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Unrueh

Unrueh | Interview

Zeit, Bild, Macht

| Jakob Dibold :: Dieter Oßwald |
Einer der ungewöhnlichsten Filme des Kinojahres: „Unrueh“ spielt in einer Uhrenfabrik und handelt von anarchistischer Theorie und Praxis. Cyril Schäublin gelingt eine Regiearbeit, die vieles freilegt.

Seien es spaßige Schleifen oder Reisen, dramatisch-spekulative Auflösung ihres linearen Verlaufs oder die Beherrschung ihrer als Waffe: Durch die Geschichte des Films zieht sich eine Faszination für das Spiel mit der Zeit. In den zahlreichen Ausprägungen dieser Faszination steht jedoch fast immer die stille Prämisse, dass Zeit eben da ist und sich unserer Kreativität preisgibt, in welche Richtung unsere Fantasie sie auch denkt. Cyril Schäublins zweiter Langfilm setzt davor an – an der Entstehung, dem Messen, dem Machen von Zeit. Und demonstriert eindrucksvoll, dass es nicht immer turbulente Fantasy oder aufwendig komplexe Science-Fiction braucht, um dem Faszinosum ein neues Kapitel hinzuzufügen. Unrueh erzählt eine einschneidende Epoche, in der sich die Wichtigkeit von präzisen Uhren für funktionierenden Handel, für die wirtschaftende Nation, mit der Blütezeit der anarchistischen Bewegung und deren genau entgegengesetzten Forderungen kreuzt. Das Entstehen von Zeit ist hier nicht metaphorisch: Auf die Herstellung der titelgebenden Unruh, bis heute Bezeichnung eines für viele mechanische Uhrwerke verwendeten Schwingsystems, spezialisiert, ist eine Fabrik in St. Imier, einem Tal im Berner Jura-Gebirge, Dreh- und Angelpunkt von einerseits Kapitalgeschäft, modernster Technik und der genauesten Messung weit und breit, andererseits von anarchistischer Organisation, die – es ist 1877 – Innovationen wie Gesundheitsversicherung auch für unverheiratete Frauen und Gewerkschaften anbietet und ihre Ideen in einer gern gelesenen Zeitung verbreitet. Inmitten dieser Spannung findet sowohl die Regleuse – die Berufsbezeichnung für Unruh-Herstellende – Josephine Gräbli als auch der russische Kartograf Pyotr Kropotkin Gefallen an dem neuen Gedankengut. Die nationalstolzen Kräfte versuchen indes, die sich breit machende Aufmüpfigkeit unter Kontrolle zu halten.

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Den vollständigen Artikel und das Interview lesen Sie in unserer Printausgabe 12/22+01/23

Beinahe alles davon entspricht historischen Fakten. Schäublin zeigt diese Ereignisse in einer ungemein präzise durchdachten visuellen Sprache, die gleichsam anregend wie unterhaltsam ist, weil sie diese besonderen gesellschaftspolitischen Dynamiken, die mit der materiellen Herstellung von das Leben im 19. Jahrhundert bestimmenden Zeitabläufen einhergingen, auch um Fragen nach dem Bild erweitert: Wenn wir gerade keine Close-ups von feinsten Metallteilen, perfekt geölten Fabrikalltag oder Öffentlichkeitsarbeit von Gemeindeseite und der anarchistischen Gegenposition mitverfolgen, sehen wir häufig das Betrachten und Austauschen von Fotografien, Vorbereitungen auf oder den Akt des Fotografierens selbst. Letzterer wird klar in seiner zeitlichen Dimension dargestellt: Bitte warten, heißt es damals in den frühen Jahren des Mediums, bis sich das Geschossene chemisch materialisiert. Und regelrecht fasziniert sind die Menschen von fertigen Porträtfotos, die als wertvolle Sammelobjekte kursieren – auch sie, wie Uhren und ihre Einzelteile, im Tausch gegen Geld. Geld und somit Macht, Bild und Zeit werden in ihrer Interdependenz spürbar, auch weil sie in Unrueh formal ständig verhandelt werden: Die Einstellungen ähneln oft Suchbildern – wo ist jemand, wo spricht jemand? –, Tableaus, in denen die Zeit mittels durchschreitender Personen vergeht. Bildausschnitte, in die Polizisten immer wieder wortwörtlich den Zutritt verwehren und so eine Entscheidungsgewalt darüber, wer in einer Gesellschaft gesehen werden darf und soll, symbolisieren, aber auch die Frage, wie man erzählend auf Geschichte blickt, welches Bild und welche Menschen einer historischen Periode man zeigt.

