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Poor Things

Hey Baby

| Jakob Dibold |
Yorgos Lanthimos’ heiß erwarteter, farbenfroher neuer Film steckt voller sonderbarer Lebensfreude. So verrückt, wie er scheint, ist „Poor Things“ vielleicht aber gar nicht.

 

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Godwin Baxter (Willem Dafoe) ist zufrieden, denn sein ohnehin schon ziemlich lebhafter Haushalt und Arbeitsplatz wird seit kurzem von einem sehr besonderen Menschen mitbewohnt. Der mehrfach vernarbte Chirurg hat unlängst eine ertrunkene Frau gefunden, in seinen privaten Operationssaal transportiert und dort zu neuem Leben erweckt, indem er ihr das Gehirn ihres eigenen Kindes, das in ihrem Mutterleib mit ihr verstarb, in den Schädel gesetzt und mit Stromstößen nachhaltig wachgekitzelt hat. So weit, so gut, stellt der von Misshandlungen seines Vaters entstellte, radikale Wissenschaftler einen seiner Studenten – ja, dieser Mann ist mit universitärer Lehre betraut – an, um datenbasiert festzuhalten, wie sich die junge Frau (Emma Stone) entwickelt. Die von ihrem Erzeuger, den sie abgekürzt „God“ nennt, Bella getaufte äußerliche Mitzwanzigerin mit den infantilen grauen Zellen tapst steifbeinig wie ein elegant gekleideter Storch, der sich selbst eingeladen hat, durch die schmucken Korridore und Zimmer des Anwesens und macht sich zunächst in erratisch-plappernder Sprache verständlich, artikuliert sich aber, rasch lernend, Tag für Tag besser. Als Dr. Baxter sich gegen gewisse Zugeständnisse damit einverstanden zeigt, dass sein neuer Assistent Bella ehelicht, beordert er zwecks sachgerechter Fixierung seiner Bedingungen einen zwielichtigen Anwalt (Mark Ruffalo) ins Haus – der Bella, die es schon seit einiger Zeit hinaus in die weite Welt zieht, umgehend verfällt und sie mit auf Reisen nimmt. Immerhin kündigt Bella an, dass sie zurückkehren wird, trotzdem lassen Ziehvater und Verlobter sie äußerst ungern gehen. Das maßlos ungezwungene sexuelle Erwachen Bellas erst schamlos ausnutzend, ist jedoch Duncan Wedderburn bald selbst der Verschmähte, denn Bella denkt gar nicht daran, ihre gewonnene Freiheit nur mit dem selbstverliebten Zwirbelschnurrbartträger zuzubringen. Zu neugierig ist sie, zu viel Weiteres gibt es zu erleben.

FAVORISIERUNG FRANKENSTEINS
Vielen wird diese Prämisse bereits bekannt sein, schließlich ist der Grieche Yorgos Lanthimos spätestens seit seinem ersten englischsprachigen Film The Lobster (2015) kein Geheimtipp mehr und seit dem durchschlagenden Erfolg von The Favourite (2018) eher das Gegenteil davon. Unmittelbar nach Fertigstellung des Liebes-Machtspiels um Queen Anne beschloss Lanthimos, einen langgehegten Stoff-Wunsch endlich wahr werden zu lassen, und gewann Emma Stone als Star und Drehbuchautor Tony McNamara gleich für das Folgeprojekt. McNamaras Skript basiert auf einer literarischen Vorlage, und das nicht lose: In Alasdair Grays 1992 erschienenem Roman „Poor Things“ muss Lanthimos so viel seiner eigenen Interessen erkannt haben, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als die narrativen Grundpfeiler zu übernehmen. Das satirische Abenteuer, in dem Ähnlichkeiten zu und Abwandlungen von Mary Shelleys weltberühmtem „Frankenstein or The Modern Prometheus“ evident sind, erinnert in der nun vollendeten Filmversion schon aufgrund des Settings oft an The Favourite. Dramatisierte Letzterer – natürlich sehr frei – das Tun realer Personen und schien die Ausstattung zumindest einigermaßen akkurat, wandelt sich in Poor Things nun das Flair der Viktorianischen Ära phantasmagorisch-opulent zu einem halluzinogenen Steampunk-Universum. Protzige Adjektive, die ebenso den Outfits der Menschen, die sich darin bewegen, anhaften, allen voran Bellas. Wieder befördert primär anachronistisch wild flegelnde Sprache eine Grundstimmung des bitterbösen, bizarren Humors, wenngleich Stone, Ruffalo und Dafoe zudem eine Menge Körperwitz aufs Parkett zaubern. Die misanthropische Aura und teils derbe Brutalität früherer Arbeiten Lanthimos’ sind in Poor Things erneut kaum bestimmend: Über weite Strecken ist der Film ungemein beschwingt, heiter gar, obgleich fest im unverkennbar Unangenehmen verankert. So wird sich das vom grenzüberschreitenden, irren Forscher geschaffene Menschenwesen, das Begehren, Wünschen, Leben lernt, sich dann allerdings bildet und intellektuelle Aspirationen zu hegen beginnt, hier als keine kaltblütige Killer-Kreatur entpuppen, wird die Rebellion der weiblichen Protagonistin – eher ungewöhnlich für Filme des Regisseurs – keinen gewaltsam herbeigeführten Untergang erfahren.

