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Serie | Interview

„Wirklichkeit ist wichtig. Ohne Wirklichkeit kein Horror“

| Benjamin Moldenhauer |
Till Kleinert ist einer der wenigen Filmemacher in Deutschland, die sich als Horrorfilmregisseure verstehen. Ein Gespräch über Horror, Kindheit, seine Filme „Cowboy“ und „Der Samurai“ – und über die am 29. Oktober anlaufende Sky-Serie „Hausen“, die er als Head-Autor gemeinsam mit Anna Stoeva entwickelt hat.

Mit Genrefilmen ist es generell schwierig im deutschsprachigen Kino. Beim Horrorgenre wird die Luft noch dünner. Bevor wir über Ihre Filme und Horror in Deutschland sprechen, meine erste Frage zu dem Kino, das für Sie bedeutsam ist: Welcher Horrorfilm ist für Sie rückblickend besonders wichtig und warum?
Till Kleinert:
Ich habe im Gegensatz zu vielen Horror-Menschen sehr spät angefangen, wirklich gezielt Horrorfilme zu schauen. Vorher hatte ich einfach zu viel Schiss. Ein Kinoerlebnis, das mich mit 19 oder so allerdings nachhaltig verstört und beeindruckt hat, war Audition von Takashi Miike. Es gibt da einen Moment, ziemlich genau in der Mitte des Films, da kippt etwas um, ganz buchstäblich – und der ganze Film und die Wirklichkeit, von der er vorher erzählt hat, verlieren plötzlich ebenfalls den Boden unter den Füßen. Die Verunsicherung, die das in mir ausgelöst hat, fand ich einerseits extrem beunruhigend. Aber wie der Film ab diesem Moment die Schraube immer weiter angezogen hat und schließlich in diesem transgressiven Finale gemündet ist, das hat mich auch auf eine seltsame, befreiende Weise beglückt.
Dieser Moment, in dem das Alltägliche durch einen kleinen Perspektivwechsel plötzlich sein monströses Wesen offenbart, der ist bei mir hängengeblieben und hat mich dann auch in meinem eigenen Filmemachen immer sehr umgetrieben.

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Sie beschreiben sehr gemischte Gefühle beim Sehen: Wenn es umkippt, ist das verstörend und befreiend zugleich. Diese Mischung ist zumindest dem Potenzial nach noch im gammeligsten Slasher enthalten, würde ich meinen. Haben Sie eine Idee, warum ausgerechnet ein für sehr viele Menschen ja offensichtlich sehr bedeutsames Genre wie der Horrorfilm im deutschsprachigen Kino nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr wirklich Fuß fassen konnte?
Till Kleinert: Tja. Ich habe vor kurzem beschlossen, dass ich einfach nicht mehr versuche, diese Frage endgültig zu beantworten. Weil sie eigentlich von anderen beantwortet werden müsste. Ich verstehe es auch nicht. Es hat vielleicht mit Kontrollverlust zu tun. Im Horror bricht ja immer das Irreale ein und droht, die Wirklichkeit, wie wir sie kennen, auszuhebeln. Und wenn ich jetzt Sozialpsychologe wäre, dann würde ich vermutlich den Schluss ziehen, dass es historisch in Deutschland eine berechtigte Sorge vor Zusammenbrüchen des Zivilisierten gibt. Aber für mich als Filmemacher ist die Frage eher nicht so relevant – ich kann ja einfach keine anderen Filme machen.

Orientieren Sie sich dann eher an amerikanischen Regisseurinnen und Regisseuren, oder gibt es auch Traditionsstränge im deutschsprachigen Film, die für Ihre Arbeit bedeutsam sind?
Till Kleinert: Ich habe mich jedenfalls nie ausgesprochen heimisch im deutschen Kino gefühlt. Das istinsofern lustig, als es mir andererseits immer wichtig ist, meine eigenen Filme sehr spezifisch hier zu verorten, also zu Hause. Es gibt einige deutsche Filmemacherinnen und Filmemacher, die ich sehr schätze, mit denen ich auch befreundet bin und die zum Teil ähnliche Sachen machen. Aber ich glaube, dass zum Beispiel die Filme eines Takashi Miike oder auch eines David Cronenberg mir als Vorbilder immer näher sein werden. Und das macht ja auch nichts.

Ich frage, weil ich in Ihrem frühen Kurzfilm „Cowboy“ und in „Der Samurai“ von 2014 ein Verständnis von Horror zu erkennen glaube, das viel mit dem US-Horror der siebziger Jahre zu tun hat, ohne dass die Filme epigonal oder retro wären.
Till Kleinert: Ja, da ist was dran.

