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Luzifer

Filmstart | Interview

Der Körper als Projektionsfläche und Werkzeug

| Pamela Jahn |
Regisseur Peter Brunner und Hauptdarsteller Franz Rogowski im Gespräch über ihren Film „Luzifer“, über Extremerfahrungen, Glauben und Körperlichkeit.

Herr Brunner, Sie spiegeln in Ihren Filmen immer wieder Extremerfahrungen. Woher kommt das, und was reizt Sie daran so sehr?
Peter Brunner:
Das ist eine spannende, aber schwierige Frage. Ich kann nur sagen, dass ich mit den Filmen auf der Suche nach etwas bin, das einen besonderen Zustand beschreibt. Ich liebe die Bilder von Francis Bacon, weil es Bilder sind, bei denen man während des Betrachtens direkt in ein Gefühl, in einen Zustand hineinversetzt wird. Und ich denke, dass alle Kunst, ob Film, Musik, Malerei oder Literatur, diese Aufgabe hat. Das heißt, in dem Moment, wo man künstlerisch tätig ist und direkt oder indirekt mit einem Publikum in Berührung kommt, geht es darum, eine emotionale Reaktion in den Menschen hervorzurufen, um ihnen eine Möglichkeit zu bieten, herauszufinden, was das, was sie sehen oder hören oder lesen, für sie bedeutet, was es mit ihnen macht. Andererseits bin ich vielleicht schon auch ein radikaler Typ, weil ich in meiner Jugend schwierige Erfahrungen gemacht habe, die mich dazu getrieben haben, gegen den Strich zu gehen, und ich diesen Widerspruch unterbewusst jetzt auch in meinen Filmen zum Ausdruck zu bringen versuche.

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Was hat Sie speziell an der Geschichte fasziniert, die Sie in „Luzifer“ erzählen?
PB:
Die Geschichte ist inspiriert von einer wahren Begebenheit. Das war unser Ausgangspunkt, um mit den Schauspielern eine emotional realistische Untersuchung zu starten. Ich fand es spannend, der Frage nachzugehen, wie es dazu kommen kann, dass ein Kind die Doktrinen von einer sehr religiösen Mutter spürt, in sich aufnimmt und sich selber radikalisiert, und wie man aus diesem Extrem vielleicht auch wieder herausfinden kann. Es geht also nicht nur um das Hineinfallen in einen Fanatismus, sondern auch darum, wie man ihm wieder entkommt. Das war mir sehr wichtig. Aber prinzipiell hat mich an der Geschichte fasziniert, dass man auf diesem Weg Ideologie beschreiben kann: Da ist ein Mensch, der emotional oder intellektuell eine Einschränkung hat, sein Leben lang einem Erziehungsberechtigen ausgesetzt, der ihn mit Glaubensvorsätzen prägt, und das Ganze wird in einer Drucksituation zur Tragödie. Ich wollte also nicht dokumentarisch ein Krankheitsbild beschreiben, sondern ganz konkret mit den Darstellern und Darstellerinnen in einen künstlerischen Prozess eintauchen, in dem wir versuchen, uns mit dem, was in der wahren Geschichte passiert ist, in einer Art filmischen Mediation auseinanderzusetzen.

Ihr Film beschreibt ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Religion. Wie steht es mit Ihrem eigenen Glauben?
PB:
Ich denke, entscheidender als mein eigener Glaube ist die Tatsache, dass die weibliche Hauptrolle im Film von Susanne Jensen gespielt wird, einer unheimlich starken Künstlerin, die eben auch als Pastorin tätig ist. Das war sozusagen ein Hauptgrundsatz des Films, dass diese Frau, eine Jeanne d’Arc-ähnliche Glaubensehrlichkeit hat. Als Missbrauchsüberlebende und Pastorin hat sie von vornherein ihre eigene Theologie, ihre eigene Wahrheit in den Film miteingebracht, und von ihren Anschauungen haben wir schliesslich alle ungemein profitiert, weil es etwas war, woran wir uns orientieren konnten.

