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Filmfestival Ayvalik

Filmfestival

Die Sünden der Väter

| Daniela Sannwald |
Beim Filmfestival im türkischen Ayvalik treffen Stadtflüchtlinge aller Generationen aufeinander.

Um 22 Uhr werden die Gehsteige hochgeklappt in Ayvalik, einem türkischen Küstenstädtchen am Ägäischen Meer. Dann sind die historischen Gassen dunkel und gehören den vielen streunenden Katzen und schlafenden Hunden, außer wenn, wie in diesem Jahr (von 4. bis 9. Oktober) zum zweiten Mal, das Filmfestival stattfindet – unter dem Motto „Im Oktober ist Ayvalik anders.“ Dann gibt sich hier die Istanbuler Filmszene ein Stelldichein, und die Bars und Cafés sind noch lange geöffnet.

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Aber auch wenn die Filmleute endlich ins Bett gegangen sind, gibt es Leben in Ayvalik, dann kommen die Flüchtlinge aus ihren Verstecken. Direkt gegenüber nämlich liegt die griechische Insel Lesbos, und dort wollen sie hin. „Wir sehen sie nicht“, sagt Ercan, ein ehemaliger Börsenmakler, der in dem beschaulichen Ort ein Hotel betreibt. „Aber man hat die Küstenwache verstärkt. Wenn ich mit dem Boot rausfahre, werde ich sowohl von den türkischen als auch von den griechischen Patrouillen kontrolliert. Bei Tag ist es unmöglich, ungesehen nach Lesbos zu kommen. Aber in der Dunkelheit… Alles was wir über die Situation wissen, erfahren wir aus den Nachrichten.“

Ayvalik mit seinem milden Klima, dem sauberen Wasser und den strengen Denkmalschutzvorschriften ist für viele Istanbuler zum Rückzugsort geworden. Die jetzt 40-50-Jährigen erinnern sich an den Ort als Kindheitsparadies und folgen jetzt einem Traum von damals, indem sie sich hier ansiedeln. Der historische Ort hat eine schwierige Geschichte: Seine Einwohner waren Opfer der griechisch-türkischen Auseinandersetzungen vor der Republikgründung 1923. Etwa dreitausend solide Steinhäuser bestimmen das Stadtbild; sie wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von wohlhabenden griechischstämmigen Familien gebaut: Die Häuser verfügen über Natursteinsockel, dicke Mauern, schmiedeeiserne Tore und Balkons, geflieste Böden, dicke hölzerne Türen und höchstens drei Stockwerke. Ihre Bewohner wurden Anfang der 1920er Jahre von hier, wie die türkischstämmigen Bewohner, die um Thessaloniki herum ansässig waren, von dort vertrieben. Seit ein paar Jahren werden die Häuser von ebenfalls wohlhabenden Angehörigen der türkischen Mittelschicht gekauft und sorgfältig renoviert.

Die Westtürkei gilt als liberaler als der Rest des Landes – die Einwohner geben sich mittels Fahnen, Fotos, Autoaufklebern oder eben im Gespräch gern als Atatürkcü, als Anhänger des Staatsgründers Mustafa Kemal zu erkennen, der das Land in den 1920er Jahren bis in die Sprache hinein modernisierte. Das ist in Zeiten des konservativ-nationalen AKP-Regimes durchaus als oppositionelles Statement zu werten, denn die alte weltoffene, urbane, kemalistische Elite war der historische Gegner der AKP. Atatürk selbst aber ist noch unantastbar, und so ziert sein Konterfei, das vor zehn Jahren vor allem in Behörden zu finden war, jetzt die Wände in Restaurants, Friseurläden oder Werkstätten, und selbst die hölzernen Karren von ambulanten Gemüsehändlern. Die jetzigen Rentner und Rentnerinnen der Mittelschicht, die im Geiste Atatürks erzogen wurden, werden die republikanische Generation genannt; die meisten Frauen waren berufstätig, viele hatten studiert, bekamen ihre Kinder relativ spät. Die Türkei war so modern wie nie zuvor. Deren in den sechziger und siebziger Jahren geborenen Kinder waren gelangweilt vom Atatürk-Fanatismus ihrer Eltern: Die Errungenschaften der Republik waren für sie selbstverständlich. Diese Kinder sind es jedoch, die sich jetzt seinen Idealen zunehmend wieder verpflichtet fühlen – jeder Autosticker ist ein Bekenntnis zur Demokratie.