„Cowboy“ nimmt viel von Tobe Hoopers „The Texas Chain Saw Massacre auf, macht dann aber etwas ganz anderes: Ein unbedarfter Immobilienmakler fährt in die Wildnis, also in die ostdeutsche Provinz, und lernt die dortige Gemeinschaft und ihren Mähdrescher kennen.
Till Kleinert: Ja, in Cowboy gibt es natürlich zum Teil sehr direkte Anleihen: das hohe Gras, die verfallenen Häuser. Mich hat aber an The Texas Chain Saw Massacre vor allem beeindruckt, wie er sich einen spezifischen, echten Ort, das ländliche Texas, vorgenommen und mit seinem Blick quasi aufgerissen hat wie eine Wunde. Das ist eine Methode, die ich mir für Cowboy auf jeden Fall abgeschaut habe – wie ein bestimmter Filter oder eine Brille, die man aufsetzt.

Das eine sind die direkten Anknüpfungen im Bild – hohes Gras, verfallene Häuser –, das andere ist ein spezifisches Verhältnis zur Normalität, in das Sie Ihre Figuren setzen. Das erinnert mich ebenfalls an den US-Horror nach dem Ende der klassischen Phase, der wiederum auf das europäische Kino zurückgegriffen hat, um die Wirklichkeit wieder auf die Leinwand zu kriegen.
Till Kleinert: Wirklichkeit ist wichtig. Ohne Wirklichkeit kein Horror, für mich zumindest nicht.

Können Sie beschreiben, was Sie in Ihrer Arbeit als Horrorfilmregisseur mit dem Begriff „Normalität“ verbinden?
Till Kleinert: Ich gebe mir jedenfalls immer große Mühe, nicht sofort in die Überhöhung zu gehen, sondern den Figuren erstmal zu erlauben, ihren Spielraum zu entfalten, bevor sie dann in eine Albtraum-Mechanik gezwungen werden. Dass das alles an diesen Orten und mit diesen Leuten geschieht, hat ja Gründe, also müssen die auch Raum kriegen. Auch um zu verhindern, dass sie zu reinen Funktionsträgern werden. Und damit ich mich als Zuschauer zum Beispiel am Ende von Cowboy auch darüber freuen kann, dass die beiden Helden es trotz aller Härten geschafft haben, miteinander diesen Ort zu verlassen.

Diese Inszenierung der Normalität ist allerdings mehr als Realismus und suspension-of-disbelief, die ist in Ihren Filmen sehr aufgeladen. In „Der Samurai“ lebt der Protagonist in dieser engen, durchaus bösartigen Dorfgemeinschaft, in die dann das Monster, das ihn ja sehr fasziniert, gewaltsam einbricht. Diese repressive Gemeinschaft hat ja was zerstörungswürdiges.
Till Kleinert: Ja, unbedingt.

Und das Monster, das diese Normalität angreift, wirkte in meinen Augen sehr befreiend.
Till Kleinert: Der Samurai ist insofern schon eine Stufe weiter an der Schraube gedreht, als dass der Horror des Unbekannten aus dem Wald vom Zuschauer, glaube ich, von Anfang an nicht wirklich als Bedrohung, sondern eher als freudige Störung wahrgenommen wird. Ein Katalysator, der unseren traurigen Helden Jakob aus seinen beengten Verhältnissen herauszwingt. Nur Jakob selbst wehrt sich sehr lange gegen das Offensichtliche. Das macht den Film für mich auch sehr komisch und rührend.
Meine Lieblingsszene ist die auf dem Dorfplatz, wenn die beiden miteinander tanzen, und um sie herum sitzen die ganzen um einen Kopf kürzer gemachten Jugendlichen. So viel Gewalt war nötig, damit es zu diesem zarten Moment kommen kann. Um unseren Helden endlich so weit zu entspannen, dass er sich das traut, da zu tanzen.
Für mich ist Horror oft eine Art Symptom von etwas, das in der vermeintlichen Normalität nicht stimmt. Und sich dem Horror zu stellen, heißt nicht, den Normalzustand wiederherzustellen, sondern vielmehr, ihn zu überwinden. Weil er überhaupt erst die Voraussetzung für den Horror war.

