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Regra 34

Filmfestival

Von Kinderhandel, häuslicher Gewalt und sexuellen Obsessionen

| Kirsten Liese |
Eindrücke vom 75. Locarno Filmfestival

Starke, selbstbewusste Frauen haben im Kino Konjunktur. In Locarno waren sie zur 75. Jubiläumsausgabe als Regisseurinnen besonders stark repräsentiert, und vor der Kamera werden sie immer jünger und mutiger gemessen an dem, was sie verkraften müssen.

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Das aufwühlende Roadmovie Paradise Highway lief traditionell wie alle starbesetzten Produktionen auf der Piazza Grande vor mehreren tausend Zuschauern, wo auch Matt Dillon den Preis für sein Lebenswerk entgegennahm. Morgan Freeman verkörpert in diesem Krimi einen sympathischen Ermittler, Juliette Binoche eine Lastwagenfahrerin, die unterstützt von Kolleginnen, einem Mädchen auf der Flucht vor Kinderhändlern hilft. Im Zentrum steht die toughe 12-jährige Leila selbst, die den Peiniger, dem sie zugeführt werden sollte, von eigener Hand tötet.

Den internationalen Wettbewerb überragte das Coming-of-Age-Drama Tengos sueños electricos aus Costa Rica von Valentina Maurel, die für ihr scharfsichtiges Psychogramm einer 16-Jährigen zwischen aufkeimender Sexualität, Rebellion und dem Drang nach Selbstbestimmtheit den Regiepreis gewann. Mit großer Reife lotet Daniela Marín Navarro, verdient ausgezeichnet als beste Hauptdarstellerin, die komplexen Facetten dieser Eva aus, die seit der Scheidung der Eltern an Alpträumen leidet, in denen sich die Unbeherrschtheit des Vaters widerspiegelt. Bei der Mutter, die ihre Katze nicht mehr duldet, weil sie verstört überall hinpinkelt, will sie nicht bleiben. Aber beim Vater (bester Darstellerpreis: Reinaldo Amien Gutiérrez), dessen Gewalttätigkeit die junge Frau unterschätzt, lebt es sich nicht besser.

Fast noch gespenstischer erscheint Ruth Maders österreichischer Beitrag Serviam – Ich will dienen, der den von der Außenwelt unbemerkten Horror in einem katholischen Mädcheninternat entlarvt. Die leitende Klosterschwester, furchteinflößend von Maria Dragus verkörpert, stiftet ihre Zöglinge zu lebensgefährlichen Selbstverletzungen an und versteckt sie dann ohne ärztliche Hilfe in einem leerstehenden Stock. Von den Eltern, die alle Alarmsignale ignorieren, erwächst den Kindern keine Hilfe. Nur die 12-jährige Sabine stellt sich der Psychopathin mutig in den Weg. Streng quadrierte Bilder von kalten, sterilen Innenräumen, subtile Blicke, sparsame Dialoge und ein düsterer Soundtrack korrespondieren mit der unfassbaren stillen Grausamkeit in diesem Film, der einen der Hauptpreise verdiente, aber nur mit einem dritten Preis der Jugendjury gewürdigt wurde.

Den Goldenen Leopard für den besten Film gewann überraschend der brasilianische Beitrag Regra 34 von Julia Murat, das provokante Porträt einer Rechtswissenschaftlerin, die sich leidenschaftlich für Frauen in Missbrauchsfällen engagiert, sich selbst aber mit sadomasochistischem Sex erniedrigt. Nicht auszudenken, wie diese Geschichte als sexistisch ausgepfiffen worden wäre, wenn sich ein Mann erkühnt hätte, sie zu erzählen, dies auch im Hinblick auf einige pornografisch angehauchte Szenen. Einer Frau wird demnach die Akzeptanz gewaltsamer Übergriffigkeiten zugestanden, sofern sie in gegenseitigem Einvernehmen erfolgt, auch wenn das am Ergebnis des Films nichts ändert.

Vielleicht erklärt das auch, warum Gigi la legge, Alessandro Comodins Porträt eines Verkehrspolizisten, in seinem erotischen Charme weitaus dezenter ausfällt. Dieser Gigi kurvt in seinem Wagen, meist allein, manchmal aber auch in Begleitung, durch die ländliche Provinz, wo meist kaum etwas passiert. Mit einem ganz eigenen unaufdringlichen Charme nutzt er die Zeit, um mit der Stimme von Kolleginnen, die ihn über das Handy kontaktieren, subtil zu flirten. Anzügliches kommt ihm dabei nie über die Lippen, als Galan alter Schule sagt er seiner Kollegin vielmehr nur, dass sie eine schöne Stimme hat oder erzählt vom Duft der Zutaten, mit denen er sich ein leckeres Essen zubereiten wird, zu dem sich die Gesprächspartnerin gerne auch einmal selbst einlädt. Der Spezialpreis der Jury für einen so leisen, unspektakulären Film überraschte. Eher hatte man den Protagonisten Pier Luigi Mecchia auf dem Schirm, der kraft seiner großen Ausstrahlung ein würdiger Kandidat für den Darstellerpreis gewesen wäre.

Mit der geistreichen Historien-Komödie Il Pataffio gab es noch ein weiteres großartiges Stück Kino im Wettbewerb zu erleben, das leider von der Jury gar nicht beachtet wurde. In einem fiktiven Mittelalter entwirft Regisseur Francesco Lagi mit satirischem Witz eine Vision von einem Volk, das sich von den Reichen und Mächtigen, die sie ausbeuten wollen, nichts gefallen lässt und sich sein Territorium souverän zurückerobert. Und weil die Bauern von der Zahl her den Adligen überlegen sind und obendrein um ein Vielfaches schlauer, gelingt das auch. Am Ende steht der überhebliche, selbstgefällige Herrscher ganz alleine da, nachdem seine korpulente Braut und sein vertrotteltes Gefolge ums Leben gekommen sind.

Das deutsche Kino präsentierte sich in Locarno einmal mehr von schwächerer Seite. Zwar wartet die deutsch-französische Koproduktion „Human Flowers of Flesh“ um eine Crew, die auf einem Schiff von Marseille über Korsika nach Algerien steuert, mit poetischen, meditativen Bildern vom Mittelmeer auf. Doch hat Helena Wittmann, eine weitere von sieben am Wettbewerb beteiligten Regisseurinnen, auf dieser Reise zu wenig und zu Belangloses zu erzählen.

Deutlich vielversprechender beginnt „Piaffe“ von Ann Oren mit den ungewöhnlichen Impressionen von einer Geräuschemacherin, die für einen Werbefilm fantasievoll mit Gegenständen das Trappeln von Pferden imitiert. Aber dann wird diese Geschichte zunehmend bizarrer und kruder, als die Heldin mit einem Schweif an ihrem Po selbst zu einem Pferd wird und sich in ein sexuelles Unterwerfungsspiel mit einem Botaniker begibt.

Ein starker Jahrgang war dies gleichwohl, und das ist das abermals das Verdienst des neuen Leiters Giona A. Nazzaro, dessen Ära im vergangenen Sommer ungeachtet schwieriger Corona-Zeiten vielversprechend begann. Diesmal war die Filmauswahl sogar noch besser.

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