Der sich langsam konzentrierende Wohlstand in Ayvalik macht sich bemerkbar, so ist die Existenz des Filmfestivals einem Ehepaar zu verdanken, das ein Strumpfhosen-Imperium führt. Werben dürfen sie dafür nicht mehr, Frauenbeine auf Plakaten sind unerwünscht. Das filmaffine Paar unterstützt nicht nur das Festival, sondern vor allem „Baska Sinema“, ein „anderes Kino“. So heißt ein Verleih, der Arthouse-Produktionen aus aller Welt in ausgesuchte Programmkinos bringt. Wie anderenorts ist auch hier das Filmfestival für die Gastronomen und Hoteliers eine willkommene Maßnahme, die Saison zu verlängern, bevor die 40.000 Bewohner wieder unter sich sind. Die engagierte frühere Chefin des Istanbuler Filmfestivals, Azize Tan, hat hier eine neue Aufgabe gefunden. Die kulturinteressierten Bewohner Ayvaliks strömen in die Vorstellungen und freuen sich über die Gelegenheit, mit den Filmschaffenden sprechen zu können. Denn das Festival ist klein genug, dass man sich immer wieder begegnet. Starrummel gibt es nicht, jede spricht mit jedem, die Generationen mischen sich, es wird, wie in der Türkei üblich, sehr viel geredet und auch, wie inzwischen nicht mehr üblich, ziemlich viel getrunken.

Das Festival präsentiert 58 Filme in thematischen Sektionen, die, wie Azize Tan sagt, jeweils eine eigene Geschichte erzählen. „Die Sünden der Väter“ etwa zeigt neue türkische Filme, deren Protagonisten sich etwa den patriarchalen Strukturen zu widersetzen oder zu fliehen versuchen – interessanterweise häufig in den Wald. So erzählt Peri – Agzi olmayan kiz (Peri – The Girl With no Mouth) von einer Kindergang, die sich in einer nahen Zukunft vor den Schergen eines allmächtigen Regimes im Wald versteckt. Sie sind jeweils eines Sinnesorgans beraubt und aufeinander angewiesen, um zu überleben: eine nicht sehr schwer zu entschlüsselnde Parabel des jungen Regisseurs Can Evrenol. Und auch in Emre Yeksans Yuva hat sich ein Mann in den Wald zurückgezogen, um der Zivilisation zu entkommen. Aber als Holzfäller im Auftrag einer Baufirma ihr Werk beginnen, setzt er alles daran, die Bäume vor ihnen zu schützen. Interessant in diesem Kontext ist ein Film der versierten Dokumentaristin Pelin Esmer, die eine Gruppe von Laienschauspielerinnen auf ihrer Tournee durch abgelegene Bergdörfer begleitet. Kraliçe Lear (Queen Lear) ist eine Shakespeare-Parodie, bei der die Realität der Schauspielerinnen mit der ihrer Figuren verschmilzt und das Publikum zum Mitmachen aufgefordert ist. Hier haben alle Frauen Hosen- und mitunter ein Mannn eine Kopftuchrolle. Die Dörflerinnen gewinnen im Laufe der Tournee an Selbstbewusstsein, und sie ermutigen ihr Publikum, es ihnen gleichzutun.

Dass der Kapitalismus überall ähnliche Problemlagen generiert, zeigen etwa Ken Loachs Sorry, We Missed You, der vom durchgetakteten Arbeitstag eines arbeitslosen Bauarbeiters in Newcastle erzählt, der aus Verzweiflung bei einem Paketdienst anheuert, und Küçük Şeyler (Little Things), in dem ein arbeitslos gewordener Pharma-Vertreter in Istanbul einen neuen Job sucht: Während Ersterer seine Ohnmacht in Zorn verwandelt, flüchtet sich Letzterer in eine Fantasiewelt – beider Familien werden dadurch zerstört. Das kleine Festival stellt Kontexte her und erlaubt Vergleiche. Filmübergreifend bilden die Sektionen eigene Erzähleinheiten. Ein Glücksfall.

Festivalchefin Azize Tan resümiert: „Wir sind kein ausdrücklich politisches Festival, aber die Probleme sind doch da, offensichtlich für jeden. Und die Leute reden darüber, sie teilen ihre Erfahrungen mit, sie diskutieren, und das heißt doch, niemand erfindet das, sondern es ist die Realität, und der müssen wir uns stellen.“

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