ray Filmmagazin » Filmfestivals » Von Nostalgie nichts zu spüren

Von Nostalgie nichts zu spüren

| Jennifer Borrmann |

Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen begingen gebührend ihren Sechziger.

Werbung

Tradition. Das klingt zu allererst langweilig, womöglich reaktionär – dem Fortschritt und der Weiterentwicklung jedenfalls nicht unbedingt zugeneigt. Bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen liegt der Inhalt jener Tradition jedoch gerade in einer neugierigen Experimentierfreudigkeit begründet. Es ist der beständige Versuch, Seherfahrung, kollektives Kinoerlebnis und festgefahrene ästhetische und kulturpolitische Wege in Frage zu stellen. So durchbrach Hilmar Hoffmann, Gründer und langjähriger Leiter des ältesten Festivals für die kurze Form, mit dem „Weg zum Nachbarn“ ab Ende der 1950er Jahre ganz explizit den Eisernen Vorhang. Damit machte er mit einer heute im öffentlichen Raum unterrepräsentierten Filmform zugänglich, was auf anderen Gebieten noch lange verschlossen blieb: Ein fruchtbarer Kontakt und Austausch. Regisseure wie István Szabó, Roman Polanski und viele mehr machten so ihre ersten Schritte in der damaligen BRD.

Darüber hinaus war und ist Oberhausen immer wieder gut für Provokation. 1956 zeigte das Festival Nacht und Nebel des kürzlich verstorbenen Alain Resnais, nachdem er in Cannes nach Auseinandersetzungen zwischen Bundesregierung und dem französischen Auswahlkomitee nur außerhalb des Festivals vorgeführt wurde. Sechs Jahre später verkündete Alexander Kluge in der Stadthalle Oberhausen während einer kleinen Pressekonferenz mit kulturpolitisch und historisch lautem  Echo das „Oberhausener Manifest“ – damit erklärten die Unterzeichner Papas Kino für tot. Auch 1968 gab es einen Eklat, als Hellmuth Costard in Besonders wertvoll seinen Penis in Nahaufnahme das damalige Filmförderungsgesetz vorlesen und anschließend von Hand verwöhnen ließ. Der Film wurde von der Festivalleitung abgelehnt, woraufhin zahlreiche Filmemacher ihre Filme vom Festival kurzfristig wieder zurückzogen und an der Ruhr-Universität Bochum zeigten. Hoffmann, der sich immer der Rückendeckung der Oberbürgermeisterin Luise Albertz sicher sein durfte, überlebte auch dies.

Trotz der Costard-Ablehnung eng verbunden mit Hoffmann ist die kuratierte und couragierte Filmclubarbeit. In diesem Sinne führten sowohl Will Wehling, Wolfgang Ruf, Karola Gramann, Angela Haardt als auch seit 1997 Lars Henrik Gass weiter, was sich von Anfang an in Oberhausen spiegelte: Traditionell kuratieren Filmclubs und heute vor allem kommunale Kinos, aber auch Festivals, unabhängig, experimentell und auch immer noch bildungspolitisch Filmreihen, Performances, nicht selten begleitet durch filmhistorische Vorträge. So altbacken sich der Begriff Bildungsauftrag anhört, so sehr gehört er doch zu diesem Festival und zur Arbeit von Filmclubs und kommunalen Kinos – dass die Inhalte nicht zu einem konventionellen Kanon gehören, werten solche Orte nur auf. (Sub)Kultur ist für alle. An solchen Orten können Voraussetzungen für Wahrnehmung geschaffen werden.

Wahrnehmung und Seherfahrung sollen aber auch geschärft und verworfen werden. Medienarchäologe Erkki Huhtamo (UCLA) propagiert gar das Ablassen von der Annahme, dass Film Endstation in der Entwicklung des filmbasierten Bewegtbildes sei, sondern nur ein kleiner Teil eines größeren Ganzen. In diesem Jubiläumsjahr haben sich die Programmmacher etwas äußerst Experimentelles als Leitmotiv ausgedacht: Kino ohne Film, „Memories Can‘t Wait – Film Without Film“. Es ging nun weniger um die (anderen) Orte des Kinos, als um das Spiel mit oder besser gesagt ohne Film im Kino selbst. Damit trieb das Festival die angesprochenen Diskurse zum Thema „Flatness – Kino nach dem Internet“ des vergangenen Jahres weiter und experimentiert auch im 60. Jahr getreu seiner Tradition, Fragen aufzuwerfen, Konventionen in Frage zu stellen und neugierig Filmsprache weiterzuentwickeln.

Mika Taanila hat die post-cinematographische Themenreihe kuratiert. Er erinnerte an drei vergangene Ereignisse als Ausgangspunkt: eine Zeitung, die keine Bilder zeigt, eine Musik-Compilation, auf der stumme Stücke zu „hören“ sind, ein Buch, das mit leeren Seiten aufwartet. Der filmlose Film ist hier nur zwangsläufige Folge. Und es hat funktioniert, das Interesse war riesig: 8 von 10 Programmen der Sektion waren ausverkauft. Das Publikum durfte Klassiker, aber auch Weltpremieren erleben. Chris Petit arrangierte – à la Brion Gysins Cut-Up-Methode – eine überwältigend vielschichtige Audio-Zusammenstellung medialer Erinnerungsstücke des Kennedy-Attentats und der Verhaftung Lee Harvey Oswalds. Dadurch entstand ein einzigartiges Kopfkino. Das sogenannte aviator movie (Howard Hughes gewidmet) mit dem Titel Hell‘s Angels von Ernst Schmidt jr. (Österreich, 1969) repräsentierte den immateriellen Film schlechthin: Das Scheinwerferlicht der Projektorlampe auf eine Leinwand durfte vom Publikum mit selbstgebastelten Papierfliegern bebildert werden.

Perfekt reihte sich da auch der neue alte Ort ein, der in diesem Jahr (nach jahrelangem Leerstehen) wieder in die Spielortliste aufgenommen wurde: der Europapalast. Ein Ort, der einer gewissen Tragik nicht entbehrt – ein Kino, das kein Kino mehr ist. Er ist eine leere Hülse, die durch einen Seiteneingang eines kleinen Verbindungsdurchgangs zweier Straßen betretbar ist. Eine rote Metalltür, vorbei an großen Mülltonnen eines Hinterhofes. Hier offenbart sich die monströse Größe des einst schicken Kinotheaters. Vom oberen Drittel eines Mehrfamilienwohnblocks ausgehend, bewegt sich die riesige Decke des Theaters langsam nach unten. Eine Treppe führt nebenan in den Keller. Ein entkerntes Theater wartet dort, das irgendwie unheimlich und heimelig zugleich wirkt. Im Gespräch mit Lars Henrik Gass erzählte Hilmar Hoffmann von den ersten Filmvorführungen, die in einer geschlossenen Zeche im Erdboden stattfanden. Von daher befindet sich die Rückbesinnung auf Vorstellungen nicht nur im Dunkel des Kinos, sondern im Dunkel des sprichwörtlichen Underground in guter Tradition.

Tradition. Das klingt in Verbindung mit dem Kurzfilmfestival in Oberhausen also alles andere als langweilig, zu allerletzt reaktionär.