TIERE UND VÄTER
Vielleicht hat Lanthimos noch nie so deutlich wie hier den Menschen mehr als Wesen denn als Individuum dargestellt. Dezidiert ambivalent interessiert sich Lanthimos seit jeher für das Animalische: Die menschliche Seele, anima, und das Tierische, animal, liegen in seinen Filmen einander gegenseitig durchweg auf der Lauer. Von Dogtooth (2009), in dem das Bellen menschlich, das Gebären eines Hundes zur ordnungswahrenden Drohung wird, bis zum physischen Übergehen von Mensch in Tier in der strikt binären Gesellschaftsordnung von The Lobster, um die deutlichsten Beispiele zu nennen. In Poor Things tapsen verschiedene Tiere zusammengeflickt als Mischwesen durch die Szenen, in der finalen sogar in noch radikalerer Gestalt zu sehen. Bella Baxter selbst gewinnt mit ihrer Lust zunächst eine animalische, triebhafte Unbesiegbarkeit, bis ihr Geist ebenfalls reift und sie oft bewusst rational entscheidet. Ihre Psyche formt sich in diesem Zweigespann aus – wie die Pferdekutsche, die im Fantasie-London als untrennbar verschmolzene Ross-Maschine funktioniert. Zu „verdanken“ hat Bella das alles Gott Godwin, der seine Ziehtochter anfangs im Grunde wie ein Haustier einsperrt, wie das schon der tyrannische Vater in Dogtooth mit seinen Kindern macht – sie alle dürfen nicht hinaus. Diese Väter warnen vor der Außenwelt, freilich nur, um vollständige Kontrolle über die „ihren“ zu haben. Und auch vom eigenen Vater spricht Godwin Baxter viel Ungutes, er berichtet von dessen Behandlung, die ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben ist. Der Name Godwin stammt indes von ganz woanders, verweist auf eine historische Persönlichkeit, deren Ansichten solchen Machtgefällen entschieden zuwiderlaufen.

