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Kore-eda-Hirokazu

Wie der Vater, so der Sohn

Der Film löst Gesprächsbedarf aus

| Thomas Abeltshauser |
Kore-eda Hirokazu über „Wie der Vater, so der Sohn“

Würden Sie widersprechen, wenn man Wie der Vater, so der Sohn als eine Kritik an der japanischen Klassengesellschaft und ihrem Männerbild sieht?
Kore-eda Hirokazu: So denke ich nicht über meine Filme nach und so konzipiere ich sie auch nicht. Aber wenn Sie so wollen, repräsentiert die Hauptfigur Ryota die männliche Dominanz in der Gesellschaft. Er trifft die Entscheidungen, und seine Frau hat sich seiner Meinung zu fügen. Warum verhält er sich so? Weil es sein Vater auch schon so getan hat. Zugleich will er sich der Autorität seines eigenen Vaters entziehen und seine eigenen Entscheidungen treffen, doch dabei wiederholt er nur dessen Verhalten, vor allem gegenüber seiner Frau und seinem Kind.

Sie zeigen zwei sehr unterschiedliche Familien, eine aus der oberen Mittelschicht, eine aus der Arbeiterklasse.
Kore-eda Hirokazu: Es gibt sicher ökonomische Unterschiede zwischen ihnen, aber mir ging es bei der Gegenüberstellung um etwas anderes. Die weniger wohlhabende Familie lebt in einem traditionellen japanischen Haus mit Garten, hat drei Kinder, sie sind alle sehr eingebunden in ihr Umfeld, während das reichere Ehepaar ein Einzelkind hat und viel isolierter lebt, auch wenn sie eine schöne Wohnung in einem teuren Viertel haben. Diesen sozialen Unterschied wollte ich zeigen.

Geht es Ihnen dabei auch um den Unterschied zwischen einer eher traditionell japanischen Lebensweise und der modernen, westlich orientierten?
Kore-eda Hirokazu: Die Lebensräume der beiden Familien spielen eine wichtige Rolle, das Haus auf dem Land und die Stadtwohnung, und wir haben sie mit großem Aufwand gesucht und ausgestattet. Das Landhaus stammt aus der Shôwa-Zeit, der „Ära des erleuchteten Friedens“, als Kaiser Hirohito im 20. Jahrhundert regierte, dessen zweite Hälfte nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine Blütezeit Japans war. Die Architektur des Hauses und auch die Familienstrukturen sollten diese Phase widerspiegeln. Hier existiert noch eine Großfamilie, in der mehrere Generationen ein sehr enges Verhältnis zueinander haben. Die andere Familie repräsentiert die moderne japanische Kleinfamilie, die lediglich aus Vater, Mutter und Einzelkind besteht und in einer schönen Wohnung lebt, dabei aber sehr isoliert ist. Mein Leben entspricht dem der zweiten Familie. Ich wohne mit meiner Frau und unserer Tochter ganz ähnlich. Wenn man in einer der Großstädte wie Tokyo lebt, ist ein anderes Leben auch kaum möglich, weil schlicht der Platz fehlt. Aber mir geht es um keinen sozialen Kommentar, ich habe mir, von meinem eigenen Leben ausgehend, die Frage gestellt, was einen eigentlich zum Vater macht.

Können Sie das genauer erläutern? Was hat Sie daran interessiert?
Kore-eda Hirokazu: Seit vor sechs Jahren unsere Tochter zur Welt kam, stelle ich mir die Frage: Was verbindet mich als Vater mit meinem Kind? Die Blutsbande oder die Zeit, die wir zusammen verbringen? Biologie oder Erziehung? Werde ich durch die Erkenntnis, dass ich mein Blut weitergegeben habe, zum Vater? Oder sehe ich mich nicht als richtiger Vater, weil ich aufgrund meines Berufs so eingebunden bin, dass ich nicht genug Zeit mit ihr verbringe? Mütter würden sich diese Fragen nie stellen, weil sie von Anfang an ein viel engeres Verhältnis haben. Das Kind wächst im Leib der Mutter, sie bringt es zur Welt. Väter sind automatisch ein bisschen abseits. Ich konnte das auch bei meiner Frau beobachten, die sich wie von selbst unserer Tochter annahm, während ich mich an meine neue Rolle als Vater erst langsam gewöhnen musste. Dieses Dilemma, auch die Vorwürfe an mich selbst, wollte ich zum Thema eines Films machen.

Warum haben Sie aus dem Kind im Film einen Jungen gemacht?
Kore-eda Hirokazu: Weil mich genau diese Vater-Sohn-Beziehung interessiert hat, die noch einmal ganz anders funktioniert. Es geht zwar um zwei Familien, aber mein Fokus liegt auf dem Mann und darauf, wie er zum Vater wird.

Ryota ist nicht nur Vater, sondern auch selbst Sohn, der zu seinem Vater eine sehr distanzierte Beziehung hat. Reflektieren Sie damit auch ihre eigenen Familienverhältnisse?
Kore-eda Hirokazu: Es fällt mir schwer, meinen Vater zu kritisieren, aber ich will meiner Tochter ein besserer Vater sein, als er mir gegenüber war. Er war nicht in der Lage, mit Kindern nett umzugehen, er war immer irgendwie abwesend. Ich habe kaum wirkliche Erinnerungen an ihn in meiner Kindheit. Das Erschreckende ist, dass ich ihm heute doch manchmal sehr ähnlich bin und Dinge tue, die ich an ihm nicht mochte. Aber zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich es zumindest reflektiere.