Franz Rogowski: Ich persönlich glaube an keinen Verein und an keinen Gott, aber der Geist von etwas Höherem oder Spirituellen, den kann man sowohl in der Natur sehr gut nachempfinden als auch in den archaischen Beziehungen zwischen Menschen. Und ich denke, genau diese zwei Sehnsuchtsorte von Göttlichkeit oder Spiritualität sind auch die zentralen und integralen Bestandteile dieses Films. Also zum einen die Natur mit ihrer ganzen brutalen Kraft, die sie auch beim Drehen mit sich gebracht hat. Und auf der anderen Seite der Versuch, diese Natur zu kultivieren – hier am Beispiel einer Mutter-Sohn-Beziehung und in einem Film, in dem sich verschiedene Energien und Dynamiken aneinander reiben und voneinander abstossen. Ich würde also schon sagen, dass ich einen Glauben habe. Aber es ist kein Glaube, der eine Steuer zahlen muss, sondern es geht eher darum, eine Art Verbundenheit mit der Welt in ihrer Gesamtheit zu spüren. Eine Verbundenheit, durch die man als Mensch erfahren kann, dass man Teil von etwas nicht Zählbarem oder Verstehbarem ist, das sich in seinem wahren Ausmaß niemals erfassen lässt. Und das ist schon sehr angenehm, weil es die eigene Position relativiert und im besten Sinne unwichtig macht.

Würden Sie sich selbst als Naturmensch bezeichnen?
FR:
Ja, ich bin ein großer Naturmensch. Allerdings wäre mir nur Natur auch unangenehm. Ich brauche schon immer auch den Wechsel von Natur und Kultur. Aber was mir bei diesem Film sehr geholfen hat, war, dass Peter es mir ermöglichte, in einem Autobus im Wald zu wohnen. Das heisst, ich konnte mich sowohl am Set als auch vor und nach den Dreharbeiten in kalten Eisbächen waschen und mir auf einem kleinen Gaskocher das Essen zubereiten. Nur ab und zu bin ich dann doch ins Haus gegangen, in die Sauna.

Das Verhältnis von Johannes und seinem Adler ist ein weiteres zentrales Motiv im Film. Wie freundet man sich mit einem Greifvogel an?
FR:
Wir haben bereits ein Jahr vor Beginn der Dreharbeiten mit der Hilfe eines Falkners begonnen, ein Verhältnis zwischen einer älteren Adlerdame und mir aufzubauen. Nur handelte es sich dabei weniger um ein Band der Freundschaft als um eine Art von Grundvertrauen, das man herzustellen versucht, so dass die Adlerdame irgendwann registriert, sie bekommt Futter von mir und ich tue ihr nicht weh. Ich musste den Punkt erreichen, dem Tier die Möglichkeit zu geben, sich mit mir zu arrangieren, solange ich keinen Fehler mache. Ich glaube, so weit haben wir es gebracht. Für mich hat das Verhältnis zwischen Johannes und seinem Adler im Film übrigens auch fast etwas Religiöses oder Göttliches, und zugleich ist es eine ganz irdische, menschliche Freundschaft, die da entsteht.

Andersherum hat auch die Art und Weise, wie Mutter und Sohn miteinander umgehen, etwas Animalisches, sehr Physisches. Woran haben Sie sich in Ihrer Darstellung von Körperlichkeit orientiert?
PB:
Ich bin ein Kind der 68er-Generation und da gibt es einige Aktionistinnen und Aktionisten, die mich in der Hinsicht immer fasziniert und inspiriert haben. Für mich sind Körper in dem Sinn stets Projektionsfläche und Werkzeug zugleich. Mit anderen Worten: Der Körper ist der letzte Schrei, den wir im 21. Jahrhundert haben. Viele Menschen sind heute medizinischen Apps ausgeliefert, die einen daran erinnern, wann man aufstehen muss, oder wie viele Schritte man pro Tag gehen soll. Gleichzeitig ist unser Körper der letzte Anker zu etwas, das eine Rückbesinnung ermöglicht. Wir sind nun einmal ein Teil der Natur, aber unsere Gesellschaft ist heute so konditioniert, dass wir uns der Natur permanent entgegenstellen. Die Pandemie hat das einmal mehr deutlich gemacht.

