschäftsmann, der mit seiner Frau Sarah (Chau) eine glückliche Ehe führt. Alles, was er hat, verdankt Robert seinem Chef Raymond (Dafoe), der das Leben der Menschen, die ihn umgeben, bis ins kleinste Detail (Essen, Cocktails, Sex) kontrolliert. Pflichtbewusst fügt sich der Angestellte jener intimen Tyrannei, bis sein Boss von Robert verlangt, dass er einen Mord begeht. Im Moment der Verweigerung fällt seine komplette Existenz wie ein Kartenhaus in sich zusammen. An seine Stelle tritt Rita (Stone), die Raymonds neue willige Untertanin wird. Auch die anderen beiden Geschichten kippen, ehe man sich versieht, vom Harmlosen ins Groteske, Makabre, Schamlose: In „R.M.F. is Flying“ wird aus Plemons der lakonische Polizist Daniel, der vermutet, dass seine lange verschollen geglaubte Frau (Stone), die vor kurzem zurückgekehrt ist, von höheren Kräften durch ein Double ersetzt wurde. In seiner Paranoia fordert er die vermeintliche Hochstaplerin auf, als Liebesbeweis immer brutalere Selbstverletzungen zu begehen.

Im letzten Segment, „R.M.F. Eats a Sandwich“, suchen zwei Sektenmitglieder nach einer jungen Frau, die angeblich Tote zum Leben erwecken kann. Einer der beiden, Andrew (Plemons), ist seinen Gurus so untergeben, dass er aus einem riesigen Behälter gefüllt mit ihrem schmutzigen Badewasser trinkt. Seine Arbeitspartnerin und Mitbekehrerin Emily (Stone) riskiert derweil ihren Status in der religiösen Gruppe, indem sie an einigen wichtigen Beziehungen aus ihrem weltlichen Leben festhält. Auf der Suche nach der Frau mit den magischen Kräften kommt es unter anderem zu aggressiven sexuellen Übergriffen und Tierquälerei.  Ein Teil der unheimlichen Faszination, die von Lanthimos’ Kinds of Kindness ausgeht, besteht darin, dass sich in den einzelnen erzählerischen Variationen nicht nur die Schauspieler wiederholen, sondern hinter dem Horror des Alltäglichen auch bestimmte Muster und Motive unmissverständlich hervortreten. Der Regisseur zeigt mit bisweilen drastischen Mitteln, wie sehr ein Leben von den Umständen abhängt, in denen man sich befindet, und die Menschen Gefangene ihrer eigenen Wahrheiten und Wahnvorstellungen sind. Dabei geht er diesmal vielleicht weniger feinsinnig und in sich stimmig vor als in seinen früheren Werken, aber mit der gleichen ungenierten Freude am Übermaß und am unmoralischen Intrigenspiel. Emma Stone, die für ihre schauspielerische Ausnahmeleistung in Poor Things einen der besagten Oscars gewonnen hat, spielt in Kinds of Kindness ebenfalls eine zentrale Rolle, aber sie ist hier nicht der Star. Diesmal macht Lanthimos die Bühne frei für Jesse Plemons, der selten furchtloser und überzeugender aufgetreten ist. Selbst in seinen weniger gelungenen Momenten, von denen es in diesem Film einige gibt, ist Kinds of Kindness vor allem Plemons’ Show und ein Beweis seines großen Talents; kaum ein Schauspieler seiner Generation kann besser zwischen banal und exzentrisch, Verzweiflung und Verderben changieren und dabei eine so gefasste Figur machen wie er. Stones ungezwungener Eifer und ihre enorme Ausdruckskraft machen sie in allen drei Episoden zu einer perfekten Gegenspielerin – die stets spürbare Chemie zwischen den beiden ist ein weiteres entscheidendes Bindeglied der scheinbar unabhängigen Segmente, die am Ende trotzdem ein zusammenhängendes Ganzes bilden, weil ihnen Lanthimos’ eigene kreative Logik eingeschrieben ist: In seiner Welt ist alles gerade schräg genug, um witzig zu sein, und gleichzeitig immer so real, dass man beim Schauen oftmals vor sich selbst erschrickt.

