Fünf Musik-Dokumentarfilme bei der Viennale berichten (wie könnte es anders sein) von Sex, Drugs and Rock’n’Roll, aber auch von sozialem und politischem Engagement.
Dokumentarfilme über Musiker waren schon immer ein wichtiger Bestandteil der Viennale. Das Spektrum ist auch 2011 vielfältig: Harry Belafontes Crooning, der Groove der World-Music-Pionierin Miriam Makeba, die engelsgleiche Stimme von Singer/Songwriter Harry Nilsson, die rohe Energie der Hole-Drummerin Patty Schemel oder der Industrial Sound von Genesis P-Orridge werden die Verantwortlichen der Festivalkinos hoffentlich dazu bringen, den Ton ordentlich aufzudrehen.
Miriam Makeba (porträtiert von Mika Kaurismäki in Mama Africa) und Harry Belafonte (Sing Your Song), dem darüber hinaus ein Viennale-Tribute gewidmet ist, waren nicht nur lange befreundet, sie verband ein starker Gerechtigkeitssinn, der sie unzählige Male im Kampf gegen Rassismus, Armut und Unterdrückung rund um den Erdball führte. Eine Szene kommt sogar in beiden Filmen vor: Der durch Hits wie „Day-O“ bereits etablierte Belafonte stellt in einer US-Fernsehshow Makeba vor, eine schüchterne kurzhaarige Sängerin aus Südafrika, die ein anderer Mensch zu werden scheint, sobald sie zu singen anfängt. So eine Stimme kann man nicht durch Übung erlangen, sie scheint, als spirituelles Erbe ihrer Mutter, einer Heilerin, tief von innen zu kommen. Aufgewachsen ist sie in den Townships Südafrikas, nach ersten Erfolgen bei diversen Bands wurde ihr nach ihrer Mitwirkung bei einer Anti-Apartheid-Doku im Anschluss an eine Auslandstour die Wiedereinreise verwehrt. Die nächsten 30 Jahre verbrachte sie im Exil. In Amerika wurde sie mit dem Hit „Pata Pata“ bekannt, den sie nicht sehr mochte, weil er unpolitisch war. Nach der Hochzeit mit dem Black-Panther-Anführer Stokely Carmichael wurde sie von den US-Radiosendern nicht mehr gespielt und ging nach Guinea. Bevor sie nach der Freilassung Nelson Mandelas wieder in ihre Heimat zurückkehren konnte, lebte sie in Belgien. Mika Kaurismäki hält die Balance zwischen Musik, Politik und privaten Tragödien wie dem Tod von Enkel und einziger Tochter innerhalb kurzer Zeit; Interviews mit Mitstreitern, Verwandten und Fans lassen ein facettenreiches Porträt von „Mama Africa“ entstehen.
Susanne Rostocks Sing Your Song ist ähnlich aufgebaut: Auch hier stehen zuerst Musik und Schauspielkarriere im Fokus, bevor sich der Film auf das soziale und politische Engagement des charismatischen Protagonisten konzentriert. Harry Belafonte nimmt mit offenem Lächeln und intensivem Blick jeden Raum ein, den er betritt, strahlt eine Überzeugung aus, für das Richtige zu kämpfen, die später Geborenen abgeht. Vielleicht, weil der Feind nicht mehr so klar zu definieren ist wie in den Sechzigern, als er sich der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King anschloss und unter Lebensgefahr an Freiheitsmärschen gegen den Ku-Klux-Klan teilnahm. Später kämpfte er vor Ort gegen die Hungerkatastrophe im Sudan und half durch Lobbying mit, die Lebensbedingungen schwarzer Jugendlicher in den USA zu verbessern. Ein Film über einen Idealisten, der nie aufgibt und Menschen dazu anzuregen will, gegen Unrecht aktiv zu werden. Dass er dafür weite Teile seines Familienlebens aufgeben musste, wird nicht ausgespart, obwohl seine Kinder aus zwei Ehen offensichtlich gut damit umgehen konnten, dass sie Daddy öfter im Fernsehen gesehen haben als in Persona.