ELTERN UND MONSTER
Denn der Schriftsteller Alasdair Gray (der Schotte gewährte Lanthimos noch persönlich die Rechte für eine Verfilmung, ehe er 2019 verstarb) erweist sich als großer Freund der Sprachkomik: Mit den Initialen B. B., die der Doktor seiner „Tochter“ verpasst, war er seiner Zeit wohl voraus – erst im Web-2.0-Zeitalter steht „bb“ mitunter für Baby, was im Kontext dieses Films überdies die absurde Doppelbedeutung von einerseits Säugling, andererseits sexuell konnotierter Verniedlichung offenlegt –, Duncan Wedderburn verbrennt sich als Hochzeitscrasher die Finger, Godwin Baxter (Great Britain?) ist jedenfalls mit voller Absicht nach dem Philosophen und Schriftsteller William Godwin (1756–1836) benannt, dem Vater der Frankenstein-Erfinderin Mary Shelley. William Godwin gilt als Begründer der philosophischen Strömung des Anarchismus, die sich durch Ablehnung von Herrschaft des Menschen über Menschen auszeichnet, als Gegner des Kapitalismus sowie des Konzepts der Ehe. Detailreiche Kritikerin der Ehe war auch Mary Wollstonecraft (1759–1797), insofern ironisch, dass die beiden einander heirateten. Mary Wollstonecraft, Philosophin, Frauenrechtlerin und Mary Shelleys Mutter, verfasste mit „A Vindication of the Rights of Woman“ ein messerscharfes Gedankenwerk, das heute viele als einen Urtext feministischer Philosophie betrachten. Sie fordert darin unter anderem mehr Bildung für Frauen, bezeichnet die Ehe als Sklaverei und klagt Chancenungleichheit an. Wollstonecraft verstarb kurz nach der Geburt ihrer Tochter Mary Shelley, Godwin schrieb und veröffentlichte nach ihrem Tod ihre Biografie, eher ein Bärendienst: Der Witwer schilderte eine Frau, die unkonventionell lebte, eine der Romanze verdächtige Freundinnenschaft pflegte, einen Selbstmordversuch unternahm. Dies zu den Eltern jener Frau und Schriftstellerin, die Dr. Victor Frankenstein schöpfte, der wiederum ein Monster schuf, das berühmter als er selbst wurde; „Poor Things“-Autor Alasdair Gray, bekennender Sozialist, verweist direkt auf sie alle.

BÜCHER UND LÜSTE
Die sündigen Äpfel fallen nämlich nicht weit vom Stamm: Bella Baxters Körper ist ursprünglich der einer Frau, die sich per Wassersturz suizidiert, bevor sie in einer unverhofften zweiten Chance durch spontane Frühstücks-Masturbation ihr Lustorgan entdeckt. An Monogamie glaubt sie so rasch schon nicht mehr, wie sie das Konzept überhaupt erst kennengelernt hat, an gesellschaftliche Richtlinien hält sie sich noch weniger, Heteronormativität ist ihr unbekannt, ungerechte Vermögensverteilung zuwider. Bella befreundet sich mit kritischen Nebencharakteren – mit an Bord ein wunderbarer Auftritt der unvergleichlichen Hanna Schygulla! –, erfährt in Paris die Vorteile, vor allem jedoch Ausbeutung von Sexarbeit, trifft dafür aber eine mehr als freundschaftliche Kollegin, mit der sie bald sozialistische Events besucht, und strebt gegen Ende eine wissenschaftliche Karriere an. Bloß, und das führt zu großen Mankos von Poor Things: Zu sehen bekommen wir das meiste davon kaum oder gar nicht. Was wir sehen ist, wie Lanthimos die Traditionslinie von Männern, die fasziniert auf weibliche Körper starren, fortsetzt und dabei Bellas Verlangen nach Wissen, politischer Teilhabe, Berufswahl lediglich einstreut, während ihre frivole, hedonistische Seite die Hauptattraktion des Films darstellt, sie im Zuge des obendrein zu gewollt wirkenden finalen Handlungs-Twists beinahe zurück in den Status eines naiven Intuitionswesens fallen lässt. Gemeinsam mit der Frage, ob Lanthimos und – die ansonsten wirklich beeindruckend aufspielende – Stone die Darstellung von Sexszenen einer Figur, die als irgendwo im Kindes- oder frühen Jugendalter befindlich vermittelt wird, oder den anfänglichen Sprach- und Gesichts-Klamauk derselben, der teils äußerst unangenehm dem spöttischen Nachäffen beeinträchtigter geistiger Fähigkeiten nahekommt, hinterfragt haben, hinterlässt dies einen schalen Beigeschmack.

