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„Angabe der Person“ © Arno Declair
„Angabe der Person“ © Arno Declair

Wiener Festwochen

Bühnenübergänge

| Jakob Dibold |
Die Wiener Festwochen 2024 gründen die Freie Republik Wien. Ein Programmstreifzug mit filmischem Fokus.

 

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Was haben prominente Namen wie Sandra Hüller, Jean Ziegler, Sybille Berg, Kirill Serebrennikov und die „Letzte Generation Österreich“ gemeinsam? Ab 17. Mai mindestens eines: Sie bilden als Ehrenmitglieder zusammen mit viel weniger in der Öffentlichkeit stehenden, in Wien lebenden Personen den „Rat“ der „Freien Republik Wien“, welche die Wiener Festwochen unter ihrem neuen Intendanten Milo Rau am Rathausplatz ausrufen. Es sind die 80 Ratsmitglieder aus den Gemeindebezirken – darunter elf als „Wiener Expert:innen“ hervorgehoben, etwa die Antirassismus-Trainerin und Black-Voices-Austria-Vorsitzende Noomi Anyanwu, die Klimaaktivistin und Journalistin Lucia Steinwender oder auch der Meme-Künstler und Veranstalter Juan Son – die im Laufe der Festwochen eine „Verfassung“ erarbeiten, die dem Festival vier Jahre lang als Leitfaden dienen soll. Eingeläutet wird die neue Ära also partizipativ, inklusive Hearings, Debatten und Geschworenengerichten – die Festwochen „neu“ geben sich kämpferisch, die Kunst will näher an die Menschen beziehungsweise diese näher zu sich holen.

Hauptsache bleibt de facto natürlich das Geschehen auf den zahlreichen Bühnen. Ein großes Novum hier: Die „Akademie der zweiten Moderne“ wird etabliert, die sich zum Ziel setzt, „weiblichen Musikschaffenden mehr Sichtbarkeit zu verleihen, insbesondere durch die Selbstverpflichtung von Theatern, Opern und Konzerthäusern, aber auch Festivals, den Werkanteil von Komponistinnen* in ihrem Programm deutlich zu erhöhen. Denn trotz über hundert Jahren Moderne stammen auch heute nur 7,7 % der von Orchestern weltweit aufgeführten Werke von Komponistinnen.“ Jedes Jahr bis 2028 werden zehn Komponistinnen eingeladen, die folglich als Botschafterinnen des Projekts agieren.

Wien fiebert der ersten Oper (musikalische Leitung: Marit Strindlund) von Florentina Holzinger nachweislich entgegen – Stand Mitte April waren die fünf Vorstellungen von „Sancta“ (Arbeitstitel) ausgebucht –, auch Intendant Milo Rau zeigt sein Opern-Debüt: „La Clemenza di Tito“, Neuinterpretation der letzten Oper Wolfgang A. Mozarts, realisiert mit der Camerata Salzburg, dem Arnold Schoenberg Chor und „18 in Wien lebenden Menschen, die teils selbst Erfahrungen mit repressiven Systemen gemacht haben“. Auf weitere offensichtliche, zudem auf vielleicht leicht versteckte Highlights der Wiener Festwochen 2024 stößt man, wenn man das Programm aus einer filmischen Perspektive heraus durchleuchtet. In den letzten Jahren, unter der Leitung von Christophe Slagmuylder, begeisterten in dieser Hinsicht wohl allen voran Adèle Haenel („L’Étang / Der Teich“) und Isabelle Huppert („La Cerisaie / Der Kirschgarten“), im ersten Jahr unter Milo Rau – selbst mitunter Filmemacher – ist Film ebenfalls allgegenwärtig.