Cyril Schäublin, der für Unrueh auch viel in der eigenen Uhrmacher-Familiengeschichte recherchiert hat, gelang ein Zweitling, der anhand einer kurzen Inhaltsangabe so gar nichts mit seinem Debütfilm zu tun haben scheint, tatsächlich aber einiges fortschreibt, was 2017 mit Dene wos guet geit begann. Dort sehen wir eine junge Frau in Zürich, die sich ihr Gehalt als Callcenter-Agentin durch Trickbetrug aufbessert, für den sie sich eben diesen ihren Job und die Gutgläubigkeit einiger Leute, die sie anruft, zunutze macht. Bald schon heften sich zwei Ermittler der Kriminalpolizei an die Fersen der unscheinbaren Diebin, während eine Handvoll futuristisch angehauchter Ordnungshüter neben ein paar willkürlichen Personenkontrollen primär mit Plaudern beschäftigt ist. Gleich mehrere Parallelen – abgesehen vom Bild-Ton-Konzept – lassen sich ausmachen: Das Gesetz und die Herrschenden sind freundlich, aber bestimmt, gehen ihrer Tätigkeit wie beiläufig nach und werden mit subtilem Humor als absolute Normalos inszeniert. Konkurrierende Parteien eignen sich die Werkzeuge der Widersacher für eigene Zwecke an: Die Telefonistin benutzt ihr Arbeitsgerät, um Geld zu erbeuten; das anarchistische Projekt bedient sich der Pressefreiheit und der frühen internationalen Telekommunikation, der Fabrikdirektor liest ihre Zeitung, um Wirtschaftskrisen vorauszusehen und Kapital anzuhäufen. Wobei klar ist, wer das ernste Spiel gewinnt: Die Betrügerin wird gefasst, die anarchistischen Regleusen werden entlassen. Und getragen wird das große Ganze von einer Narrationslogik, die zwar Hauptfiguren suggeriert, aber ohne deutliche individuelle Perspektive auskommt – so wie der Anarchismus ein dezentral geregeltes Zusammenleben fordert. Scheitern wird die anarchistische Bewegung ebenso wie die Betrügerin, die für sich von den Reichen nehmen will. Die im Film beginnenden Entlassungen der politisch „falsch“ Engagierten und die angedeutete Auslieferung des italienischen Anarchisten Carlo Cafiero verweisen darauf, dass die Schweiz nicht mehr lange Nährboden für diese angewandte Philosophie sein sollte. Doch die anarchistischen Ideen leben weiter, wie auch die Frage danach, welche Reaktionen eine Gesellschaft in Zeiten großer technischer Veränderungen hervorbringt. Nur passend, dass Schäublins dritter Film nach Gegenwart und Vergangenheit in der Zukunft angesetzt sein wird, wie er unter anderem nach einem Screening bei der diesjährigen Viennale verriet. Welche Ideen wohl bis dort weitergelebt haben werden? Von Anarchismus und Kropotkin, seinem eigenen Weg zu diesem so ungewöhnlichen und so lohnenden Stoff, seiner visuellen Herangehensweise und einigem mehr berichtet Cyril Schäublin im folgenden Interview.

 

Herr Schäublin, was halten Sie von dem Etikett „Clockwork Surprise“?
„Clockwork Surprise“? Das klingt gut! (Lacht.) „Surprise“ mag ich immer. Die Zeitmessung ist etwas Konkretes und völlig integriert in unsere Tagesabläufe. Dennoch hat es noch immer etwas Erstaunliches an sich, wenn man sich vor Augen hält, dass es nur ein Mechanismus ist und keine ultimative Realität.

Im Unterschied zu Stanley Kubrick sind die Figuren in „Unrueh“ allesamt extrem freundlich im Umgang miteinander. Was hat es damit auf sich?
Das ist mein Erleben. Ich habe meine Familie befragt, meine Großtanten und Großonkel, die in einer Uhrenfabrik gearbeitet hatten, wie damals deren Verhältnis zu den Vorgesetzten war. Zu meinem Erstaunen war die Antwort immer dieselbe: Man empfand diese Autoritäten als sympathische, fürsorgliche Leute, welche auf einen aufgepasst haben.

Wie lässt sich das erklären? Gibt es nur gute Menschen in der Schweiz?
Ich glaube, diese freundliche Unterdrückung oder fürsorgliche Gewaltausübung ist eigentlich furchtbarer als eine offensichtlich gewaltvolle Haltung. Diese Methode ist eben viel effizienter.

Haben Sie diese Erkenntnis auch aus Ihrer Zeit als Student in China?
In China verliefen die Übergänge von den kaiserlichen Dynastien zur kommunistischen Revolution sehr schnell. Der Bezug zu Gewaltausübung und Autorität ist unglaublich viel komplexer als in Europa. Erstaunlich ist, wie diese Ordnungen für die Menschen so hingestellt werden und dann irgendwie gelebt werden, trotz aller Brüche, die vorhanden sind. Es wird sich auch in China nie vollständig kontrollieren lassen, wie die Menschen einander begegnen und organisieren. Auf sozialen Netzwerken muss sich jeder total zurücknehmen mit seiner Meinung, aber sobald man in ein Restaurant oder einen Park geht, wird dort ohne Probleme geflucht und abgekotzt über die Regierung.