Das macht es dann aber auch schwierig oder von mir aus auch ambivalent, weil sich der Held in „Der Samurai“ mit dem Monster fraternisieren muss, um sich zu befreien. Und die monströse Gewalt, die ist ja trotz allem als Gewalt spürbar. Jetzt mal ganz naiv formuliert: Das ist ja nicht in Ordnung, dass der die ganzen Leute da köpft, egal, wie bescheuert die sind.
Till Kleinert: (lacht) 2012 und 2013, als wir den Samurai gemacht haben, fand ich das legitim. Nicht als Handlungsanleitung für die Wirklichkeit, aber als Ausdrucksmöglichkeit für die Figur. In diesem fiktiven Rahmen erschien es mir nur fair, uns zu erlauben, die Freude über Jakobs Befreiungsschlag so amoralisch mitzugehen. Heute würde ich es vielleicht etwas anders sehen. Disruptive Alleingänge und asoziale Ich-Befreiungsschläge erscheinen mir angesichts der aktuellen Weltlage jedenfalls deutlich weniger cool als noch vor ein paar Jahren. Was natürlich nicht heißen soll, dass ich den Film nicht immer noch mag und hinter ihm stehe.

In „Der Samurai“ wird eine enge, repressive Normalität von einem Mann im Kleid mit dem Schwert aufgemischt. Das ist mit all den genannten Ambivalenzen eine Konstellation, die an den modernen Horrorfilm seit den siebziger Jahren anschließt. Die Serie „Hausen“ hingegen, die Sie gemeinsam mit Anna Stoeva entwickelt und als Headautor geschrieben haben, bei der Sie aber nicht Regie geführt haben, greift auf ein klassisches Motiv zurück und variiert es: das unheimliche Haus, nur dass es hier in einem Plattenbau am Rand der Stadt spukt. Was war der Impuls für die Geschichte?
Till Kleinert: Die Idee zu Hausen ist tatsächlich älter als Cowboy oder Der Samurai, die kam mir zuerst um 2006, noch während der Filmschulzeit. Da war an den Serienboom von heute noch nicht zu denken. Es war eher eine Spinnerei, geboren auch aus der Begeisterung für Lars von Triers Serie Hospital der Geister: Wie toll wäre es, eine solche Serie zu haben, um all den merkwürdigen Erfahrungen, auch Angsterfahrungen, die ich selbst während meiner Kindheit im Plattenbau in Berlin-Hohenschönhausen hatte, eine Gestalt zu geben?

Also ein autobiografischer Zugang?
Till Kleinert: Ich bin 1984 mit meiner Mutter, die sich kurz vorher von meinem Vater hatte scheiden lassen, im Erstbezug in die Platte am Stadtrand von Ost-Berlin gezogen, Falkenberger Chaussee 56b, ein Elfgeschosser. Das waren schon die Untergangsplatten, also nicht die schönen Planstädte wie in Halle-Neustadt, sondern die immer verdichteter und billiger gebauten Viertel der Achtzigerjahre.
Das war zwar im Vergleich zu dem Altbau am Prenzlauer Berg mit undichter Fassade, aus dem wir kamen, ein absolutes Upgrade. Aber irgendwas war auch von vornherein sehr befremdlich und unheilvoll an unserem Block und dem ganzen Viertel.Es stand außer den Gebäuden quasi noch nichts. Es gab noch nicht mal richtige Bürgersteige, und auch die S-Bahn-Anbindung kam erst später. Es fühlte sich also sehr abgetrennt an. Die Vorgärten und Parks sollten erst Jahre später richtig grünen. Es war quasi ein Versprechen, das Versprechen einer Welt, die man gemeinsam lebendig machen würde.
Ich fand es aber eher bedrückend, wie unsichtbar alle Leute in dem Haus waren, dafür, dass es so viele von ihnen gab. So dass ich vor diesen anderen, die da mit mir lebten, auch potenziell eher Angst hatte. Und die Müllschlucker fand ich creepy. Natürlich wusste ich, dass da unten irgendwo noch ein Container stand, der den Müll auffing. Aber der war in einem verschlossenen Raum, ich habe ihn also nie gesehen. Insofern hatte ich schon immer das Gefühl, den Müll dem Haus selber zu fressen zu geben.

