Das Internationale Filmfestival Rotterdam (IFFR) feiert heuer sein 50. Jubiläum – unter neuer Leitung und mit etlichen feinen Filmen, die dem Festival alle Ehre machen.
Ganz so hatte sich Vanja Kaludjercic ihren ersten Jahrgang als künstlerische Leiterin des IFFR sicher nicht vorgestellt. Kein rauschendes Fest zum 50. Jubiläum des Festivals, wie ursprünglich geplant. Stattdessen ein hybrides Event mit digitalem Auftakt im Februar und Präsenzveranstaltung im Juni, insofern die Covid-Maßnahmen letzteres zulassen werden. Aber die Kroatin, die bisher für den Filmeinkauf der Online-Mediathek MUBI verantwortlich war, davor jahrelang die Talks und Masterclasses beim IFFR betreute und zudem Erfahrung als Programmerin für Festivals wie Sarajevo, Cinéma du Réel in Paris und CPH:DOX in Kopenhagen hat, brachte für die Herausforderung, ein gelungenes Online-Festival auf die Beine zu stellen, nicht nur die besten Voraussetzungen mit, sondern verstand es im Nachhinein, dem nach Sundance immerhin zweitgrößten Filmbranchenevent des Jahres auch in seiner digitalen Form, Lebendigkeit und Professionalität zu verleihen.
Als eine kluge und vortreffliche Wahl erwies sich vor allem der Eröffnungsfilm, denn Riders of Justice des dänischen Regisseurs Anders Thomas Jensen ist kein offensichtlicher Crowd-Pleaser im herkömmlichen Sinn. Mit seinem absurden, bitterschwarzen Humor, der nicht selten über die Stränge schlägt, schafft es Jensen immer wieder aufs Neue zu begeistern und gleichzeitig bewusst anzuecken, und sein neuer Film ist in der Hinsicht keine Ausnahme. Mads Mikkelsen, treuer Weggefährte des Regisseurs und Drehbuchautors, spielt den in Afghanistan stationierten Berufssoldaten Markus, der zu seiner jugendlichen Tochter Mathilde nach Hause zurückkehrt, weil seine Frau kurz zuvor bei einem U-Bahn-Unglück ums Leben gekommen ist. Die Polizei behandelt den Fall als tragisch, aber unauffällig. Allerdings kommt es Markus in seinem Leid, der inneren Wut und äußeren Trauer viel eher gelegen, dass es offenbar auch Leute gibt, die glauben, es könnte ein Terroranschlag dahinter stecken. Ein verlockender Gedanke, der den aufgebrachten Witwer und seine neuen Verbündeten zu einem dubiosen Rachekommando vereint, das keine Scheu vor grober Gewalt kennt, geschweige denn vor dem Einsatz von Waffen aller Art
Im Hinblick auf die Wettbewerbsfilme ging es jedoch deutlich weniger waghalsig, absurd und makaber zu. Der mit 40.000 Euro dotierte Tiger Award ging in diesem Jahr an das schmale, aber klug inszenierte südindische Debütdrama Pebbles von Vinothraj P.S., der darin einen Alkoholikervater und seinen kleinen Sohn bei gleißender Hitze auf einen Fußmarsch durch die Einöde schickt, in der vergeblichen Hoffnung, die Mutter zu finden, die vor der Gewalt ihres Ehemanns unlängst die Flucht ergriffen hat. Den Special Jury Award in der Sektion teilen sich heuer I comete: A Corsican Summer des Franzosen Pascal Tagnati und Looking for Venera von der aus dem Kosova stammenden Regisseurin Norika Sefa. Vor allem letzterer überzeugt mit einer exzellent gespielten Coming-of-Age-Geschichte, die auch den dokumentarischen Blick nicht scheut, um Emotionen und Stimmungen einzufangen, und trotzdem gekonnt in einer schlichten narrativen Struktur verhaftet bleibt, die gleichermaßen Raum für leichte, ernste und schmerzhafte Momente schafft.
Der Big Screen Award ging etwas unverständlicherweise an den argentinischen Beitrag El perro que no calla von Ana Katz, der bereits in der Woche davor beim Sundance Film Festival seine Weltpremiere gefeiert hatte. Dem Film steht mit dem Gewinn vom 30.000 Euro zudem ein garantierter Starttermin in niederländischen Kinos sowie ein Fernsehslot zu. Allerdings hätte man an dieser Stelle viel lieber die Dokumentation The Witches of the Orient von Julien Faraut als Gewinner gesehen, der darin auf erfrischend genre-verspielte Art und Weise das die japanischen Volleyball-Damen porträtiert, die in Tokyo 1964 zu den ersten Olympiasiegerinnen in der Disziplin gekürt wurden.