FILMFÄHRTEN

Kornél Mundruczó und Kata Wéber – ray gab letztes Jahr einen ausführlichen Einblick in ihr Stück „Pieces of a Woman“ – sind wieder vertreten, im neuen Stück „Parallax“ spielt mit Lili Monori eine der verdienstvollsten Schauspielerinnen Ungarns, im Kinofilm wie im Theater eine langjährige Gefährtin Mundruczós. Einem breiten internationalen Publikum bekannt wurde Monori durch ihre Rollen in Filmen von Márta Mészáros. So trug sie 1976 mit ihrer faszinierend zwischen Willensstärke, Wehrhaftigkeit und Verwundbarkeit oszillierenden Verkörperung einer jungen Frau, die ein uneheliches Kind bekommt und sich den Besitzergreifungsversuchen durch Männer widersetzt, zum Erfolg von Kilenc hónap (Neun Monate) bei. In der dritten Zusammenarbeit, Örökség (Erbinnen; 1980) spielte sie als Freundin, die Antagonistin wird, an der Seite von Huppert. Bereits bei Mészáros hatte Lili Monori Anteil daran, dass die Regisseurin mit der Zeit als die bedeutendste Ungarns feststand.

Die Karriere von Agnieszka Polska ist im Vergleich noch sehr jung. Die vielseitige polnische Künstlerin gastiert mit ihrer ersten Theaterarbeit „The Talking Car“. Auf der Bühne: Das u. a. letzthin mit Titane (R: Julia Ducournau, 2019) wieder einmal radikal neu belebte Dauerbrenner-Objekt des Kinos, ein Auto; es rast vorwärts, im Hintergrund ziehen Umgebungen vorbei, eine PKW-Innenraum-Kamera zeigt derweil jene nah, die darin sitzen. Oben scheint ab und an ein rotes Avatar-Antlitz, deutbar als Weiterentwicklung jenes „uncanny“ Sonnengesichts aus Polkas Video/Kurzfilm „The new sun“, mit dem sie 2017 den Berliner Preis der Nationalgalerie gewann. Eine kontemporär aufgeladene Aneignung von Lynchs Lost Highway (1997) und dessen fatalistisch filmendem Mystery Man scheint nicht abwegig, auf Polskas rasantem Trip werden aber Fragen nach größeren Zusammenhängen von Maschine, Mensch und Planet Erde aufgewirbelt. Und wer fährt (mit)? Zum einen Bartosz Bielenia, der für seine Rolle eines Ex-Häftlings, der sich als Priester ausgibt, im erfolgreichen polnischen Film Corpus Christi (2019) u. a. mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet wurde. Dann Albano Jerónimo, der z. B. Anfang dieses Jahres beim IFF Rotterdam in O pior homem de Londres (The Worst Man in London) zu sehen war. Darin gibt Jerónimo die historisch reale Hauptfigur, den dubiosen Kunsthändler und wahrscheinlichen Betrüger Charles Augustus Howell. Das Voiceover in „The Talking Car“ kommt indessen von Jasmina Polak. Jene, die den großartigen aktuellen Film von Agnieszka Holland gesehen haben, kennen sie daraus als furchtlose Aktivistin: In Green Border (2023) spielt Polak eine junge Frau namens Zuku, die gemeinsam mit ihrer Schwester und einem engagierten Freiwilligen-Team geflüchteten Menschen hilft, die der zutiefst menschenfeindlichen, lebensbedrohlichen Behandlung durch sowohl die polnische als auch belarussische Grenzpolizei ausgesetzt sind. Jasmina Polaks Rolle ist darin nicht die zentralste, aber eine wichtige: Ihre ist die impulsivste Stimme der Helfenden, eine, die zu viel „reine Vernunft“ angesichts der katastrophalen Lage nicht als die angemessene Herangehensweise erachtet.