Kontinuitäten

In diesem Sinn fügt sich Kinds of Kindness nahtlos in das Œuvre des Regisseurs ein. Es ist das erste Mal seit The Killing of a Sacred Deer (2017), dass Lanthimos erneut mit Filippou zusammengearbeitet hat – und die enge Verbindung des Regisseurs zu seinen Anfängen in Griechenland mit Filmen wie Dogtooth (2009) und Alps (2011) bis hin zu seinem internationalen Durchbruch mit The Lobster (2015) sind deutlich präsent. Auch die Protagonisten mit ihren gewalttätigen Marotten, denen wir in Kinds of  Kindness begegnen, dienen in erster Linie dazu, dem Publikum vor Augen zu führen, dass unser verzweifeltes Bedürfnis nach Liebe und Akzeptanz einfach zu wild ist, um einem Einheitsschema zu folgen. Jeder Mensch ist individuell, verletzlich, zart, pervers und gemein. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass wir trotz der vorgegebenen Dreiteilung immer noch ein und denselben Film sehen: Einerseits schafft Robbie Ryans klinisch flache Kameraarbeit eine visuelle Kohärenz, die alle Figuren wie Laborratten aussehen lässt. Zum anderen führt Lanthimos seine waghalsige Zusammenarbeit mit dem britischen Musiker Jerskin Fendrix fort, der mit sparsamsten Mitteln dafür sorgt, dass die unterschiedlichen Geschichten von Anfang bis Ende denselben trägen Rhythmus beibehalten. Im mittleren Kapitel fügt er zu diesem Zweck etwa eine aufdringliche, plumpe Klavierbegleitung hinzu, um den ehelichen Betrugsverdacht zu untermalen, der in jeder Szene aufkeimt. Die schrillen Töne und der chorale Gesang im Hintergrund machen das Unbehagen in jeder Einstellung spürbar.  Die Verunsicherung ist perfekt. Die Irritation ist Programm.

Was aber unterscheidet Kinds of Kindness letztlich von Poor Things? Bella Baxter, die Heldin in Lanthimos’ verrücktem Kinohit, ist eine Anarchistin. Um Autoritäten schert sie sich nicht. Mit ihrem unvoreingenommenen Blick auf die Gesellschaft hinterfragt sie ungewollt und indirekt einige der politisch wichtigsten Themen der Gegenwart: Klimakrise, Ungleichheit, Krieg. Den Figuren in jenem Paralleluniversum, das Lanthimos diesmal erschafft, ist diese Weitsicht versagt. Zu sehr stecken sie fest in ihrem Dasein, zu engstirnig ist ihr Blick. Dabei täte es auch ihnen gut, ab und an mit Bellas Ungezwungenheit auf die Welt zu schauen – auf den alltäglichen Wahnsinn dessen, was die Menschheit heute für „normal“ und „richtig“ hält. Um seinen Punkt zu machen, lässt sich Lanthimos viel Zeit. Alle drei Teile haben eine stolze Länge von jeweils fast einer Stunde. Jede der Episoden hätte kürzer ausfallen können. Dass trotzdem keine Langeweile aufkommt, ist nicht zuletzt dem hervorragenden Ensemble zu verdanken. Aber neben dem Unterhaltungsfaktor, der sich oft aus den pointierten Dialogen und einer gewissen Situationskomik ergibt, setzt Lanthimos ebenso auf wohl positionierte Schockmomente, in denen die Grausamkeit fast unerträglich wird.  Tatsächlich findet man in Kinds of Kindness insgesamt wenig Freundlichkeit. Zu den ärgsten Sequenzen in der zweiten Geschichte gehören etwa ein deplatzierter Vierer mit einem befreundeten Ehepaar und die Szenen, in denen Daniel seine vermeintlich falsche Ehefrau dazu auffordert, ihm zuerst ihren Daumen zum Essen zu servieren und schließlich sich selbst an die Leber zu gehen. Lanthimos verteidigte seine Vision nach der Premiere des Films in Cannes mit den Worten, dass die Wirklichkeit um ihn herum „oft verrückt und traurig“, aber eben auch „lächerlich und lustig“ sei. Das Kino als Spiegel der Wahrheit, als Realitätscheck, klar. Elegant gefilmt und stilvoll verpackt ist das Ganze, keine Frage. Allein die nachhaltige Wirkung bleibt diesmal aus. Vor allem nach einem starken ersten Teil fehlt es dem Rest dieser Versuchsanordnung zunehmend an der nötigen Substanz. Kinds of Kindness hat bisweilen etwas Träges an sich, als ob Lanthimos diesmal auf halber Strecke die Puste ausgegangen wäre. Darüber kann man sich ärgern, es schade finden, tragisch gar. Oder man kann den Regisseur dafür bewundern, in kürzester Zeit mehr Sinnvolles zustande zu bringen als viele seiner Kollegen nach Jahren der Abstinenz. Dass dem Film dabei ausgerechnet die Hoffnung auf Freiheit, auf eine allumfassende Auflösung abhanden kommt, ist vielleicht genau der Punkt.