Die Schweiz dürfte viele eher an Banken als an Anarchie denken lassen. Wie bekannt ist dieses Kapitel der Geschichte?
Das Wissen darum beschränkt sich auf linke Kreise. Dahingegen kennt jedes Kind bei uns die Heldenlegende des Arnold Winkelried und der Schlacht bei Sempach. Auch in Unrueh soll diese Schlacht ja von den Nationalisten nachgestellt werden. Solche nationalistischen Mythologien sind viel stärker im Geschichtsbewusstsein der Menschen. Es gibt jedoch viele Dokumente, die bezeugen, dass die Anfänge der anarchistischen Bewegung sehr respektiert waren in diesem Tal. Es stimmt auch wirklich, dass der Direktor der Uhrenfabrik ein Abonnent der anarchistischen Zeitung war.

Wie haben Sie diese anarchistischen Wurzeln in der Uhrenindustrie freigelegt?
Während seines Anthropologiestudiums in England entdeckte mein Bruder Emanuel, der mich später als ethnographischer Berater für den Film unterstützte, die anarchistische Theorie und Bewegung des 19. Jahrhunderts und ihre Verbindungen zur Schweizer Uhrenindustrie. Er brachte mich dazu, Texte des russischen Anarchisten Pyotr Kropotkin zu lesen. Als ich über das autobiografische Zitat stolperte, in dem Kropotkin beschreibt, wie er zum Anarchisten wurde, nachdem er ein Schweizer Uhrmachertal und dessen anarchistische Bewegung besucht hatte, wusste ich sofort, dass dies Teil des Films sein würde – neben einer Figur, die von meiner eigenen Großmutter inspiriert war, einer Uhrenfabrikarbeiterin, die die Unruh herstellte.

Was wurde aus dem realen Anarchisten Pyotr Kropotkin?
Pyotr Kropotkin ist aktuell einer der am meisten gehypten politischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. In Frankreich und den USA gibt es Neuauflagen seiner Bücher. Sehr empfehlen kann ich sein Werk „Gegenseitige Hilfe“. In anarchistischen und linken Kreisen ist Kropotkin sehr bekannt und berühmt. In Moskau gibt es sogar eine Metro-Station, die seinen Namen trägt.

Wie kam es zur angedeuteten Liebesgeschichte zwischen der Arbeiterin und dem Anarchisten?
Meine ursprüngliche Idee war es, die „Liebesgeschichte“, den bekannten „Boy-meets-Girl“-Aspekt, in eine Art Persiflage des Genres zu packen. Das gipfelt in der Schlussszene, wenn die Begegnung zwischen Josephine und Pyotr von den Leuten, die ihre Fotos kaufen, fiktionalisiert und vermarktet wird. Amüsanterweise fiktionalisiert und vermarktet die „Liebesgeschichte“ auch den eigentlichen Film und wertet ihn dahingehend vielleicht auf. Aber letztlich nimmt der Film, zumindest für mich, eine Position ein, die weit von einer Persiflage entfernt ist.

Visuell fühlt man sich in Ihrem Film bisweilen an Wimmelbilder erinnert, bei denen man erst genauer hinschauen muss, um die Akteure zu entdecken. Was steckt hinter diesem Konzept?
Ich finde es manchmal nicht so einfach, über Bilder zu reden. Es ist ja auch das Schöne an Bildern, dass Sprache immer nur versuchen kann, darüber zu sprechen. Gar nichts zu wissen und „Alles ist möglich“ waren die beiden Leitlinien für meinen Kameramann Silvan Hillmann und mich bei unserer Suche nach Motiven. Wir wollten in einen Austausch treten mit diesen Orten. Wir wollten vermuten, dass es eine Intelligenz der Mauern, der Straßen und Fabriken gibt, die man selbst vielleicht gar nicht verstehen kann. Jeder Film, und historische Filme insbesondere, bieten immer eine Auswahl von Informationen. Man kann die Vergangenheit nicht als objektive Wirklichkeit zeigen. Deswegen wollten wir Bilder schaffen, bei denen man seinen eigenen Blick organisieren kann. Wo man selbst überlegt, wohin der Blick geht und wem die Aufmerksamkeit in diesem Wimmelbild geschenkt wird. Wer spricht wo? Was wird repräsentiert? Und wer darf überhaupt im Bild sein?

Was sagt Ihre Familie zu dem Film?
Traurigerweise sind fast alle, die ich für den Film befragt hatte, mittlerweile verstorben. Mein Großonkel Paul ist jetzt 99 Jahre alt, für ihn werde ich Unrueh in seinem Altersheim zeigen. Was mich besonders freut, ist der Umstand, dass Uhrmacher, die den Film vorab gesehen haben, bestätigen, dass die handwerklichen Abläufe alle stimmig sind.