Im Drogennebel
Auch Harry Nilsson, einer der größten, der breiten Öffentlichkeit allerdings nahezu unbekannten US-Singer/Songwriter der Sechziger und Siebziger, kümmerte sich liebevoll um seine Kinder – wenn er mal zu Hause war. Der Grund der Abwesenheit: Sehr oft zog er mit Kumpels wie John Lennon oder Ringo Starr nächtelang um die Häuser. In Who is Harry Nilsson… (And Why Is Everybody Talkin’ About Him?) begibt sich John Scheinfeld auf Spurensuche: Nilssons Vater verließ die Familie, als Harry drei war (der wiederholte die „Sünde“ des Vaters als Erwachsener), die Mutter trank und brachte die Kinder gerade mal so durch. Mit 15 begab er sich auf eine Reise durch Amerika, die ein Leben lang dauern sollte. Bei einem seiner ersten Auftritte wurde er ausgelacht, vielleicht ein Grund, dass er trotz engelsgleicher Stimme nie live vor Publikum sang. Seine zwei einzigen Hits („Everybody’s Talkin‘“ aus dem Film Midnight Cowboy und „Without You“) schrieb er ironischerweise nicht selbst. Dafür Klassiker wie „One Is the Loneliest Number“ oder Songs, die in Interpretationen anderer Künstler Erfolge wurden. Den Beatles galt er als bester Songwriter der USA, das Album „Nilsson Schmilsson“ gewann Grammys. Danach ging es privat und beruflich bergab, Alkohol dominierte, die Stimme brach. Trotzdem blieb er kreativ und fand in der jungen Irin Una die Frau fürs Leben. Neben biografischen Fakten, raren Archivaufnahmen seiner Musik und Audioaufnahmen, in denen Nilsson über sein Leben erzählt, punktet der äußerst dichte Film mit Anekdoten über einen zutiefst unsicheren Mann, der, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick, sich selbst der größte Feind war.
Patty Schemel, Ex-Drummerin der Band Hole, versuchte mit Hilfe von Drogen ihr mangelndes Selbstbewusstsein in den Griff zu kriegen. Als lesbisches Punk-Girl in einem Kaff in der Nähe von Seattle war sie die geborene Außenseiterin, ihr Leben klingt nach Rockstar-Klischee: Musik, Drogen, plötzlicher Erfolg, endlose Touren, mehr Drogen, Absturz, Rauswurf aus der Band, finanzielles Desaster, Leben als Crackhead auf der Straße, Läuterung. Patty erzählt ihre Geschichte mit Selbstironie und Authentizität, im Gegensatz zu Courtney Love, die immer noch die Rockbitch spielt. P. David Ebersoles Hit So Hard greift auf viel privates Material zurück, neben tragikomischen Backstage-Aufnahmen der zugedröhnten Musikerinnen und Konzertbildern werden auch Nirvana-Fans mit intimen Momenten der Familie Cobain/Love samt Tochter in der Badewanne bedient. Der Film bietet einen Einblick in eine Welt, in der Drogen die einzige Möglichkeit zu sein scheinen, die Leere zu kaschieren, wenn die Band – „die ultimative dysfunktionale Familie“ – nicht funktioniert.
Auch Genesis P-Orridge, Mastermind der Industrial-Pioniere Throbbing Gristle und Psychic TV, hat Erfahrung mit Drogen, in seiner zweiten Lebenshälfte allerdings scheint die Liebe seine stärkste Antriebskraft geworden zu sein. The Ballad of Genesis and Lady Jaye widmet sich, fast ausschließlich aus Homevideos zusammengeschnitten, zwar auch der musikalischen Karriere eines Neuerers und begnadeten Performers, im Mittelpunkt steht allerdings eine ungewöhnliche Love Story: Im Namen der Pandrogynie unterziehen sich Genesis und die feministische Performancekünstlerin Lady Jaye chirurgischen Eingriffen, um einander auch äußerlich ähnlicher zu werden. Dem schon immer mit der Fetischkultur experimentierenden Genesis wachsen durch eine Hormonkur Brüste. Wenn beide Arm in Arm spazieren gehen, sind sie nur an der Statur zu unterscheiden. Beim Zuschauen weiß man nicht genau, ob man neidisch sein soll auf die augenscheinlich überirdische Harmonie ihrer Beziehung oder ob man den Kopf schütteln soll ob dieser romantischen Schwärmerei und ihrer wahnsinnig anmutenden Konsequenz.