In Green Border werden unschuldige Menschen explizit dadurch „entwaffnet“, dass ihre Smartphones zerstört werden. Das Auf-Video-Aufgezeichnetwerden ihrer Taten sehen die Polizisten nämlich als Bedrohung an. „Bewaffnet mit einer Kamera“, wenngleich ganz anders, sind laut Programmtext auch die Protagonistinnen in „Hamlet – dans les plis du temps“ von Christiane Jatahy: Hamlet, deren Mutter und Ophelia. Die für ihr Lebenswerk mit dem Goldenen Löwen der Biennale in Venedig honorierte Regisseurin inszeniert sezierend eine Shakespeare-Essenz, der dänische Prinz ist eine Frau geworden, dadurch zur Reflexion genötigt, und wird von Clothilde Hesme auf die Bühne gebracht. Während einem cinephilen Publikum Ophelia-Darstellerin Isabel Abreu durch ihre jüngste Präsenz in Filmen ihres Partners Tiago Guedes bekannt sein könnte, Restos do Vento (2022; u. a. Cannes) und Diálogos Depois do Fim (2023; u. a. Rotterdam), erntete Clothilde Hesme schon für Rollen bei Christophe Honoré (Les chansons d’amour, 2007) oder Philippe Garrel (Les amants réguliers, 2005) Ansehen. Clothilde Hesme ist auch eine der vielen Schauspielerinnen, die nicht mehr schwiegen und von Garrel begangene sexuelle und andere Übergriffe öffentlich machten. Vielleicht ist sie zurzeit vielen in ihrer Rolle in der kurzweiligen Netflix-Serie Lupin (2021–23) in guter Erinnerung, sie ist dort wichtige Bezugsperson des Meisterdiebs „Lupin“ Assane Diop (Omar Sy).

Von der Kunst des Stehlens via Netflix zur Kunst des Fälschens und zu „Rohtko“ von Lukasz Twarkowski, dem zurzeit erfolgreichsten Theaterregisseur Polens: Twarkowski wählt den v. a. durch die Abgründe des Kunstmarkts offenlegende Netflix-Doku Made You Look: A True Story About Fake Art (2020) berühmt gewordenen Fall um ein gefälschtes Rothko-Gemälde, das für acht Millionen Dollar Besitzer wechselte und einen riesigen Skandal auffliegen ließ, als Basis für eine multimedial ausschweifende Informationszeitalter-Wunderkammer mit Livestream. Selbstreflexive Wahrheitssuche als Spektakel. Damit in der Sphäre der schier magischen Kraft von Bildern angekommen, kann noch gut auf einerseits den 2022 verstorbenen „Zauberdoktor des Theaters“ Peter Brook verwiesen werden, und anhand seines nun auch in Wien gezeigten „Tempest Project“ ebenso auf die übersinnliche Glitzergroteske After Blue (2021) des Filmemachers Bertrand Mandico, denn: Newcomerin Paula Luna wirkt in beiden mit.

SEHENSWÜRDIG

In „Angabe der Person“, Jossi Wielers neuer Bühnenversion eines Texts von Elfriede Jelinek, klagen drei Monologe ausgehend von Steuerproblemen den sumpfigen Staat an: Vorgetragen von Linn Reusse, der zweifachen Deutscher-Filmpreis-Trägerin Fritzi Haberlandt (die hierfür den Deutschen Theaterpreis erhielt) und Susanne Wolff, die nach ihrer außergewöhnlichen Leistung in Wolfgang Fischers Styx (2018) unlängst in Frauke Finsterwalders Sisi & Ich (2023; mit Sandra Hüller) glänzte.

Elfriede Jelinek ist seit 2023 Ehrenbürgerin von Wien, 2024 jährt sich der Geburtstag des ihr als berühmter „Nestbeschmutzer“ vorausgehenden Karl Kraus zum 150. Mal. Anlass für die „Kraus Lectures“, in denen an fünf Abenden in verschiedenen Konstellationen Kraus performt wird. „Jeder Wiener ist eine Sehenswürdigkeit“, schrieb Karl Kraus einmal, dies auf Orte umgemünzt behauptet durchaus Tim Etchells’ „Die Rechnung“: Das erste „Volksstück“ der neuen Festwochen, ein humorvoll-kritisches Dinner for Two, das an 15 Flecken der Stadt dargeboten wird, die in den Geschichtsbüchern zwar weniger gelten, aber Wien unermesslich mit zu dem machen, was es ist. Es tourt vom Schutzhaus Zukunft auf der Schmelz u. a. über das Gänsehäufel bis zum „Haus der Republik“, dem Festivalzentrum im Volkskundemuseum, am letzten Festwochen-Tag. Dort wird dann auch die Wiener Erklärung, die Rats-Verfassung, verlesen, und Milo Raus erster Versuch, der Hauptstadt neues Leben einzuhauchen und dem Land Ewiggestriges auszutreiben, wird final begonnen haben. Man wird sehen, was er noch bringt.