Gab es neben der Architektur und der Isoliertheit der Mieterinnen und Mieter noch etwas, was in „Hausen“ wieder eine Rolle spielt?
Meine Mutter hatte zu der Zeit ein Fernstudium gemacht. Sie wollte mich nicht allein zu Hause lassen, aber manchmal ging es eben nicht anders. Und natürlich wusste ich, wo sie ist, und auch, dass sie zurückkommen würde. Aber je später der Abend wurde, desto stärker schwand regelmäßig diese Gewissheit. Meine Mutter hat mich wenn sie zurückkam schon oft aus dem Fahrstuhl heraus weinen gehört. Und mich dann, natürlich mit schlechtem Gewissen, im Schlafanzug im dunklen Flur vor der Wohnungstür stehend gefunden, wo ich mir zum Teil schon seit einer halben Stunde die Seele aus dem Leib geplärrt hatte. Und von all diesen Türen um mich herum ist währenddessen keine einzige aufgegangen.
Die Idee hinter Hausen ist es, dieser Macht, die dafür sorgt, dass die Menschen in diesen Gebäuden so isoliert bleiben, auf den Grund zu gehen. Und den Kampf gegen diese Macht aufzunehmen, indem man die Isolation überwindet.

Diese Wirklichkeit des Plattenbaus Ihrer Kindheit, also die erinnerte Wirklichkeit, ist die einfach Inspiration für Geschichten oder macht es auch etwas mit der Erinnerung, wenn man da dann eine Horror-, also eine Genregeschichte draus macht?
Till Kleinert: Natürlich ist der Filter „Horrorgeschichte“ immer auch einer, der komplexe Zusammenhänge tendenziell zu Gunsten des Effekts vereinfacht. Darum ist es mir auch wichtig, dass der Mikrokosmos, den wir gemeinsam mit den anderen Autorinnen und Autoren in Hausen geschaffen haben, nicht als Denunziation verstanden wird. Uns war wichtig, dass gerade diese randständigen, teilweise kaputten Typen, die unseren Block bewohnen, nicht zur Zielscheibe eines irgendwie bürgerlichen Blicks werden, der da auf sie draufschaut und sagt: „Ja, so sind sie“. So wie man heute auch meine Mutter eher verdammen würde dafür, dass sie mich allein gelassen hat. Es geht um eine solidarische, nicht um einen beurteilende Haltung.Alle unsere Figuren sollen ihre Kämpfe in Würde ausfechten. Und wenn sie dabei immer wieder scheitern, dann liegt die Schuld daran eben nicht allein bei ihnen selbst – sondern auch bei dem Haus, in dem sie gezwungen sind zu leben.

Nun könnte man aber auch über Isolation und Solidarität im realistischen Modus erzählen. Was kann der Horror – das Haus lebt in gewissen Weise, ein Kind verschwindet in den Wänden usw. – was ein realistischer Erzählmodus nicht kann?
Till Kleinert: Ich weiß nicht, ob man die Dinge immer am besten beschreiben kann, indem man sie möglichst detailgenau wiedergibt. Ich glaube, ein nicht-realistischer, phantastisch überhöhter Rahmen ermöglicht es erst einmal, genug Distanz zu gewinnen, um sich den Dingen nicht unmittelbar aussetzen zu müssen. Das klingt jetzt nach Ausweichbewegung, aber Film ist ja auch eine Sprache. Und Sprache ist etwas anderes als Wirklichkeit. Und ich brauche eine bestimmte Sprache, in der ich mich sicher genug fühle, um bestimmte Dinge über meine Wirklichkeit sagen zu können.

Die Kindheitserinnerungen, die Sie beschreiben – die Platte, das Alleinsein, die Angst, wenn man im Dunkeln wartet –, die sind Jahre später zum einen Inspiration für eine Serie geworden. Aber nochmal: Was macht es mit der erinnerten Wirklichkeit, wenn man sie als Stoff für eine Horrorgeschichte nimmt? Oder ist das sozusagen eine Einbahnstraße?
Till Kleinert: Nein, das ist sicher keine Einbahnstraße. Die Verarbeitung erleichtert auch rückblickend das Verstehen. Die Dinge verlieren ihren Schrecken, wenn man sie sich erst einmal so furchtbar wie möglich ausgemalt und angeeignet hat. Das ist auch eine Form von Selbstermächtigung.

Ausmalen und aneignen wäre dann ein- und derselbe Prozess.
Till Kleinert: Ja. Und es ist auch eigentlich bei allen meinen Arbeiten so, dass sie mir einen gewissen, auch selbstironischen Abstand zu meinem Erleben ermöglichen. Meine Helden haben oft ein wenig unbeholfene, linkische Züge. Es ist sehr schön, sich selbst auf diese Weise in sein Werk einzuschreiben, mit dieser Nachgiebigkeit gegenüber der eigenen Lächerlichkeit. Und es macht natürlich unheimlich Spaß.