Wie entstand die Geschichte der bei der Geburt vertauschten Kinder? Basiert sie auf einem realen Fall, ist sie ein Märchen? Sie erinnert auch an Salman Rushdies Roman „Mitternachtskinder“.
Kore-eda Hirokazu: Die Handlung selbst ist erfunden, aber sie basiert nicht auf Fiktion. Diese Verwechslungen passierten in den Siebzigern, den Babyboom-Jahren in Japan, gar nicht so selten. Das Interessante war, dass die meisten Eltern, wenn sie es nach Jahren herausgefunden haben, sich fast alle für die Blutsverwandtschaft entschieden haben und nicht für das Kind, das sie jahrelang als ihr eigenes großgezogen haben. Ich fand nur einen Fall, bei dem beide Familien ihre Kinder nicht zurückgetauscht haben, sondern sich stattdessen dazu entschieden, die Kinder nicht aus dem Umfeld zu reißen, in dem sie aufwuchsen und dafür einander regelmäßig zu besuchen. Das erschien mir sehr viel humaner und weniger egoistisch. Sie sagen nicht einfach: Das ist nicht mehr mein Kind, weil es nicht meine DNA hat. Und ich bin mir nicht sicher, wie Eltern heute reagieren würden. Die Blutsverwandtschaft ist noch immer sehr wichtig in Japan,
Adoptionen sind kaum verbreitet.

Haben Sie sich auch gefragt, wie Sie selbst in einer solchen Situation reagieren würden?
Kore-eda Hirokazu: Ich habe mit meiner Frau darüber gesprochen, und sie hat gesagt: „Wenn man ein Kind sechs Jahre lang großgezogen hat, wie kann man es dann aufgeben? Das ist unmöglich!“ Aber ich habe mich als Vater umgekehrt gefragt: Wenn man weiß, dass das biologische Kind in einer anderen Familie aufwächst, kann man das einfach ignorieren? Ich habe darauf nicht wirklich eine Antwort.

Sie arbeiten in Ihren Filmen immer wieder mit Kindern zusammen, die herausragende Darstellungen liefern. Yûya Yagira etwa, der zwölfjährige Hauptdarsteller von Nobody Knows, wurde 2004 in Cannes als jüngster Schauspieler aller Zeiten mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet. Haben Sie eine bestimmte Methode? Was ist Ihr Geheimnis?
Kore-eda Hirokazu: Seit Nobody Knows gebe ich den Kindern keine Drehbücher mehr. Ich erkläre ihnen einfach eine Szene, etwa, worüber sie sich mit ihrem Filmvater unterhalten sollen und lasse sie dann spielen. So gehe ich schon beim Casting vor. Und Kinder lieben diese Art des Schauspielens. Meine andere Methode ist etwas komplizierter. Es ist gar nicht so einfach, Kindern natürliche Gesten und Gesichtsausdrücke zu entlocken. Dazu nutze ich die erwachsenen Schauspieler, etwa die Mutter im Film, die vor der Kamera etwas tut, auf das die Kinder dann spontan reagieren. Sie wird dann in dem Moment wie zu einer zweiten Regisseurin innerhalb der Szene, sie kontrolliert die Emotionen der Kinder. Diesmal war die Situation etwas anders, denn die Hauptfigur hat ja eine gewisse Distanz zu seinem Sohn, deswegen habe ich sie auch außerhalb des Drehs voneinander ferngehalten. Der Vater der Großfamilie dagegen spielte auch in den Drehpausen mit den Jungen. Das sind so meine Tricks, um vor der Kamera möglichst natürliche und wahrhaftige Emotionen zu erreichen.

Wenn Sie es mehr als persönliche Auseinandersetzung sehen und nicht so sehr als kulturelle oder spezifisch japanische: Glauben Sie, dass der Film auch in anderen Gesellschaften funktioniert? Welche Reaktionen gab es anderswo?
Kore-eda Hirokazu: Ich habe überall sehr positive Reaktionen erlebt. Der Film wirkt wie ein Auslöser, nach dem Film über die eigene Familie zu sprechen. All diese Menschen kommen aus ganz unterschiedlichen Kulturen und Religionen, aber überall löst der Film
Gesprächsbedarf aus. Das freut mich sehr.

Welches Verhältnis haben Sie zu Ihren Filmkindern nach den Dreharbeiten? Fühlen Sie eine gewisse Verantwortung?
Kore-eda Hirokazu: Wir telefonieren und treffen uns auch regelmäßig. Und mit einigen trinke ich auch, denn sie sind inzwischen erwachsen. Mir ist es wichtig, dass sie die Dreharbeiten als gute Erfahrung in Erinnerung behalten. Für einige war es ein einmaliges Abenteuer, andere wollen ernsthaft Schauspieler werden. Das unterstütze ich gerne und stehe mit Hilfe und Rat zur Seite.

Sind Ihre Filme so etwas wie Ihre Kinder?
Kore-eda Hirokazu: Manche sind mir näher als andere. Dieser hier ist sicher mein persönlichster. Aber auch Still Walking ist mir sehr wichtig, nicht nur weil ich mich stark in die Hauptfigur hineinprojiziert hatte und es um das Leben meiner Mutter ging, sondern auch weil er in einer Zeit entstand, als meine Mutter starb und ich selbst Vater wurde. Das sind mir die wichtigsten Filme, aber man soll ja keines seiner Kinder bevorzugen.