Die eigentlichen Perlen gab es letztlich in der Limelight Sektion zu entdecken, die wie ein Best-of von Festivalshits der vergangenen Saison funktioniert. Insbesondere konnte man hier einige der großen Highlights aus Venedig nachholen, darunter Andrei Konchalovskys lebensnahes Drama Dear Comrades! und Quo Vadis, Aida? von Jasmila Žbanić, in dem die Regisseurin auf stille, eindringliche Art und Weise die Ereignisse vor dem Massaker von Srebrenica im Jahre 1995 aus der Perspektive einer bosnischen Übersetzerin schildert. Der Film, der für Bosnien-Herzegowina ins diesjährige Oscar-Rennen um eine Nominierung als bester fremdsprachiger Film geht, wurde in Rotterdam zudem mit dem Publikumspreis ausgezeichnet.
Ein weiterer Venedig-Hit blieb einem Teil der akkreditierten Journalisten jedoch vorenthalten, denn Wild Bunch, der Weltvertrieb von Quentin Dupieuxs Mandibules, hatte nur eine Version des französischen Originals mit niederländischen Untertiteln für das Festival freigegeben. So blieb am Ende noch genügend Zeit für eine zweite Sichtung des 2020-Berlinale-Lieblings First Cow der US-amerikanischen Independent-Regisseurin Kelly Reichardt (Interview), die in diesem Jahr mit dem Robby Müller-Preis für „visionäre Bildergestalter“ ausgezeichnet wurde. Und schließlich gab es noch Shorta, ein packendes Polizistendrama von Anders Ølholm und Frederik Louis Hviid, in dem allein mehr Action zu stecken schien als in dem kompletten Wettbewerbsprogramm des IFFR insgesamt. Das dänische Regie-Duo trumpfte in der Limelight-Sektion mit einem explosiven Gesellschaftsdrama auf, das einmal mehr das Verhältnis zwischen Rassismus und Polizeigewalt ins Zentrum des Geschehens und dabei eine wenig subtile, aber äußerst wirksame Versuchsanordnung durchspielt. Ihr Film um zwei Polizisten, die sich plötzlich in einem von gewalttätigen Krawallen überschatteten Wohngebiet eingekesselt sehen, mag eingangs an Ladj Lys Les Misérables erinnern, beindruckt im Verlauf des Geschehens jedoch nicht nur verstärkt durch die schauspielerischen Leistungen der beiden Hauptdarsteller, sondern funktioniert vor allem über eine ungeradlinige Handlung, die zunächst das Menschliche in den Vordergrund rückt, um anschließend tiefer in die Grauzonen vorzudringen, die entstehen, wenn Pflichtbewusstsein, Schuld, Selbstschutz, Hass, Unverständnis und Kontrollverlust aufeinanderprallen. Nicht alle Wendungen sind tatsächlich geglückt, einiges wird zugunsten der Actionszenen ausgespart. Dennoch bleibt Shorta (der Titel entspricht einer arabischen Bezeichnung für die Polizei) konsequent im Ansatz und stets spannend in der Ausführung, so dass man am Ende zugleich erschöpft und betroffen den Abspann mit offen Augen an sich vorbei rauschen lässt.
Für Fans des asiatischen Kinos, für dessen Präsentation und nachhaltige Förderung Rotterdam in den vergangenen Jahrzehnten berühmt war, bot das Festival zumindest diesmal – sieht man vom Siegerfilm Pebbles ab – nur magere Kost. Am besten schlug sich da noch Aristocrats, der zweite Langfilm der Regisseurin Yukiko Sode: Dass junge Frauen im modernen Tokyo sich immer noch (wie in den klassischen Filmen Yasujiro Ozus aus den späten fünfziger Jahren) in von der Verwandtschaft „dringend empfohlenen“ Ehen wiederfinden, jedenfalls in den entsprechenden sozialen Kreisen (siehe Titel), verblüfft doch ein wenig. Sode zeichnet anhand zweier Frauen ein subtiles Porträt über die Klassengegensätze zwischen den schamlos Reichen und den weniger Privilegierten aus den Vorstädten, die im Grunde keine Chance auf sozialen Aufstieg haben, mögen sie an der Universität auch noch so tüchtig studieren.
Im Anschluss an diese erste digitale Festivalwoche zum 50. Jubiläum des IFFR sollen über die nächsten Monate noch weitere Veranstaltungen folgen, zu denen ein filmischer Rückblick auf die ersten fünfzig Jahre IFFR ebenso gehört wie die Präsentation des Programms in Rotterdam an vier abschließenden Festivaltagen Anfang Juni. Ob und inwieweit Kaludjercics Plan für einen physischen Event zum Sommer hin tatsächlich aufgeht, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Die erfolgreiche Onlineausgabe des Festivals in der vergangenen Woche hat zumindest die Hoffnung bestärkt, dass auch die Berlinale, die in diesem Jahr eine ähnliche Struktur wie das IFFR verfolgt, in dieser hybriden Form gut funktionieren kann.