FR: Für mich persönlich ist eine Entscheidung für das Physische oft auch eine Entscheidung gegen die Unkörperlichkeit der Worte. Ich glaube, dass wir heutzutage allgemein vor einer stolzen Körperlichkeit regelrecht Angst haben. Wir nutzen sie eigentlich gar nicht mehr, außer vielleicht in der Karikatur unserer eigenen Identität. Aber ich denke, dass beispielsweise im weniger Sprechen für mich oft ein größerer poetischer Raum entsteht, und ich immer eine gewisse Frustration empfinde, wenn meine Figur erklärt, wer sie ist, wo sie herkommt, wo sie hingeht… wenn sozusagen der Plot seine Bedürfnisse entlädt. Viel spannender finde ich es, Figuren so zu spielen, dass sie eine Würde behalten. Und für mich hat diese Würde eben konkret damit zu tun, dass ein Körper seine Identität nicht erklären muss, sondern sein Geheimnis für sich wahren kann. Wenn man den Gedanken weitertreibt, dann wünsche ich mir eigentlich fast schon ein Kino, in dem man überhaupt nicht mehr versteht, worum es geht, aber in dem man die Körper dafür um so mehr spüren kann und eine Reibung entsteht, zwischen dem eigenen Körper und den Körpern des Kinos.

Herr Brunner, Sie haben von Ihren Einflüssen gesprochen. Studiert haben Sie bei Michael Haneke. Inwieweit hat er Sie und Ihre Art, Filme zu machen, beeinflusst?
PB:
Was mich am meisten beeindruckt hat, ist der kindliche Enthusiasmus, den er seinen Studierenden stets vermittelt hat. Und damit zusammenhängend die Bedeutung des Arbeitsprozesses mit den Schauspielern, genauer gesagt, die Notwendigkeit, in ihre Rollen zu schlüpfen. Ich lernte das in der Method-Acting-Klasse von Susan Batson, die Haneke organisiert hatte. Er selbst hatte in seinen frühen Dreißigern bei ihr studiert. Diese Art von Rollentausch zwischen Regisseur und Schauspieler war eine einschneidende Erfahrung für mich im Hinblick auf meine eigene Arbeitsweise. In dem Moment, wo man am kreativen Prozess mit den Schauspielern beteiligt ist, erfährt man selber auch eine Bestärkung in den eigenen Prozess, was vor allem in schwachen Momenten sehr hilfreich sein kann.

Diese intensive Auseinandersetzung zwischen den Schauspielern erzeugt im Film eine bemerkenswerte Wirkung – ein Gefühl, das stets zwischen Brutalität und Zärtlichkeit changiert. Wie haben Sie selbst diesen Prozess während des Drehens empfunden?
FR:
Ich denke, dass das Harte immer auch durch das Zarte definiert wird und umgekehrt. Und das Zusammenspiel mit Susanne Jensen hat mich wirklich tief berührt, weil sie von Anfang an eingefordert, dass wir einander ernsthaft, ehrlich und schonungslos begegnen und einander nichts vorspielen. Von daher glaube ich, dass das Ganze von vornherein etwas sehr Rohes hatte, weil es niemals darum ging, zu sagen, okay, wir lernen beide unsere Texte und dann spielt der eine behindert und der andere traumatisiert. Hier treffen sich zwei Figuren, die auch biografisch etwas mit dem verbindet, was sie da spielen. Denn das Ganze ist ja auch ein Experiment, das einen Prozess abbildet und nicht nur eine Fiktion. Ich glaube, es hat immer etwas Brutales, aber auch etwas Zartes, und wenn man einen Liebesfilm machen will, und das ist dieser Film ja auch, dann braucht es unbedingt diese Synthese aus dem Harten und dem Weichen. Ein Eros entsteht eben nicht in der Dauererektion und auch nicht in der totalen Impotenz, sondern die Mischung macht‘s.

PB: Was mich interessiert und im Endeffekt auch dazu motiviert hat, auf diese spezielle Art und Weise an dem Film zu arbeiten, ist genau diese Suche nach Widersprüchlichkeiten, und dass man die Widersprüche zeigt, wie sie sind. Es geht um die Suche nach den Brüchen in den Figuren und darum, ein Verhalten zu finden, das wahrhaftig ist. Und wie sich die Mitwirkenden darauf eingelassen haben, ist und bleibt für mich das Spannendste an dem Film. Ohne diesen bewussten Einsatz, körperlich und emotional, wäre das alles ziemlich arm – dann wäre das Experiment sozusagen in seinem Kern gescheitert.