Einwenden lässt sich hier einerseits, dass Lanthimos-Filme seit jeher von der Auslotung des Zeigbaren leben, Tabus stets anstatt aus Vorsicht gescheut aus genuinem Interesse gebrochen werden. Emma Stone, die Poor Things mitproduziert hat, wusste zudem sehr genau, worauf sie sich einlässt, sie arbeitet seit The Favourite kontinuierlich mit Lanthimos, als avantgardistisches Zwischenspiel entstand mit Bleat (2022) ein auf Super-16 gedrehter, halbstündiger Stummfilm, und im bereits abgedrehten Episodenfilm And (TBA) ist sie ebenfalls mit von der Partie. Poor Things ist zu gleichen Stücken auch ihr Film, eben nicht einzig wegen ihrer außergewöhnlichen Performance, die in gut zwei Stunden Jahrzehnte menschlichen Wachsens verkörpert, als wäre es einfach. Wie es die Buchvorlage so will, wird die oft beschworene „starke weibliche Hauptfigur“ eben dazu benutzt, die verschiedenen Spielarten patriarchal-kapitalistischer Unterdrückungsabsichten aufzuzeigen, das Unsittenbild gelingt, hat noch Gültigkeit für heute.

ALTES ERNEUERN
„Women“, schreibt Mary Wollstonecraft 1792 über Betrachtungen der Frau in der Gesellschaft, „[ì] are still reckoned a frivolous sex, and ridiculed or pitied by the writers who endeavour by satire or instruction to improve them. It is acknowledged that they spend many of the first years of their lives in acquiring a smattering of accomplishments: meanwhile, strength of body and mind are sacrificed to libertine notions of beauty, to the desire of establishing themselves, the only way women can rise in the world – by marriage. And this desire making mere animals of them, when they marry, they act as such children may be expected to act [ì] Can they govern a family, or take care of the poor babes whom they bring into the world?“ Fügt sich Lanthimos in seiner lebensfrohsten Satire in die Reihe besagter Autoren ein oder umschifft er sie parodierend? Bella Baxter ist zunächst obskures Objekt der Begierde, ihre Geschichte ist in dieser Form nur erzählbar, weil sie Normen von Schönheit, von Sexyness erfüllt. Aufstieg in der – überhaupt Einstieg in die – Gesellschaft scheint ihr erst lediglich untergeordnet in Obhut des ekligen Edelmanns, später tatsächlich mittels Heirat zu gelingen. Als Weiterentwicklung der Fabel des Lobster, in dem Menschen ausschließlich als heterosexuelles Paar leben dürfen und sonst in Tiere verwandelt werden, leuchtet Poor Things ein, dieser Film zeigt die Problemlage verschwimmend: Um aus dem männlichen Gefängnis auszubrechen, erweist sich für Bella doch wieder die Lust auf einen anderen Mann als wirksam, nur via triebhaftem Begehren erweitert sich ihr Verstand. Und in der Tat gelangt sie aus der Rolle der Unterdrückten heraus, findet unbeirrt ihren Weg aus Unmündigkeit und Bevormundung. Sie ist keines dieser „poor babes“; diese armen, bemitleidenswerten Dinger, das sind eher die Kerle, die sie – mitunter in bedrängenden Fish-Eye-Kamerabildern, noch ein Tier-Element – umklammern wollen. Die Kindsfrau bleibt nicht Kindskopf, vielmehr erringt sie schließlich Hoheit über ihre eigene Geschichte sowie verschiedenartige „means of production“. Alte Themen in poppig aktualisiertem Gewand? Allein über das Production Design von Shona Heath und James Price und dessen Entstehung in Budapest wird wahrscheinlich in zahlreichen Büchern geschrieben werden, es ist wirklich überwältigend. Blenden lassen sollte man sich davon nicht, Poor Things ist weder ein radikales noch ein emanzipatorisches Meisterwerk. Aber: Yorgos Lanthimos’ surrealistisch aufgeblähte Wunderwelt hat einiges zu bieten, worüber sich innig staunen, lachen und streiten lässt – und näht dem Kino so mit seinem schillernden und dampfenden Operationsbesteck eine unordentliche Portion neuer Vitalfunktionen ein.